15.07.2016

Gesellschaftlicher Diskurs

Rechtswidriges Regierungshandeln in der „Flüchtlingskrise”?

Gesellschaftlicher Diskurs

Rechtswidriges Regierungshandeln in der „Flüchtlingskrise”?

Gesellschaftlicher Diskurs
Die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung steht im Zentrum vieler Debatten. | © Traumbild - Fotolia

Die sogenannte Flüchtlingskrise polarisiert nicht nur Politik und Gesellschaft, sondern auch die Rechtswissenschaft. Man sieht angesichts der ungehinderten Einreise von Hunderttausenden vor allem im letzten Herbst und Winter Grundfragen des Staatsrechts berührt. Das im Februar vom Freistaat Bayern vorgestellte Gutachten des ehemaligen Bundes­verfassungs­richters Di Fabio zur angeblichen Verletzung der Länder­staatlich­keit durch das ursprünglich durchaus migrations­freundliche Handeln der Bundesregierung bildet insofern nur ein Beispiel. Auch in der sonstigen Rechtswissenschaft wie in der medialen Berichterstattung ist der Vorwurf rechts- und verfassungswidrigen Regierungshandelns weit verbreitet. Zuletzt ist aufgrund des Pakts der EU mit der Türkei und der deshalb gesunkenen Zahl von Geflüchteten etwas Ruhe in die normativ orientierte Diskussion eingekehrt. Da die über das zentrale Mittelmeer nach Deutschland führende Fluchtroute aber bereits eine Renaissance erfährt, werden sich die kritischen Stimmen zukünftig wieder mehr Gehör verschaffen wollen. Untersucht man die normativen Bindungen für die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung genauer, besteht für Dramatisierungen kein Anlass. Die Aufnahme Geflüchteter in Deutschland, wie sie die Bundesregierung insbesondere im letzten Herbst und Winter in größerem Umfang zugelassen hat, ist nicht etwa rechts- oder verfassungswidrig, sondern insbesondere unionsrechtlich geboten.

Regierungsseitiges Unterlassen als Mittelpunkt der Kritik

Der Vorwurf der Rechts- und Verfassungswidrigkeit kann richtigerweise nur auf das Unterlassen der Bundesregierung bezogen werden, Maßnahmen zur Beschränkung der Einreise von Flüchtlingen zu treffen. Gefordert sein soll also eine effektive Grenzsicherung, um Flüchtlinge schon vor dem Betreten des deutschen Hoheitsgebiets zurückzuweisen. Damit steht nicht etwa die „Grenzöffnung” – also die Entscheidung der Bundesregierung vom September, die in Ungarn aufgehaltenen Geflüchteten ungehindert nach Deutschland einreisen zu lassen – im Mittelpunkt der Kritik. Der eigentliche Kern des Vorwurfs gilt der weiteren Gewährleistung einer weitgehend ungehinderten Einreise aller Flüchtenden im Wege des regierungsseitigen Unterlassens.

Gesetzesbindung der Exekutive: Verletzung von § 18 Abs. 2 AsylG?


Im Zentrum der Diskussion um die angeblich verletzten einfachrechtlichen Bindungen der Bundesregierung steht die Regelung des § 18 Abs. 2 AsylG. Danach ist einem um Asyl nachsuchenden Ausländer die Einreise u. a. dann zu verweigern oder ist er nach dem Grenzübertritt „zurückzuschieben”, wenn er aus einem sicheren Drittstaat einreist (Nr. 1) oder Anhaltspunkte dafür bestehen, dass aufgrund unionsrechtlicher oder völkerrechtlicher Regelungen ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist (Nr. 2).

Einreise aus sicherem Drittstaat?

Nun ist etwa Österreich als Mitgliedstaat der Europäischen Union zwar sicherer Drittstaat (§ 26a Abs. 2 AsylG). Die Regelung des § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG steht aber unter dem Vorbehalt des Anwendungsvorrangs des durch die Dublin-III-Verordnung konstituierten unionalen Zuständigkeitssystems. Nimmt der sichere Drittstaat wie Österreich an diesem System teil, sind allein die unionsrechtlichen Vorgaben maßgeblich. Zur Beurteilung der Frage, ob eine Pflicht zur Verweigerung der Einreise nach § 18 Abs. 2 AsylG besteht, kommt es hier also allein auf dessen zweite Nummer an. Sonst könnte sich Deutschland etwa auch Überstellungen nach Art. 29 Dublin-III-VO von solchen Schutzbegehrenden, für deren Asylverfahren eine Zuständigkeit nach der Dublin-III-VO besteht, entziehen und so die Vorgaben des Unionsrechts unterlaufen.

