15.06.2016

Ende gut, doch noch gut?

Wohnraum für Flüchtlinge: Lüneburger Richter klären Grundsatzfragen

Ende gut, doch noch gut?

Wohnraum für Flüchtlinge: Lüneburger Richter klären Grundsatzfragen

Zielsicher wie der schießende Löwe auf der Spitze ihres Rathauses sprachen die Lüneburger Richter Recht. | © hanseat - Fotolia
Zielsicher wie der schießende Löwe auf der Spitze ihres Rathauses sprachen die Lüneburger Richter Recht. | © hanseat - Fotolia

In einem aufsehenerregenden Fall des einstweiligen Rechtschutzes nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 2. Alt. VwGO ist es den Lüneburger Verwaltungsrichtern zu verdanken, dass nach einer von der Hansestadt Lüneburg, vertreten durch ihren Oberbürgermeister, erlassenen Beschlagnahmeverfügung zur Bereitstellung von Wohnraum für Flüchtlinge Grundsatzfragen des Polizeirechts geklärt worden sind.

Souverän begründeten die Lüneburger Richter die Rechtswidrigkeit der von der Hansestadt Lüneburg gegen den Eigentümer eines privaten Grundstücks erlassenen Beschlagnahmeverfügung zur Bereitstellung von Wohnraum für Flüchtlinge und setzten so einen polizeirechtlichen Meilenstein im Eilverfahren (niedersächsischer Fachjargon: B-Verfahren). Nachdem die Beteiligten das Verfahren in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärten und die Kosten der Stadt Lüneburg auferlegt worden sind, ist nun auch das Klageverfahren (niedersächsischer Fachjargon: A-Verfahren, Az. hier: VG Lüneburg – 5 A 276/15 –) vollständig beendet und durch Beschluss eingestellt: Die Verfahrensakten sind seit April 2016 ein Fall fürs Archiv und wurden bereits weggelegt.

Zeitlicher Ablauf und Problemaufriss

Nur wenige Monate brauchte es für dieses Ende, für das das VG Lüneburg den Grundstein legte (Beschluss vom 09. 10. 2015 – 5 B 98/15 –, ZMR 2015, 907 ff.), den das OVG Lüneburg nach kurzer Zwischenentscheidung (Beschluss vom 13. 10. 2015 – 11 ME 230/15 –, ZMR 2015, 992 f.) mit Beschluss vom 01. 12. 2015 – 11 ME 230/15 –, ZMR 2016, 70 ff.) bestätigte. Damit wurde das B-Verfahren unanfechtbar.


Sodann wurde das ehemalige Kinderheim abgerissen. Der Abriss entsprach einer endgültigen Erledigung, und die Hansestadt Lüneburg überlegte, den Bescheid nunmehr aufzuheben oder das Verfahren für erledigt zu erklären (Klüver, Der Wirtschaftsführer für junge Juristen, 2016, 54 f.). Die zweite Alternative hat sich realisiert, beendete inzwischen auch das A-Verfahren.

In den nichtjuristischen Medien wurde dem Fall mitunter gar der Rang eines „Gerichtskrimis” eingeräumt (so Carolin George, DIE WELT vom 13. 10. 2015: „Privathaus darf privat bleiben – Eigentümer wehrt sich gegen Beschlagnahmung für Flüchtlinge und bekommt vor Verwaltungsgericht Recht”, Abrufstand der Internetfundstelle: 10. 05. 2016: www.welt.de/147573308).

Leicht machten es sich die Lüneburger Richter keinesfalls, sondern befassten sich intensiv mit den Argumenten der Hansestadt Lüneburg als Antragsgegnerin, bevor sie aus juristischer Sicht gänzlich korrekte Entscheidungen trafen.

Dabei wurde das Gewaltenteilungsprinzip des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG als besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips (vgl. nur Schnapp, in: von Münch/Kunig, GG I, 6. Aufl. 2012, Art. 20 Rn. 56 ff.; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 13. Aufl. 2014, Art. 20 Rn. 53 ff.) lege artis berücksichtigt.

