15.07.2016

BMF-Schreiben mit Gesetzesrang?

Zur Zulässigkeit von dynamischen Verweisungen, Teil 2

BMF-Schreiben mit Gesetzesrang?

Zur Zulässigkeit von dynamischen Verweisungen, Teil 2

Die Kunst der Verweisungstechnik will beherrscht sein. | © virtua73 - Fotolia
Die Kunst der Verweisungstechnik will beherrscht sein. | © virtua73 - Fotolia

Seit Ende 2015 bestimmt das Einkommensteuergesetz, dass diejenigen, welche für Rechnung ihrer Kunden den Abzug der Kapitalertragsteuer an der Quelle vorzunehmen haben, sich bei dieser segensreichen Tätigkeit nicht nur an die für jedermann geltenden Gesetze und Verordnungen, sondern – ähnlich wie Mitarbeiter des Finanzamtes – auch an Verwaltungsvorschriften halten müssen. Dass diese Neuerung im EStG keine Leerformel war, beweist das bereits Ende letzten Jahres in Publicus 2015.12 erwartete und nunmehr frisch publizierte BMF-Konvolut „Einzelfragen zur Abgeltungsteuer”.

120 Seiten Bundessteuerblatt

Der Artikel „BMF-Schreiben mit Gesetzesrang” in Publicus 2015.12 spekulierte im ersten Satz u. a. über „noch nicht erlassene VwV mit Gesetzesrang”, die sich auf den durch Gesetz vom 2. November 2015 (BGBl I 2015, 1834) neu formulierten § 44 Absatz 1 Satz 3 EStG stützen könnten. Nach dieser Vorschrift haben Abzugspflichtige (z. B. Banken) den Steuerabzug unter Beachtung der im Bundessteuerblatt veröffentlichten Auslegungsvorschriften der Finanzverwaltung für Rechnung des Gläubigers der Kapitalerträge vorzunehmen.

Und schon sind sie da. Fabrikfrisch aus dem BMF kommt das Schreiben vom 18. Januar 2016 daher, mit 120 Seiten (BStBl I 2016 S. 85 bis 135) und 326 Randnummern zu „Einzelfragen zur Abgeltungsteuer” und dem Aktenzeichen IV C 1 – S 2252708/10004:017 (2015/0468306); es hat als Adressaten eindeutig Kredit- und Anlageinstitute privater Anleger. In der Sache geht es also darum, nun den Schuldnern von Kapitalerträgen im Detail vorzuschreiben, wie sie für ihre Kunden deren Abgeltungssteuer anmelden und abzuführen haben. Eine eigene Auslegung der Steuergesetze oder etwa eine Handhabung des Steuerabzugs gemäß einer von der Auffassung der Finanzverwaltung abweichenden BFH-Rechtsprechung bleibt den Adressaten nach dem Willen des BMF damit versagt.


BMF contra BFH

Und es gab tatsächlich einige Punkte, in welchen BMF und BFH in Sachen Abgeltungsteuer nicht übereinstimmten:

Dabei ging es beispielsweise um die Frage, wann ein Kredit zwischen sich nahestehenden Personen unter § 32d Absatz 2 EStG fällt und ein höherer individueller Steuersatz als 25 % angewendet wird. Hierbei ist nun (vgl. Randnummer 136 des o.g. neuen BMF-Schreibens) das BMF auf die Linie des BFH umgeschwenkt, die z. B. im BFH-Urteil vom 28. Januar 2015 (VIII R 8/14, BStBl II S. 397) zum Ausdruck kommt und zusätzlich zum bloßen „Nahestehen” einen beherrschenden Einfluss voraussetzt.