Anhaltspunkte für fehlende deutsche Zuständigkeit nach Dublin III?

Für die Zuständigkeit eines anderen Dublin-Staates ergeben sich für die in Deutschland ankommenden Flüchtenden nach den tendenziell die peripheren Mitgliedstaaten in die Verantwortung nehmenden Kriterien der Art. 7 ff. Dublin-III-VO mehrere Anhaltspunkte i. S. d. § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylG. Bei einer Flucht über das Mittelmeer etwa besteht nach Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO regelmäßig eine Zuständigkeit Italiens oder Maltas. Bei der Einreise über die Türkei ergäbe sich nach Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO primär die Verantwortung Griechenlands, wobei diese im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten wegen systemischer Mängel nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO gesperrt ist. Für diese Fälle könnte sodann eine Reservezuständigkeit Österreichs aus Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, 3 Dublin-III-VO erwachsen.

Trotzdem: Pflicht zur Prüfung der Zuständigkeit

Selbst wenn aber entsprechende Anhaltspunkte für eine anderweitige Zuständigkeit vorliegen und diese sich im Ergebnis sogar erhärten, muss Deutschland zunächst ein Verfahren zur Ermittlung eben dieser Zuständigkeit durchführen. Die in § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylG zwingend vorgesehene Einreiseverweigerung ist insofern unionsrechtlich überlagert. Hiernach besteht richtigerweise eine grundsätzliche Pflicht zur Einreisegewähr, um jedenfalls das nach der Dublin-III-VO dem eigentlichen Asylverfahren vorgelagerte Verfahren zur Prüfung der Zuständigkeit durchzuführen. Angesichts der unterschiedlichen Fluchtwege und der gebotenen Einzelfallprüfung kommt eine nur typisierte Bearbeitung dieser Verfahren unmittelbar an der Grenze nicht in Betracht.

Folge: Pflicht auch zur Durchführung des Asylverfahrens

Die eigentümliche Konzeption des Dublin-Systems bringt es mit sich, dass die Pflicht Deutschlands zur Ermittlung des zuständigen Mitgliedstaats bei dem in den letzten Monaten zu beobachtenden Fluchtverlauf über Griechenland in die Zuständigkeit auch zur Durchführung des eigentlichen Asylverfahrens mündet. Denn bei Ankunft in Deutschland wird regelmäßig ein Antrag auf internationalen Schutz zumindest in Form einer konkludenten Willenserklärung gestellt. Damit wird Deutschland zu dem die Zuständigkeit prüfenden Mitgliedstaat im Sinne der Reservezuständigkeit aus Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin-III-VO. Da mit Ausnahme der Fälle des Art. 13 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO wegen des Ausfalls Griechenlands auch keine Überstellung an andere Mitgliedstaaten möglich ist, ist auch die zweite Voraussetzung des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin-III-VO erfüllt. Somit entfällt das Zurückweisungsrecht aus § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylG. Das für Deutschland sonst so entlastend wirkende Dublin-System führt also bei registrierungsloser und ungehinderter Passage der Flüchtenden durch andere Mitgliedstaaten zu einer durchaus gewichtigen Inpflichtnahme der Bundesrepublik. Anders als oftmals suggeriert, entsteht diese Verpflichtung bei dem hier zugrunde gelegten Fluchtverlauf nicht etwa durch freiwillige Übernahme kraft Selbsteintritts nach Art. 17 Abs. Dublin-III-VO, sondern unmittelbar durch zwingende Zuweisung nach den Reservekriterien des Dublin-Systems.

Keine Korrektur durch Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO

Nun wurde zur Vermeidung einer solchen Reservezuständigkeit aber zuletzt argumentiert, es fehle wegen Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO in allen Fällen des Grenzübertritts von Österreich nach Deutschland an einem in Deutschland gestellten Antrag und damit schon an einer Pflicht Deutschlands auch nur zur vorgelagerten Prüfung des zuständigen Mitgliedstaats. Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO fingiert nämlich, dass ein aus dem Hoheitsgebiet des einen Mitgliedstaats an die Behörden eines anderen Mitgliedstaats gerichteter Antrag als bei Ersterem gestellt gilt. Richtigerweise bleibt diese Regelung für die in den letzten Monaten aus Richtung Österreich zu verzeichnenden, aber auch für alle übrigen Deutschland auf dem Landweg erreichenden Wanderungsbewegungen jedoch ohne Belang.