Verfahrensgang im Einzelnen

Der Antragsteller begehrte die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner am 06. 10. 2015 erhobenen Klage gegen die unter Anordnung der sofortigen Vollziehung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) ergangene Verfügung der Antragsgegnerin über die Beschlagnahme seines Lüneburger Grundstücks zur Bereitstellung von Wohnraum für Flüchtlinge.

Das VG Lüneburg verhalf am 09. 10. 2015 zum Erfolg, hielt die Beschlagnahmeverfügung nach im Eilverfahren gebotener summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage für rechtswidrig. Neben Bedenken hinsichtlich der formellen Rechtmäßigkeit der Beschlagnahmeverfügung wegen der fehlenden Anhörung des Antragstellers (vgl. § 28 Abs. 1 VwVfG i. V. m. § 1 Abs. 1 NVwVfG), erweise sie sich voraussichtlich auch als materiell rechtswidrig.

Die Prüfung der polizeilichen Generalklausel des § 11 Nds. SOG i. V. m. § 8 Abs. 1 Nds. SOG behandelte sorgsam die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen der Rechtsgrundlage.

Ausführlich setzte sich das VG Lüneburg mit den Voraussetzungen des sog. polizeilichen Notstands nach § 8 Abs. 1 Nds. SOG zur Inanspruchnahme nicht verantwortlicher Personen auseinander. Diese wurden als nicht gegeben erachtet, weil die Antragsgegnerin sie nicht hinreichend dargelegt habe. Während eine gegenwärtige und

erhebliche Gefahr (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 Nds. SOG) der Obdachlosigkeit vorliege und auch § 8 Abs. 1 Nr. 2 Nds. SOG erfüllt sei, liege das Hauptproblem im Tatbestandsmerkmal des § 8 Abs. 1 Nr. 3 Nds. SOG. Nicht ersichtlich sei, dass die Antragsgegnerin die Gefahr nicht selbst oder durch Beauftragte habe abwehren können, zumal sie vor Inanspruchnahme nichtstörender Dritter gehalten sei, gegebenenfalls Räumlichkeiten, auch in Beherbergungsbetrieben, anzumieten.

Bei der Beschlagnahme von Grundstücken zur Einweisung Obdachloser seien wegen des damit verbundenen Eingriffs in das Hausrecht des Eigentümers hohe Anforderungen zu stellen. Insoweit hätte die Antragsgegnerin darlegen müssen, dass keine gemeindeeigenen Unterkünfte zur Verfügung stehen und auch die Beschaffung solcher Unterkünfte bei Dritten nicht rechtzeitig möglich sei. Sie hätte alles in ihrer Macht Stehende tun müssen, um die Gefahr zu beseitigen, z. B. Räumlichkeiten, auch in Beherbergungsbetrieben, anmieten müssen – selbst dann, wenn dies im Verhältnis zur Beschlagnahme und Zahlung einer Nutzungsentschädigung kostenintensiver sein mag.

Außerdem sei im Rahmen des polizeilichen Notstands die Beschlagnahme zur Unterbringung von Obdachlosen nur als eine vorübergehende und kurzfristige Maßnahme möglich; die Höchstdauer nach der Rechtsprechung betrage zwei bis maximal sechs Monate. Im Hinblick auf eine menschenwürdige Unterbringung sei von der Behörde zu verlangen, dass sie für eine obdachmäßige Unterkunft sorge, die vorübergehenden Schutz vor den Unbilden des Wetters bietet und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lässt. Eine wohnungsmäßige Voll- und Dauerversorgung schulde die Behörde bei ihren Bemühungen zur Unterbringung von Obdachlosen hingegen nicht. Die Antragsgegnerin habe nicht hinreichend dargelegt, weshalb eine Unterbringung der Flüchtlinge in der über insgesamt 148 Betten verfügenden Lüneburger Jugendherberge z. B. durch Anmietung eines Traktes nicht möglich wäre oder beispielsweise die Anmietung von Hotelzimmern oder Ferienwohnungen.

Eine Beschlagnahme nach der polizeilichen Generalklausel sei nur als letztes Mittel (ultima ratio) möglich. Die grundsätzlich der Allgemeinheit obliegende Gewährung sozialer Fürsorge dürfe trotz ihrer Bedeutung nicht im Wege der

Beschlagnahme zur Vermeidung von Obdachlosigkeit auf eine Privatperson abgewälzt werden. Auch die Nutzung von Turnhallen sei zur vorübergehenden Unterbringung von Flüchtlingen gegenüber einer Beschlagnahme privater Objekte grundsätzlich vorrangig.

