14.10.2024

Große(r) Terz im Thüringer Landtag

Anträge zur Geschäftsordnung vor Wahl des Landtagspräsidenten zulässig

Große(r) Terz im Thüringer Landtag

Anträge zur Geschäftsordnung vor Wahl des Landtagspräsidenten zulässig

Es ist richtig, solchen Anträgen, die die Parlamentsautonomie vorwegnehmen, das Rechtsschutzinteresse abzusprechen. © Ardan Fuessmann– stock.adobe.com
Es ist richtig, solchen Anträgen, die die Parlamentsautonomie vorwegnehmen, das Rechtsschutzinteresse abzusprechen. © Ardan Fuessmann– stock.adobe.com

In der konstituierenden Sitzung des 8. Thüringer Landtags vom 26. September 2024 herrschte Disharmonie; die Tonlage verschärfte sich zunehmend.

So kam es zu wiederholten Sitzungsunterbrechungen sowie aufgeheizter politischer Stimmung zwischen dem Alterspräsidenten Jürgen Treutler (AfD-Fraktion) und den Vorsitzenden der Fraktionen von CDU, BSW, Linke und SPD. Im Laufe der Sitzung entzog der Alterspräsident dem Fraktionsvorsitzenden der CDU-Fraktion, Andreas Bühl, das Wort und erteilte ihm zwei Ordnungsrufe, was dieser postwendend als „Machtergreifung“ titulierte.

Bühl hatte vorher wiederholt einen Antrag zur Tagesordnung der konstituierenden Sitzung des Parlaments stellen wollen, das Parlament möge über seine Geschäftsordnung abstimmen. Diese sollte dahingehend geändert werden, dass jede Fraktion eine Kandidatin oder einen Kandidaten zur Wahl als Landtagspräsident/in vorschlagen dürfe.


Die mittlerweile per Parlamentsbeschluss geänderte Geschäftsordnung (LT-Drucksache 8/2) sollte in § 2 Abs. 2 Satz 1 wie folgt lauten:

„Der Landtag wählt aus seiner Mitte die Präsidentin beziehungsweise
den Präsidenten für die Dauer der Wahlperiode.“

Interims-Dirigent mit eigener Partitur

Jedoch ließ der Alterspräsident den Antrag nicht zu, da es nach seiner Rechtsauffassung zunächst eine Konstituierung des Thüringer Landtags erfordere, ehe Anträge zur Geschäftsordnung des Parlaments möglich seien. Die Geschäftsordnung des Thüringer Landtags sah in § 2 Abs. 2 Satz 1 vor, dass der AfD als stärksten Fraktion das alleinige Vorschlagsrecht für einen Landtagspräsidenten zukomme:

„Die stärkste Fraktion schlägt ein Mitglied des Landtags für die Wahl zur Präsidentin
beziehungsweise zum Präsidenten vor.“

Die Konstituierung des Landtages wäre nach der Auffassung der AfD-Fraktion und des Alterspräsidenten erst mit der erfolgten Wahl des Landtagspräsidenten abgeschlossen, für die die anderen Fraktionen kein Vorschlagsrecht genössen. Seine Rechtsauffassung begründete der Alterspräsident und auch die AfD-Fraktion mit dem Geschäftsordnungsgesetz (ThürGOG) vom 19. Juli 1994. In dessen § 1 heißt es:

„Die Geschäftsordnung des Thüringer Landtags gilt so lange fort,
bis der Landtag eine neue Geschäftsordnung beschlossen hat.“

Diese legislative Perpetuierung stellt gegenüber allen Ländern der Bundesrepublik Deutschland eine Ausnahme dar, da es an einem solchen Gesetz für die übrigen Parlamente fehlt. Dort beruht die Geschäftsordnung lediglich auf einer Norm in der jeweiligen Landesverfassung bzw. dem Grundgesetz.

In Art. 57 Abs. 5 der Landesverfassung des Freistaates Thüringen heißt es knapp:

„Der Landtag gibt sich eine Geschäftsordnung.“

Nun war zu klären, ob der Verfassungsgerichtshof den Alterspräsidenten im Eilverfahren verpflichten könne, nach Aufruf der Namen der Abgeordneten die Beschlussfähigkeit des Landtags festzustellen und über die vorläufige Tagesordnung, welche Anträge zur Geschäftsordnung enthält, abstimmen zu lassen.

Das Parlament spielt die erste Geige

Am Abend des 27. Septembers 2024 gab der Verfassungsgerichtshof diesem Eilantrag statt:

Hinsichtlich einer Willensbildung komme einem demokratisch gewählten Parlament eine Selbstbestimmtheit schon in seiner konstituierenden Sitzung zu. Das Parlament sei der Ort, an dem sich frei gewählte Vertreterinnen und Vertreter des Volkes zusammenfinden. Die Ausübung sei Angelegenheit des gegenwärtig zusammentretenden Parlaments.

Dieser Grundsatz der Diskontinuität begleite die Abgeordneten in jedem gewählten Parlament aufs Neue: Sie führten Regie über das parlamentarische „Jetzt“, über das sie in der gegenwärtigen Legislatur bestimmen dürften, aber eben nicht über diesen Zeitraum hinaus. So könne ein früheres Parlament das spätere organisatorisch nicht binden.

Disharmonie und Diskontinuität

An dieser Stelle verfange auch die thüringische Besonderheit eines Geschäftsordnungsgesetzes nicht, wie es die Fraktion der AfD insinuierte.

