26.07.2018

Häufiger Live aus Karlsruhe

Die Lockerung des Filmverbots in Gerichtssälen

Häufiger Live aus Karlsruhe

Die Lockerung des Filmverbots in Gerichtssälen

Urteilsverkündungen an obersten Bundesgerichten dürfen zukünftig gefilmt werden.      |    © Alex - stock.adobe.com
Urteilsverkündungen an obersten Bundesgerichten dürfen zukünftig gefilmt werden. | © Alex - stock.adobe.com

Ich schaue ja liebend gerne Fußball. Aber am 22. Juni 2017 beim Länderspiel Deutschland–Chile im Confederations-Cup habe ich mit einem Auge tatsächlich darauf geschielt, was der Bundestag gerade so macht. Und zwar bei TOP 17 »Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren», spät am Abend. Es kommt ja nicht so häufig vor, dass ein Gesetz beschlossen wird, das ganz konkret unsere Arbeit als Journalisten in der ARD-Rechtsredaktion betrifft.

Wir sind ein Team aus 10 Volljuristinnen- und -juristen mit journalistischer Ausbildung und berichten für Fernsehen, Hörfunk und Internet über die hohen Gerichte in Karlsruhe, Luxemburg und Straßburg, zum Beispiel für die »Tagesschau« oder »tagesschau.de«. Das neue Gesetz hat eine lange und umstrittene Vorgeschichte. Und es wird unsere Zuschauer, Hörer und User direkt betreffen, weil wir künftig Urteile aller obersten Bundesgerichte filmen und übertragen dürfen. Also häufiger: »Live aus Karlsruhe«.

Darum geht es

Seit 1964 steht im Gerichtsverfassungsgesetz (GVG), dass Film- und Tonaufnahmen von Gerichtsverfahren verboten sind. Das ist der Grund, warum in einem Tagesschau-Beitrag über Gerichtsprozesse stets die einziehenden Richterinnen und Richter in ihren Roben zu sehen sind. Nach dem Einzug müssen wir mit unseren Kameras immer raus. Ein allgemeines »Gerichtsfernsehen« wie in den USA gibt es in Deutschland nicht. In einem Strafprozess vor dem Landgericht zum Beispiel geht es auch um die Persönlichkeitsrechte von Angeklagten und Zeugen. Außerdem können diese womöglich nicht unbefangen aussagen, wenn Kameras mitlaufen. Die »Wahrheitsfindung« vor Gericht könnte gestört werden. Das Filmverbot hat also durchaus gute Gründe.


Eine einzige Ausnahme vom Filmverbot gibt es seit 1998 – und zwar für das Bundesverfassungsgericht. Dort dürfen wir die Urteilsverkündungen filmen und übertragen. Das machen wir einige Male pro Jahr auf Phoenix oder tagesschau24, als Stream auf tagesschau.de, manchmal auch im Ersten. Zum Beispiel: NPD-Verbotsverfahren, Atomausstieg, Vorratsdatenspeicherung etc. Fester Teil solcher Sondersendungen sind immer eine Einführung ins Thema und eine erste Einordnung durch uns Journalisten nach dem Urteil. Daneben bauen wir zentrale Sätze des Vorsitzenden Richters aus der Urteilsverkündung in unsere späteren Berichte für die »Tagesschau« ein.

Das neue Gesetz erlaubt uns genau das, was wir bereits am Bundesverfassungsgericht dürfen, nun für alle »obersten Bundesgerichte«. Deren Urteilsverkündungen – nicht die Verhandlungen – dürfen wir künftig filmen und übertragen, wenn der Vorsitzende Richter dies genehmigt. Das betrifft also die Gerichte (auch wenn die geneigte Leserschaft sie natürlich auswendig samt Sitz herunterbeten kann …): Bundesgerichtshof (Karlsruhe), Bundesverwaltungsgericht (Leipzig), Bundesarbeitsgericht (Erfurt), Bundessozialgericht (Kassel) und Bundesfinanzhof (München). Das Filmverbot wird durch das neue Gesetz also für einen eng begrenzten Bereich gelockert.

Noch zwei weitere Neuerungen gibt es:

  • An allen Gerichten ist künftig eine Ton-Übertragung des ganzen Verfahrens in einen Nebenraum zulässig. Das ist für Situationen gedacht, in denen es zu wenige Plätze für Journalisten im Gerichtssaal gibt.
  • Zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken kann es an allen Gerichten Tonaufnahmen von Gerichtsprozessen geben, die aber erst 30 Jahre später verwendet werden dürfen.

Der Schwerpunkt meiner Darstellung soll im Folgenden aber auf der Neuerung »Filmen von Urteilsverkündungen« liegen.

Wie das Thema auf die Tagesordnung kam

Im Vorfeld des NSU-Prozesses hatte es den großen Streit um die Platzvergabe und eine mögliche Übertragung des Verfahrens in einen Nebenraum gegeben. Dies war ab Ende 2013 Anlass für die Politik, das Thema »Kameras im Gerichtssaal« etwas grundsätzlicher wieder auf die Tagesordnung zu bringen. Eine »Bund-Länder-Arbeitsgruppe« machte 2015 Vorschläge, die am Ende in einen Gesetzesentwurf gegossen wurden. Ende März 2017 gab es dazu eine Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages, zu der ich – neben vielen anderen – als Experte eingeladen war. Das war eine spannende Sache, dem Ausschuss meine Argumente vortragen zu dürfen.

