20.12.2021

Darf der Arbeitgeber in einer Pandemie einseitig freistellen?

Verpflichtung, den Arbeitnehmer tatsächlich zu beschäftigen

Darf der Arbeitgeber in einer Pandemie einseitig freistellen?

Verpflichtung, den Arbeitnehmer tatsächlich zu beschäftigen

Ein Beitrag aus »RdW Kurzreport« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »RdW Kurzreport« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

In der Corona-Pandemie gilt für den Arbeitnehmer: Er muss grundsätzlich am Arbeitsplatz erscheinen, wenn und solange er in der Lage ist, seine Arbeitsleistung zu erbringen. Es besteht kein pauschales Leistungsverweigerungsrecht. Ist er rechtlich (z. B. wegen behördlicher Quarantäne-Anordnung) oder tatsächlich (z. B. wegen eines Beinbruchs) an der Erbringung der Arbeitsleistung gehindert, darf er dem Arbeitsplatz fernbleiben. Arbeitsplatz ist der Arbeitsplatz im Betrieb des Arbeitgebers oder das Homeoffice.

Für den Arbeitgeber gilt: Er ist verpflichtet, den Arbeitnehmer tatsächlich zu beschäftigen, solange dieser nicht rechtlich oder tatsächlich an der Erbringung der Arbeitsleistung gehindert ist.

Nun hat aber die ausgerufene Pandemie bisher unbekannte Situationen entstehen lassen, z. B. weil:


  • Die Bundesregierung und die Länderregierungen erlassen im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes ständig neue Verordnungen, die sich auch auf das Arbeitsverhältnis auswirken können (z. B. erleichterte Krankschreibungen bei Erkältungssymptomen, Verpflichtung der Arbeitgeber, Schnelltests anzubieten).
  • Regierungsamtliche Empfehlungen, bereits bei jedem Erkältungssymptom zu Hause zu bleiben und sich in Quarantäne zu begeben.
  • Einführung einer Corona-Warn-App, die Nutzer warnt, wenn sie zu einem Infizierten Kontakt hatten.

Dies führt für Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu erheblichen – tatsächlichen und rechtlichen – Unsicherheiten. Arbeitnehmer fragen sich, ob sie eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung benötigen, wenn sie sich – amtlichen Empfehlungen folgend – bei Erkältungssymptomen sofort selbst in Quarantäne begeben. Der Arbeitgeber fragt sich, wie er mit Arbeitnehmern umgehen soll oder gar muss, bei denen der Verdacht auf eine Infektion besteht oder von denen er erfährt, dass sie aus einem Hochrisikogebiet kommen. Wie geht er mit Arbeitnehmern um, die Kontakt zu einem Infizierten hatten, aber selbst keinerlei Symptome aufweisen?

Arbeitsunfähigkeit oder Quarantäne

Ein Arbeitnehmer, der Symptome wie Husten, Halsschmerzen u. ä. hat und sich deswegen an einen Arzt wendet, wird höchstwahrscheinlich in Zeiten der Pandemie eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erhalten. In diesem Fall liegt Arbeitsunfähigkeit im Sinne des EFZG vor, und der Arbeitnehmer erhält Entgeltfortzahlung. Ist der Arbeitnehmer nicht arbeitsunfähig, muss aber aufgrund einer Quarantäne-Anordnung zu Hause bleiben, erhält er eine Entschädigung nach § 56 IfSG, wenn er durch die Quarantäne einen Verdienstausfall erleidet. Gleiches gilt, wenn der Arbeitnehmer ein Tätigkeitsverbot nach dem IfSG erhält. In allen anderen Fällen darf der Arbeitgeber davon ausgehen, dass der Arbeitnehmer die geschuldete Arbeitsleistung erbringen kann, weil er weder rechtlich noch tatsächlich hieran gehindert ist. Hat ein Arbeitnehmer – berechtigt oder unberechtigt – Angst, dass er mit Arbeitskollegen zusammenkommen könnte, die Kontakt zu einem positiv Getesteten oder Infizierten oder Erkrankten hatten oder selbst positiv getestet oder infiziert sind, hat er dennoch kein Leistungsverweigerungsrecht und muss zur Arbeit erscheinen. Er darf nicht eigenmächtig zu Hause bleiben.

Pflichten des Arbeitgebers

Jeder Arbeitgeber hat gegenüber allen seinen Arbeitnehmern im Rahmen seiner Fürsorgepflicht darauf zu achten, dass deren Leben und Gesundheit nicht gefährdet werden. Allerdings folgt hieraus kein Recht der Arbeitnehmer auf einen vollständig risikofreien Arbeitsplatz. Im Rahme der Pandemie kommt der Arbeitgeber seiner Pflicht zum Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in erster Linie durch Einhaltung der Arbeitsschutzbestimmungen sowie Beachtung der aktuellen Empfehlungen sachverständiger Stellen wie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (u. a. Corona- Arbeitsschutzregel) nach. Kann die Arbeitsleistung im Homeoffice erbracht werden, kann der Arbeitgeber dies anordnen. Dieser Anordnung kann der Arbeitnehmer widersprechen, wenn er triftige Gründe hat, die gegen Homeoffice sprechen.