Die Beschwerde der Antragsgegnerin führte zunächst zur Zwischenentscheidung des OVG Lüneburg vom 13. 10. 2015. Dem Eigentümer wurde zunächst vorläufig untersagt, mit den Vorarbeiten für den Abriss des auf dem Grundstücks befindlichen Gebäudes zu beginnen und das Gebäude abzureißen (vgl. §§ 173 Satz 1 VwGO, 570 Abs. 3 ZPO). Dies war nötig, um vor der Beschwerdeentscheidung zu verhindern, dass durch den Abriss vollendete Tatsachen geschaffen werden.

Der Beschluss des OVG Lüneburg vom 01. 12. 2015 wies die Beschwerde der Antragsgegnerin zurück, beendete das Eilverfahren. Deutlich führte das OVG Lüneburg aus, dass die Voraussetzungen, unter denen die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs nach § 80 Abs. 5 VwGO wiederherzustellen sind, erfüllt sind, weil sich die Beschlagnahmeverfügung der Antragsgegnerin bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig erweist: Es sei deshalb nicht unumgänglich, zwischen dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers und dem Vollziehungsinteresse der Antragsgegnerin abzuwägen; diese Ansicht beruhe auf der unzutreffenden Ansicht der Antragsgegnerin, dass der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen sei. Der Bescheid sei zwar wegen der inzwischen nachgeholten Anhörung formell rechtmäßig. Mit dem VG Lüneburg sei er indes in materiell-rechtlicher Hinsicht rechtswidrig.

Das OVG Lüneburg ging über die Vorinstanz hinaus, indem es Bedenken hinsichtlich der Anwendbarkeit des § 11 Nds. SOG als Rechtsgrundlage für die Beschlagnahmeverfügung hegte, insoweit höchstrichterliche Rechtsprechung anführte und die neuen Regelungen der § 14 a SOG und § 26 a BremPolG streifte. Es lieferte wertvolle Anregungen und Denkanstöße, ließ seine Bedenken am Ende dahinstehen, weil ungeachtet dessen die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Antragstellers als Nichtstörer auf der Grundlage des § 11 Nds. SOG i. V. m. § 8 Nds. SOG nicht gegeben sind. Das Gericht machte weitere zahlenmäßig konkretisierte Kapazitätsangaben mit Belegen, führte stets

einschlägige Nachweise aus Rechtsprechung und Literatur an und bewies, dass es sich in sämtliche Belange der Praxis problemlos hineinversetzen kann.

Fazit

Die Lüneburger Verwaltungsrichter klärten polizeirechtliche Grundsatzfragen und zeigten der Antragsgegnerin rechtliche Grenzen auf, die sie mit der erlassenen Beschlagnahmeverfügung in rechtswidriger Weise überschritten hatte.

Sie setzten bundesweit prägende Maßstäbe (Klüver, ZMR 2016, 1 ff.; vgl. auch Drasdo, NJW-Spezial 2016, 33 f.; Heilmann, NZM 2016, 146 f.; nicht völlig deutlich bei M. G. Fischer, NVwZ 2016, 168): Das Gericht (Judikative) erfüllt wegen des Gewaltenteilungsprinzips nicht die Funktion des Gesetzgebers (Legislative). Daher war Zurückhaltung geboten bei der Frage, ob der Landesgesetzgeber eine neue Regelung zur Sicherstellung von Gebäuden für Flüchtlinge in den Polizeigesetzen schaffen soll wie etwa in § 14 a SOG und § 26 a BremPolG (die überdies „auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand” sind, z. B. bei Froese, JZ 2016, 176 ff.). Die Problematik der Erforderlichkeit einer neuen Regelung wurde daher von den Lüneburger Richtern aufgeworfen, aber in geradezu eleganter Weise nicht weiter vertieft (Klüver, ZMR 2016, 1 ff. [4]).

Dr. Meike Klüver

Dr. Meike Klüver

Rechtsanwältin, Hamburg
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