20.12.2021

Die selbsttätig handelnde Verwaltung – eine vernachlässigte Verwaltungsform

Neuerungen gegenüber der „klassischen“ Behördentätigkeit

Die selbsttätig handelnde Verwaltung – eine vernachlässigte Verwaltungsform

Neuerungen gegenüber der „klassischen“ Behördentätigkeit

Ein Beitrag aus »apf Baden-Württemberg« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »apf Baden-Württemberg« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Nach einer Meinungsumfrage haben die Bürger und Bürgerinnen den Eindruck von Staatsversagen bei der Bewältigung der Corona-Pandemie.[1] Die politischen Maßnahmen werden als willkürlich, widersprüchlich und teilweise absurd empfunden. Die Hauptursache für den Unmut ist jedoch die schleppende Impfkampagne. Der Autor dieses Aufsatzes, Dr. Peter Lehmann, zeigt auf, dass die Verwaltung – anders als im „Normalbetrieb“ – nunmehr gefordert ist, selbst etwas auf die Beine zu stellen, das belastbar funktioniert: Die Verwaltung muss selbsttätig handeln.

1.     Der aktuelle Ausgangspunkt

Die Corona- Pandemie verlangt selbst denen viel ab, die von der Krankheit verschont bleiben: dem Bürger Geduld und Selbstbeschränkung, dem Pflegepersonal Kraft, der Politik Motivationsgabe und der Verwaltung die schnellst- und bestmögliche Erreichung der gesteckten Ziele. Gerade hier wird öffentliche Kritik laut. Warum schließen manche Impfzentren werktags schon um 16:30 Uhr?  Warum ist nach einem Jahr Pandemie die digitale Ausstattung von Gesundheitsverwaltung und Schulen noch immer unzureichend? Wie kommen hochbetagte Senioren außerhalb von Heimen zu einer Impfung? Lassen wir diese unerfreuliche Aufzählung – sehen wir, was wir besser machen können.

2.     Der verwaltungsrechtliche Ansatz

Die Bekämpfung einer Pandemie und die Abmilderung ihrer Folgen ist eine Aufgabe aller Teile der Staatsgewalt. Die Legislative in Bund und Ländern war veranlasst, infektionsschutzrechtliche Normen anzupassen und wird das möglicherweise auch weiterhin praktizieren müssen. Dabei muss sie Grundlagen wie Grenzen für vielgestaltige und oft schwerwiegende Grundrechtseingriffe definieren, was keine leichte Aufgabe ist. Im Vollzug ist die Exekutive gefragt. Neben der Abstimmung von Bundes- und Landesregierungen über eine gemeinsame Strategie liegt der direkte Kontakt mit dem Bürger in der Hand der zuständigen Landesbehörden. Und auch die Judikative, insbesondere die Verwaltungsgerichte sind mit der Pandemie beschäftigt. Zunehmend werden behördliche Eingriffe in Grundrechte, seien es Verwaltungsakte oder Verordnungen, auf den verwaltungsgerichtlichen Prüfstand gestellt. Betrachten wir hier die Pandemiebekämpfung, soweit sie eine Exekutivaufgabe ist. Wegen der Komplexität dieser Aufgabe sind mit deren Bewältigung sehr unterschiedliche Behörden beschäftigt. Ebenso unterschiedlich sind die Aufgaben im Detail.


Nach den Aufgaben der Verwaltung unterscheidet man klassischerweise die Eingriffs-, die Leistungs- und die Planungsverwaltung.[2] Natürlich finden wir bei der Pandemiebekämpfung Eingriffe durch Verwaltungsakte und Verordnungen sowie Leistungsverwaltung durch finanzielle Hilfen; die Verteilung der Impfstoffe und die Sicherstellung der intensivmedizinischen Versorgung erfordert planendes Verwaltungshandeln. Dennoch – die bei der Pandemiebekämpfung anstehenden Aufgaben sind nicht nur ein Nebeneinander von Anordnen, Gewähren und Planen; die Verwaltung muss vielmehr weitgehend selbst „liefern“ und wird am Ergebnis gemessen.