Denn solange vorübergehend wieder eingeführte deutsche Kontrollen – wie jene zu Österreich – nicht vor oder jedenfalls unmittelbar auf der Grenzlinie durchgeführt werden, ist eine Anwendung von Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO für die an den deutschen Grenzkontrollstellen gestellten Anträge mit der Folgesystematik des Dublin-III-Systems unvereinbar. Weil sich die Antragsteller hiernach auch im eigentlich deutschen Hoheitsgebiet immer noch in Österreich befänden, könnten sie nicht nach den Art. 21 ff. Dublin-III-VO erst dorthin überstellt werden. Es wäre letztlich an den Geflüchteten selbst, nach Österreich zurückzukehren, ohne dass ihnen die besonderen verfahrensrechtlichen Garantien der Art. 21 ff. Dublin-III-VO zuteilwürden.

Der Vorwurf einer Verletzung des Vorrangs des Gesetzes kann mithin nicht dahin gehen, die Bundesregierung habe es versäumt, im Wege der Weisung die Einreiseverweigerung durch die Bundespolizei effektiv sicherzustellen. Vielmehr wäre ein solches Handeln wegen der Zuständigkeitsregelungen der Dublin-III-VO gerade rechtswidrig.

Verfassungsbindung der Exekutive

Angesichts der hier präsentierten Auslegung des § 18 Abs. 2 AsylG wäre höchstens zu überlegen, ob die Bundesregierung eine Pflicht trifft, Grenzkontrollen unmittelbar auf oder vor der eigenen Staatsgrenze zu organisieren, um so erst die Regelung des Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO zu aktivieren. Damit ist die Verfassungsbindung der Bundesregierung angesprochen, welche manchen Kritikern zufolge in der Flüchtlingspolitik ebenso eklatant verletzt wurde.

Schon der insofern erhobene Haupteinwand, die gegenwärtige Flüchtlingspolitik der Bundesregierung bedürfe zu ihrer verfassungsrechtlichen Absicherung einer Entscheidung des Gesetzgebers oder gar des Volkes, vermag nicht zu verfangen. Denn er lebt von der Prämisse, dass nach der geltenden Regelung die Einreise zu verweigern wäre und es sich bei der Gewährleistung der weitgehend ungehinderten Passage auf deutsches Staatsgebiet somit um eine dem Gesetzgeber vorbehaltene Gestaltungsentscheidung handelte. Diese Annahme ist – wie gesehen – unzutreffend.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus einer vermeintlichen staatlichen Gewährleistungsverantwortung für die Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung. Eine solche möchte man bisweilen in Schmitt’scher Tradition ausgehend von einer verfassungsrechtlich angeblich gebotenen Homogenität des Volkes als demokratischen Legitimationssubjekts begründen. Wollte man eine justiziable verfassungsrechtliche Pflicht zur Erhaltung eines ethnisch überwiegend deutschen Volkes tatsächlich ernst nehmen, will man sich kaum vorstellen, welche Maßnahmen bei einer konkreten Gefährdung dieser ethnischen Zusammensetzung gefordert sein sollten. Solche könnten nur in eklatanter Verletzung der die kulturelle, religiöse, sprachliche und nicht zuletzt ethnische Pluralität normativ absichernden Freiheitsrechte ergriffen werden.

Fazit

Der zuletzt immer häufiger zu hörende Vorwurf der Rechts- und Verfassungswidrigkeit der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung erweist sich bei näherem Hinsehen als haltlos. Zwar weist der Vollzug der asyl-, aufenthalts- und sozialrechtlichen Vorgaben für die Registrierung, Verteilung und Unterbringung Geflüchteter durchaus gewichtige Defizite auf. Die Entscheidung der Bundesregierung, eine ungehinderte Einreise nach Deutschland weiterhin zu gewährleisten, ist aber rechts- wie verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, sondern gerade unionsrechtlich geboten. Dass erst die späte Inanspruchnahme auch nord- und zentraleuropäischer Staaten einen erneuten Impuls zur Reform des Dublin-Systems setzen konnte, ist bezeichnend. Bei einer solchen Novelle wird man kaum zu einer alleinigen Verantwortlichkeit der an den Außengrenzen liegenden Mitgliedstaaten zurückkehren können.

Hinweis der Redaktion: Der Autor war bis zum Abschluss seiner Dissertation Ende März wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Lehrstuhl Prof. Dr. Walter Pauly).

Einen ausführlichen Beitrag des Autors zu diesem Thema finden Sie in der August-Ausgabe der Thüringer Verwaltungsblätter.

Arno Wieckhorst
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