Eine andere Fallgruppe betraf die Frage, ob Gewinne aus der Veräußerung von vor dem 1. Januar 2009 erworbenen obligationsähnlichen Genussrechten auch nach Einführung der Abgeltungsteuer nicht dem Kapitalertragsteuerabzug unterliegen. Der BFH (Urteil vom 12. Dezember 2012, I R 27/12) bejahte dies, während die Finanzverwaltung dazu einen Nichtanwendungserlass erließ (BMF v. 12. September 2013, IV C 1-S 2252/07/0002:010, BStBl I 2013, 1167). Diesen Erlass erklärt nun aber das neue BMF-Schreiben in Randnummer 325 für nicht mehr anwendbar.

Des Weiteren ging es darum, ob die Anschaffungskosten wertlos gewordener Optionen prinzipiell Werbungskosten darstellen können. Diesbezüglich bleibt es bei der Diskrepanz der eher anlegerfreundlichen BFH-Auffassung im Urteil vom 26. September 2012 (IX R 50/09, BStBl II 2013, 231) und der apodiktischen Formulierung in den Randnummern 27 und 33 des neuen BMF-Schreibens.

Kreditinstitute als „Organe” der Steuererhebung

Der BFH hat in dem oben genannten Urteil vom 12. Dezember 2012 aber auch ganz allgemein entschieden, dass ein Kreditinstitut zwar zum Einbehalt von Kapitalertragsteuer berechtigt sei, wenn es sich hierbei auf ein BMF-Schreiben stützen könne. Dies gelte jedoch nicht ausnahmslos, denn ein Kapitalertragsteuerabzug komme jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn er dem eindeutigen Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen widerspreche und sich auch aus deren Entstehungsgeschichte und Zweck keine Anhaltspunkte für ein abweichendes Regelungsverständnis ergäben. Zumindest in diesem Fall sollen die Kreditinstitute ein BMF-Schreiben also außer Acht lassen können (BFHE 241, 151). — Da nun der Nichtanwendungserlass zu diesem Urteil für nicht mehr anwendbar erklärt worden ist (Rn 325, s.o.), könnte man wähnen, das BMF sei inzwischen auch mit dieser allgemeinen teleologischen Einschränkung einverstanden. Aber mitnichten: Der Erlass aus dem Jahr 2013 ist in dieser Hinsicht lediglich nicht mehr als Argumentationshilfe erforderlich, denn er wurde – außer durch den neu gefassten § 44 Absatz 1 Satz 3 EStG – auch noch durch Randnummer 151a (BStBl I 2016, S. 85) inhaltsgleich abgelöst, welche in schlichter Schönheit lautet:

„Die Kreditinstitute haben als Organe der Steuererhebung die Rechtsauffassung der Finanzverwaltung hinsichtlich des Kapitalertragsteuereinbehalts anzuwenden”.

Das BMF ordnet die Banken als „Organe” der Steuererhebung ein, was über die vom BFH bisher vorgenommene Stellung als Verwaltungshelfer (BFH-Urteil vom 23. April 1996, VIII R 30/93, BFHE 181, 7) hinauszugehen scheint.

Fazit

Das verfassungsrechtliche Grundproblem bleibt trotz der inhaltlichen Annäherungen bestehen: Eine Ermächtigung der Exekutive zum Erlass materieller Vorschriften unterliegt den Regelungen des Artikels 80 Grundgesetz. Die Exekutive müsste demnach in Form einer — anhand ihrer Ermächtigungsgrundlage kontrollierbaren — Rechtsverordnung handeln. Die Wahl der Handlungsform „Verwaltungsvorschrift mit Gesetzeskraft aufgrund dynamischer Verweisung im Gesetz” erscheint demgegenüber als trickreiche Umgehung parlamentarischer und justizieller Kontrollbefugnisse. Das bedeutet, dass vermutlich das letzte Wort in dieser Frage nicht geschrieben ist, obwohl jetzt schon 120 Seiten Bundessteuerblatt dazu vorliegen.

 

Dr. Alexander Konzelmann

Leiter der Boorberg Rechtsdatenbanken RDB, Stuttgart
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