3.     Eine neue Art der Verwaltung?

Erkennen wir also eine neue Art der Verwaltung? Nein, die selbsttätig handelnde Verwaltung gibt es zumindest spartenweise schon immer. Jede Berufsfeuerwehr im Brandeinsatz vollzieht rechtlich diejenigen Gesetze, die ihre Aufgaben festlegen. Selbsttätig handelnd ermittelt sie die Brandlage, plant die Löschmaßnahmen, wählt die Mittel, führt aus, kontrolliert und meldet Vollzug. Der Polizeieinsatz – gleich welcher Art – läuft vergleichbar ab. Die Arbeit von Katastropheneinsatzstäben gestaltet sich ähnlich.

Die selbsttätig handelnde Verwaltung ist also keine neue Art der Verwaltung, sie hebt sich nur in mehrfacher Weise von der „klassischen“ Behördentätigkeit ab.

4.     Das Wesen der selbsttätig handelnden Verwaltung

Wenn Verwaltung selbsttätig handelt, dann liegt zum einen der Gesamtvorgang von der Feststellung der Ausgangslage bis zum Ergebnis voll und allein in der Hand der Verwaltung. Dies ist anders als beispielsweise bei behördlichen Anordnungen, bei denen die Behörde bestimmt, was der Betroffene zu vollziehen hat. Es stehen also nicht nur die Willensbildung, sondern auch die Durchführung und das Ergebnis voll in der Verantwortung der Behörde. Das ist vielen Behörden ungewohnt.

Zum anderen liegen die Aufgaben einer selbsttätigen Verwaltung zumeist nicht in der Hand einer einzelnen Behörde oder eines einzelnen Verwaltungszweigs. Die Menge, Unterschiedlichkeit und Hierarchiestufe der befassten Handlungsträger wachsen mit der Bedeutung und der Komplexität der zu erledigenden Aufgaben. Gerade die Pandemiebekämpfung als nationale Aufgabe oberster Priorität belegt dies:

Hier sind nicht nur die vor Ort zahlreich zuständigen Verwaltungsträger, wie z.B. Gesundheitsämter, Schulverwaltungen oder Ordnungsbehörden gefordert, sondern auch alle Hierarchiestufen der Verwaltungen auf Landes- wie Bundesebene bis hin zu den Bundesoberbehörden[3] und Ministerien. Die Auseinandersetzung mit diesen Aufgaben reicht sogar bis in die ebenfalls der Exekutive zuzurechnende Regierungstätigkeit hinein. Wohl noch zu keinem anderen Thema haben sich Bundes- und Landesregierungen seit Gründung der Bundesrepublik in kurzer Zeit so häufig beraten. Diese Breite und Hierarchiespanne der Aufgabenwahrnehmung fordert ein extremes Maß an Koordination, Organisationsvermögen und Führungskraft. Die Arbeit in Einsatzstäben oder erforderlichenfalls die Erklärung des zivilen Katastrophenfalls sind hierzu geeignete Führungsmittel. Aber bei welchen Behörden gehört eine von der normalen Verwaltungsorganisation abweichende Stabsarbeit[4] oder das Führen im Katastrophenfall wirklich zum geläufigen Verwaltungsrepertoire?

Ferner unterscheidet sich die Methodik der selbsttätigen Handlungsverwaltung grundlegend von derjenigen der klassischen Eingriffs-, Leistungs- und Planungsverwaltung. Die klassische Verwaltung handelt (vor allem in der Eingriffs- und Leistungsverwaltung) vornehmlich eindimensional und in gerader Linie: Ein Antrag geht ein, er wird anhand der einschlägigen Vorschriften geprüft und verbeschieden; allenfalls wird anschließend kontrolliert, ob der Betroffene den Bescheid ordentlich erfüllt hat. Die Aufgabenerfüllung bei der selbsttätig handelnden Verwaltung folgt demgegenüber einem Regelkreis.[5] Dies beruht darauf, dass die Verwaltung selbst die Ergebnisverantwortung zu tragen hat.