Warum die Lockerung so umstritten war

Das Verhältnis von Justiz und Medien war schon immer ein heiß diskutiertes Thema, das seit Jahrzehnten – meistens bei großen Prozessen wie gegen Kachelmann oder Hoeneß oder beim NSU-Prozess – regelmäßig wieder hochkocht. In weiten Teilen der Justiz herrscht nach meiner Erfahrung Skepsis gegenüber den Medien. Dazu haben sicher auch die Medien ihren Teil beigetragen. Die aktuelle, allein auf die obersten Gerichte begrenzte, Lockerung des Filmverbots schien allerdings vergleichsweise harmlos zu sein. Dennoch stieß die Reform innerhalb der Justiz von Anfang an auf starken Widerstand; etwa bei den Präsidentinnen und Präsidenten der obersten Bundesgerichte, teilweise auch bei Journalistenkollegen.

Warum die Lockerung eine gute Sache ist

Ich bin bei diesem Thema natürlich nicht neutral, weil es um unsere tägliche Arbeit hier in Karlsruhe geht. Wichtig erscheint mir aber Folgendes:

  • Persönlichkeitsrechte von Angeklagten oder Zeugen sowie die ungestörte Wahrheitsfindung werden durch die neuen Möglichkeiten nicht angetastet. An den obersten Bundesgerichten sind die betroffenen Personen nur sehr selten vor Ort. Einen Zoom ins Gesicht des Angeklagten im Moment des Urteils, wie von Kritikern befürchtet, wird es daher nicht geben. Zeugen werden an den obersten Bundesgerichten gar nicht mehr gehört. Der Sachverhalt steht fest, es geht nur noch um Rechtsfragen. Es gibt also gewaltige Unterschiede zu einem allgemeinen »Gerichtsfernsehen«.
  • Viele hohe Vertreter der Justiz weisen derzeit mit Sorge auf die Entwicklungen in Sachen Rechtsstaat in anderen Ländern in und außerhalb der EU hin, was ich gut und wichtig finde. Aber gleichzeitig soll es auf keinen Fall möglich sein, dass die deutschen obersten Bundesgerichte etwas mehr Transparenz zeigen, wenn der hiesige Rechtsstaat seine Ergebnisse verkündet? Das passt für mich nicht zusammen. Die Chancen für die Justiz, stärker wahrgenommen zu werden, sind aus meiner Sicht weit größer als mögliche Risiken.

Wie wir das Gesetz nutzen werden

Für mich stehen aber die Chancen für uns Journalisten und für das Publikum im Vordergrund. »Mag ja sein«, könnte Ihnen jetzt auf der Zunge liegen. »Aber interessieren denn solche Urteile überhaupt irgendjemanden im Publikum? Und ist das alles nicht saumäßig kompliziert?« Das habe ich in der Diskussion auch immer wieder aus der Richterschaft gehört. Gepaart mit der stets etwas ungläubigen Frage »Warum wollen Sie das eigentlich?« Die Antwort lautet: Unser journalistisches Thema hier in Karlsruhe ist nun mal das Recht. Und ich bin überzeugt davon, dass dieses Thema mitten im Leben von hunderttausenden Menschen spielt, und dass es Relevanz hat. Ein paar Beispiele, worum es an den obersten Gerichten gehen könnte:

Kommen die Eltern eigentlich an den Facebook-Account ihres verstorbenen Kindes ran? Wie ist das mit der Bestrafung von »Rasern« nach einem illegalen Autorennen? Hält das Urteil im NSU-Prozess der Revision stand? Kann man Schadensersatz bekommen, wenn die Kommune einem keinen Kita-Platz gibt? Kann es in Sachen »Diesel« Fahrverbote in deutschen Innenstädten geben? Reicht das Nachtflugverbot am Frankfurter Flughafen aus, über das Bürgerinitiativen seit vielen Jahren streiten?

Ich erlebe jede Woche Urteilsverkündungen, die oft gut verständlich und kurz vorgetragen werden. Zehn bis zwanzig Minuten dauert das meistens. Da werden nicht zwei Stunden lang Paragrafen vorgelesen. Klar ist Recht oft kompliziert, wer will das bestreiten. Aber an dieser Stelle beginnt dann auch unsere journalistische Aufgabe, die Urteile zu erklären. Ab Ende April 2018 dürfen wir das neue Gesetz anwenden.

Ob das interessant ist, entscheidet das Publikum

Ob das alles jemanden interessiert, und ob es verständlich ist, das entscheidet am Ende allein das Publikum. Indem man vielleicht am Tag einer wichtigen Urteilsverkündung mal bei tagesschau24 oder Phoenix reinschaut, oder im Livestream auf tagesschau.de. Wir Journalisten würden vorab ins Thema einführen, dann die Urteilsverkündung zeigen und anschließend versuchen, eine erste Einordnung zu liefern. Abends bei Sendungen wie »Phoenix – Der Tag« könnte nach der wichtigen Bundestagsdebatte dann auch mal ein zentrales Urteil zusammengefasst werden. Es würde zur Normalität, dass neben der ersten auch die dritte Gewalt eine wichtige Rolle für Staat, Bürger und Medien spielt.

Eines ist klar: Wir werden mit solchen Formaten nie Millionen erreichen (das tun wir dann mit den Ausschnitten in der Hauptausgabe der Tagesschau). Aber irgendwie meine ich schon mal gehört zu haben, dass wir doch gar nicht so sehr auf die Quote schielen sollen, sondern auf die Relevanz. Vor diesem Hintergrund hat das Recht eine Menge zu bieten, finde ich. Im Namen des Volkes, und – ein ganz kleines bisschen – auch im Namen des Publikums.

 

Dr. Frank Bräutigam

ARD-Rechtsexperte, Karlsruhe
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