Denn das oben zitierte ThürGOG ist einfaches Landesrecht, das der Verfassung nachgeht. Zudem war das ThürGOG seinem Sinn und Zweck nach lediglich als „Überleitungsgesetz“ gedacht, wie den Dokumenten  zum Gesetzgebungsverfahren im Thüringer Landtags entnommen werden kann (vgl. die Drucksache 1/3456, S. 2 (https://parldok.thueringer-landtag.de/ParlDok/dokument/10784) und das Protokoll der 119. sowie der 121. Plenarsitzung des 1. Thüringer Landtags, S. 9210 ff. bzw. 9409 ff. (https://parldok.thueringer-landtag.de/ParlDok/dokument/11051/119_plenarsitzung.pdf bzw. https://parldok.thueringer-landtag.de/ParlDok/dokument/11165).

So sollte ein neuer Landtag anstelle einer bloß vorläufigen Geschäftsordnung, wie es bis zum Beschluss des 1. Thüringischen Landtags der Fall war, bereits zu Beginn einer neuen Legislatur auf ein vollständiges Regelwerk zurückgreifen können. Mithin sollte einem sich neu konstituierenden Landtag lediglich ein Mehr an Struktur gegeben werden als sie sich der Verfassung entnehmen lässt.

Dies lässt sich in Thüringen nach Ansicht des Autors auch historisch begründen, war der Freistaat zum Zeitpunkt der Verabschiedung des ThürGOG doch keine vier Jahre Gliedstaat der Bundesrepublik und die parlamentarische Demokratie noch in den Kinderschuhen.

Verfassungsrechtlich bräuchte es diese Brücke allerdings nicht. Denn mit seiner Stimmenmehrheit, Art. 61 Abs. 2 der Landesverfassung, nimmt der neue Landtag entweder lediglich einzelne Änderungen an der Geschäftsordnung des früheren Parlaments vor und bringt so konkludent seine Zustimmung zu dem Inhalt der Geschäftsordnung im Übrigen zum Ausdruck. Oder aber er gibt sich durch Mehrheitsbeschluss in Gänze eine neue Geschäftsordnung.

Im Sinne einer Überleitungsfunktion charakterisiert das Verfassungsgericht auch die Aufgabe des Alterspräsidenten. Dieser sei weder demokratisch gewählt noch anderweitig qualifiziert, Rechte der Abgeordneten einzuschränken oder hinauszuzögern. Das Amt diene ausschließlich dem Parlament für eine kurze Zeit, bis zur Wahl des Landtagspräsidentin oder des Landtagspräsidenten in der konstituierenden Sitzung.

Dirigentenstab bleibt in der Hand des Parlaments

Indes hat der Thüringer Verfassungsgerichtshof keine Entscheidung des Parlaments vorweggenommen, weder wen es als Kandidat oder Kandidatin vorschlagen wolle noch wer zu wählen sei als Präsident oder Präsidentin zu wählen sei.

Ferner hat das Gericht weitere Anträge mangels Rechtsschutzinteresses nicht zur Entscheidung angenommen. Diese betrafen Anträge zur Verpflichtung, die Tagesordnung in der Fassung vom 19. September 2024 festzustellen und den dort unter Ziffer 4 genannten Antrag, die Geschäftsordnung zu ändern, zur Abstimmung zu stellen und hierbei Wahlvorschläge aller Fraktionen zuzulassen.

Es ist richtig, solchen Anträgen, die die Parlamentsautonomie vorwegnehmen, das Rechtsschutzinteresse abzusprechen. In den Worten des Gerichts antizipierten die als unzulässig verworfenen Anträge bereits eine Willensbildung des Parlaments.

Ein solches Interesse, eine bereits sieben Tage alte Fassung einer Tagesordnung festzustellen, brächte keinerlei Mehrwert für die Rechtspositionen von Parlament oder Fraktion. Ist nämlich das Parlament selbst befugt, eine neue Tagesordnung jederzeit zu beschließen, so fehlt es an einem Interesse, den Sachstand von vor einer Woche gerichtlich feststellen zu lassen. Das gilt auch für die genaue Formulierung oder die bloße Frage nach dem Datum des Antrages, einen Tagesordnungspunkt aufzunehmen (oder dies nunmehr doch nicht zu tun).

Der Teilung von Gewalten in gesetzgebende, ausführende und entscheidende Gewalt steht eine solche Übervorteilung des Parlaments entgegen. Damit haben sich die Richter auch gegen Anträge der CDU-Fraktion gestellt und so ihre parteipolitische Neutralität bei der Ausübung des Richteramtes verdeutlicht.

Blue Notes

In der am Tag nach dem Eilbeschluss fortgesetzten konstituierenden Sitzung hat sich der Alterspräsident dem Beschluss des Verfassungsgerichtshofes gebeugt. Auch die AfD-Fraktion hat sich scheinbar demokratisch verhalten, indem sie ihrerseits eine Kandidatin zur Wahl als Präsidentin bzw. Vizepräsidentin gestellt hat.

Genau dieses Verhalten –  erst undemokratisches Auftreten und der Versuch, die Rechte eines Parlaments zu stutzen –  und sodann das Hinnehmen eines gerichtlichen Beschlusses dient exemplarisch für die hohen Hürden, eines derzeit in Befassung befindlichen AfD-Verbotsantrages auf Bundesebene.

 

Marco Schütz

Ass. jur., Köln
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