Der Regelkreis beginnt mit der Feststellung der Lage. Diese muss valide sein. Die Tatsache, dass manche Gesundheitsämter nach einem Jahr Pandemie nicht willens oder in der Lage sind, an Wochenenden statistische Zahlen zu liefern, ist ein verwaltungstechnisches Trauerspiel.

Die Zielsetzung muss klar definiert werden. Es verunsichert, wenn das Ziel der Pandemiebekämpfung zunächst mit absoluten Zahlen, dann mit einem Reproduktionsfaktor und schließlich (wenigstens bis heute) mit einem Inzidenzwert definiert wird.

Die Lösungsfindung ist gewiss nicht einfach. Sie erfordert beratenden wissenschaftlichen Sachverstand und verwaltungstechnischen Ideenreichtum. Dazu muss sie verwaltungsgerichtsfest sein.

Maßnahmenfestlegung und Ressourcensicherung stehen in engem Zusammenhang. Die Verwaltung darf nur Maßnahmen planen, für die sie personelle, sächliche und finanzielle Mittel sicher zur Verfügung hat. Erforderlichenfalls muss sie erst noch die passenden Voraussetzungen schaffen. Ein Impfplan ohne vertraglich feste Lieferzusagen an Impfmitteln steht auf tönernen Füßen und wird, wenn die erwarteten Lieferungen ausbleiben, zu Mehrarbeit und Vertrauensverlust führen.

Mit der Maßnahmenumsetzung beginnt das Kernstück der selbsttätigen Handlungsverwaltung. Selbst oder mit beauftragten Partnern muss die Verwaltung jetzt eigenverantwortlich handeln. Dies ist für manche Behörden eine bislang unbekannte Herausforderung. Deshalb kann es hilfreich sein, (spätestens) ab diesem Zeitpunkt der handelnden Einheit ein – ggf. außenstehendes – Controlling zur Seite zu stellen. Dessen Aufgabe ist es, durch laufende Abweichungsanalysen die Handlungsabläufe mitzusteuern. Dabei sollte auf die Tatsache Wert gelegt werden, dass es sich nicht um ein argwöhnisches Betrachten der Handelnden, sondern um eine Unterstützung bei der Führung handelt. Deren Projektleitung und –Verantwortung wird dadurch in keiner Weise beschnitten.

Am Ende des Regelkreises wird das Ergebnis des Verwaltungshandelns festgestellt und im Vergleich mit der Zielsetzung bewertet. Die Bewertung zeigt, ob und gegebenenfalls welcher neue Regelkreis zu definieren sein wird.[6] Auch dieses Verfahren ist bei klassischem Verwaltungshandeln in der Regel so nicht üblich.

Wenn man jetzt den dargestellten Regelkreis mit der Tatsache kombiniert, dass derartige Regelkreise mit gleichem Ziel bei unterschiedlichen Aufgabenträgern ablaufen, ergibt sich ein dreidimensionales Bild von Regelkreisen, so wie die Längengrade, die den Globus umspannen.

Das bedeutet: Wenn jeder handelnde Aufgabenträger das gemeinsam angestrebte Ziel auf dem ihm eigenen Regelkreis verfolgt, wird das Ziel am Ende in jeder Hinsicht umfassend erreicht.