Einseitige Freistellung zum Gesundheitsschutz?

Erklärt der Arbeitgeber einseitig, dass er ab einem bestimmten Zeitpunkt den Arbeitnehmer von der Erbringung zur Arbeitsleistung freistellt, lehnt er damit die Annahme weiterer Arbeitsleistungen des Arbeitnehmers ab. Der Arbeitgeber begibt sich damit in Annahmeverzug. Der Arbeitnehmer muss seine Arbeitsleistung nach erfolgter Freistellung weder tatsächlich noch wörtlich anbieten, um seinen Vergütungsanspruch zu erhalten. Bei einer einseitigen Freistellung erhält der Arbeitnehmer seine Vergütung weiter. Eine einseitige Freistellung eines Arbeitnehmers von der Verpflichtung zur Erbringung der Arbeitsleistung ist rechtlich nur dann zulässig, wenn schutzwürdige Interessen des Arbeitgebers vorliegen, die das schutzwürdige Interesse des Arbeitnehmers an seiner tatsächlichen Beschäftigung überwiegen. Bezogen auf Corona mündet dies in die Frage: In welchen Fällen hat der Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse an der einseitigen Freistellung eines tatsächlich arbeitsfähigen Arbeitnehmers, der auch nicht durch Quarantäne an der Erbringung der Arbeitsleistung gehindert ist? In folgenden Fällen könnte ein derartiges Interesse des Arbeitgebers bejaht werden:

  • Von einem Arbeitnehmer geht ein erhöhtes Infektionsrisiko aus oder es besteht der Verdacht einer Infektion. Der Arbeitnehmer ist aber arbeitsfähig, am Arbeitsplatz erschienen, und die Voraussetzungen für eine Quarantäne liegen (noch) nicht vor. Ein derartiger Fall kann z. B. vorliegen, wenn ein Arbeitnehmer Symptome wie Husten, Atemnot oder andere grippeähnliche Symptome aufweist und trotzdem zur Arbeit kommt. Zum Schutz der übrigen Arbeitnehmer vor einer Ansteckung kann eine einseitige Freistellung erfolgen, wenn dieser Schutz durch andere Maßnahmen (z. B. Homeoffice; Anordnung, den Arbeitsplatz zu verlassen und zum Arzt zu gehen) nicht zu erreichen ist.
  • Der Arbeitgeber erfährt, dass ein Arbeitnehmer Kontakt zu Erkrankten hatte. Zum Schutz der übrigen Arbeitnehmer vor einer Infektion kann eine Freistellung für den Zeitraum der Inkubationszeit in Frage kommen. Die Freistellung eines einzelnen Arbeitnehmers kann auch dazu beitragen, mit einer Betriebsschließung dem Fall einer Infektion zahlreicher Arbeitnehmer vorzubeugen.

Arbeitnehmer, die ein erhöhtes Infektionsrisiko darstellen, sind grundsätzlich verpflichtet, den Arbeitgeber hierüber zu unterrichten. Diese Informationspflicht besteht auch, wenn das Gesundheitsamt gegenüber dem Arbeitnehmer keine Maßnahmen ergreift. Grundsätzlich ist der Arbeitgeber auch berechtigt, insoweit Fragen zu stellen, die der Arbeitnehmer dann wahrheitsgemäß beantworten muss. Die Freistellung eines Arbeitnehmers wegen des Verdachts einer Infektion oder eines erhöhten Infektionsrisikos endet, sobald der Verdacht ausgeräumt ist. Dies kann durch die Vorlage eines negativen Corona- Tests geschehen. Möchte der Arbeitnehmer sich nicht testen lassen, kann die Freistellung so lange dauern, wie eine behördliche Quarantänemaßnahme dauern würde.

Fazit

Zum Schutz der Gesundheit der übrigen Arbeitnehmer und zur Aufrechterhaltung des Betriebsablaufs ist der Arbeitgeber berechtigt, bei Verdacht auf eine Infektion einen Arbeitnehmer einseitig von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung freizustellen, auch wenn die Voraussetzungen für eine behördlich angeordnete Quarantäne nicht vorliegen und der Arbeitnehmer nicht arbeitsunfähig ist. Die Freistellung endet mit der Vorlage eines negativen Testergebnisses oder mit Ablauf des Zeitraums, der für eine behördlich angeordnete Quarantäne-Maßnahme gilt.

 

Aus RdW 2021, Heft 12.

 

Ralph Jürgen Bährle

Rechtsanwalt, Bährle & Partner
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