5.     Wege zur selbsttätig handelnden Verwaltung

Das in Regelkreisen ablaufende selbsttätige Verwaltungshandeln gehört bei den meisten Behörden jedenfalls noch nicht zu den eingeübten Handlungsweisen. Der Weg dorthin kann also bei vorhandenem Personal nur über die Fortbildung und im Übrigen über die Ausbildung künftiger Mitarbeiter führen. Die o. g. bereits bestehenden Stellen der selbsttätig handelnden Verwaltung belegen dies. So gibt es beispielsweise für Polizei, Feuerwehr und Katastrophenschutz eigene Einrichtungen der Aus- und Fortbildung. Für andere Sparten der Verwaltung, insbesondere die allgemeine innere Verwaltung und die Kommunen sollte es Aufgabe der bestehenden Bildungseinrichtungen sein, sich dem Thema der selbsttätigen Handlungsverwaltung in Aus- und Fortbildung zu widmen. Dabei wird deutlich zwischen den Qualifikationsarten und – Ebenen zu differenzieren sein. Bei Mitarbeitern mit Universitätsabschluss wird es nicht möglich und wohl auch nicht sinnvoll sein, die Gedanken der selbsttätigen Handlungsverwaltung bereits ins Studium zu integrieren (z.B. bei Human- oder Tiermedizinern). Hier bleibt nur die Fortbildung.

6.     Fazit

Die selbsttätig handelnde Verwaltung ist im Verwaltungsalltag nicht grundsätzlich neu. Sie ist aber in der rechtsdogmatischen Darstellung der Arten der Verwaltung und des Verwaltungshandelns vernachlässigt worden. Sie betrifft entweder nur bestimmte Verwaltungszweige oder ist für die übrige Verwaltung nur in seltenen Ausnahmefällen relevant. Gerade in diesen Fällen bedeutet das selbsttätige Handeln aber für diese Verwaltungsträger einen ungewohnten Schritt hinaus aus den eigenen vier Wänden, bei dem sie bisweilen verunsichert sind. Das darf man ihnen nicht vorwerfen. Die zuständigen Bildungseinrichtungen sind jedoch gefordert, die Behörden durch Fortbildung und Ausbildung bei den ungewohnten Handlungsformen zu unterstützen und ihnen die Scheu davor zu nehmen. Für die Verwaltungsträger, die möglicherweise einmal selbsttätig handeln müssen, bedeutet dies aber auch die Bereitschaft, solche Angebote anzunehmen. Das Ziel, die Verwaltung mit fundierter selbsttätiger Handlungskompetenz zu ertüchtigen, wird nicht in kurzer Zeit zu schaffen sein. Bisweilen wird bei den Behörden auch eine Veränderung des Selbstverständnisses und eine ergebnisoffene Aufgabenkritik einhergehen müssen. Irgendwann wird man es aber den selbstkritischen und innovativen Dienststellen danken.

 

Erschienen in apf Heft 6 2021

 

[1] „Verheerende Vertrauenskrise“ – so titelte die F.A.Z. vom 24.03.2021.

[2] Vgl. z.B. Lehmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, Lehrbuch der Bayerischen Verwaltungsschule Band 3, Nr. 2.3.3.

[3] Z.B. Robert-Koch-Institut (samt der dort angegliederten Impfkommission) und Paul-Ehrlich-Institut.

[4] Grundsätzlich hierzu vgl. Höfinger/Heimann (Hrsg.), Handbuch Stabsarbeit – Führungs- und Krisenstäbe in Einsatzorganisationen, Behörden und Unternehmen, Springer Verlag Berlin und Heidelberg, 2016.

[5] Zum Führungsvorgang im Feuerwehrdienst vgl. z. B. ähnlich Michael Müller, Führung bei Großschadenslagen, Diplomarbeit, Rottenburg, 2007, unter Hinweis auf die Feuerwehr-Dienstvorschrift 100, S. 59.

[6] So auch Müller a. a. O., S. 60.

 

 

Dr. Peter Lehmann

Leitender Rechtsdirektor a. D., war langjähriger Leiter des Rechtsamts der Stadt Regensburg und ist heute nebenamtlicher Dozent der Bayerischen Verwaltungsschule in München.
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