15.06.2016

Drei Wahlen, aber kein Sieger

Die Landtagswahlen im März 2016 als Menetekel

Drei Wahlen, aber kein Sieger

Die Landtagswahlen im März 2016 als Menetekel

Ein Mysterium: Die Geheimnisse unseres Wahlsystems sind schwer zu lüften. | © Romolo Tavani - Fotolia
Ein Mysterium: Die Geheimnisse unseres Wahlsystems sind schwer zu lüften. | © Romolo Tavani - Fotolia

Am 13. März 2016 ist in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt ein neuer Landtag gewählt worden. In alle drei Parlamente sind, bei deutlich gestiegener Wahlbeteiligung, fünf Parteien eingezogen. Die AfD konnte die Sperrklausel überwinden und kam überall mit zweistelligen Stimmenanteilen als Parlamentspartei neu hinzu. In Rheinland-Pfalz ist außerdem der FDP die Rückkehr in den Landtag gelungen. Steigt die Zahl der im Parlament vertretenen Parteien, sinkt – jedenfalls in der Tendenz – die Zahl der auf sie entfallenden Sitze. Die jeweils stärkste Partei erlangte daher in allen drei Ländern nur ungefähr ein Drittel der Mandate oder blieb dahinter sogar deutlich zurück mit allen Folgen, die dies für die Wahl der Ministerpräsidenten und die Bildung einer Landesregierung nach sich zieht.

Was nach der Wahl passiert, steht in den Sternen

In der Politik spielt die sophistische Unterscheidung, ob ein Glas halb leer oder halb voll ist, eine große Rolle. Nach der Wahl erklären sich daher fast alle Parteien irgendwie zum Sieger. Sie machen geltend, dass sie wider Erwarten die Fünf-Prozent-Klausel überwinden konnten, dass sie keine Stimmen eingebüßt, sondern neue hinzugewonnen haben, dass sie von allen Parteien das beste Ergebnis erringen konnten oder dass gegen ihren Willen keine Regierung gebildet werden kann.

Das vermag aber nicht darüber hinwegzutäuschen, dass man bestenfalls „ein halber Sieger” ist, wenn das Glas nur halb voll ist. Denn ein wirklicher Wahlsieger hat das volle Glas in der Hand und muss seinen Sieg mit niemandem teilen. Die drei Landtagswahlen vom 13. März 2016 haben es erneut gezeigt: Unter der Geltung der Verhältniswahl führt die Abstimmung nur selten dazu, dass es als Folge der Wahl zu einer Entscheidung kommt. Die Wähler geben ihre Stimme ab. Und was danach passiert, steht „in den Sternen”. Das Volk tut seinen Willen in Wahlen kund. Doch die politischen Parteien machen daraus, was sie wollen. Und das hat etwas zutiefst Undemokratisches an sich. Manchmal wird dieses Wahlsystem, das die politischen Parteien im Verhältnis ihrer Stimmenanteile in die Parlamente bringen soll – es schon wegen der Sperrklausel tatsächlich aber nicht tut – auch als Koalitionen bildendes Verfahren bezeichnet. Doch auf die Bildung der Koalitionen hat das Wahlvolk keinen unmittelbaren Einfluss mehr. Schlimmer noch – es kann sogar passieren, dass eine Koalition gar nicht zustande kommt oder vorzeitig zerfällt, deshalb neu gewählt werden muss und das ganze Spiel von vorne beginnt.


Das erinnert an das berühmte Konklave von Viterbo, 1268 – 1271. Damals konnten sich die Kardinäle 1005 Tage, also fast drei Jahre lang, nicht darauf verständigen, wer zum Nachfolger des Apostels Petrus bestimmt werden sollte, bis die Gläubigen das Dach abdeckten und es in der Unterkunft des Wahlkollegiums ungemütlich wurde. Gewiss, eine historische Arabeske, hinter ihr steckt jedoch eine handfeste Erkenntnis: Je höher das Quorum, also die Hürde der erforderlichen Mehrheiten ist, umso mühsamer wird es, sie zu überwinden, und umso größer wird die Gefahr, dass sie eben gar nicht überwunden werden kann, sodass die Wahl ergebnislos ausgeht.

Bei den Wahlen zum Oberhaupt der katholischen Kirche durch ein Kollegium von Kardinälen mag es angemessen sein, wenn sie mit Zwei-Drittel-Mehrheit der Stimmen zu erfolgen hat. Anders als der Papst wird der Präsident der USA jedoch in einer allgemeinen Volkswahl, und zwar mit einfacher Mehrheit gewählt. Dieses Verfahren führt zwar zu einer eindeutigen Entscheidung. Nach der Abstimmung weiß das Volk, wer Präsident ist. Doch die plebiszitäre Nominierung der zur Wahl antretenden Kandidaten gerät regelmäßig zu einem „amerikanischen Albtraum”, der sich über Monate hinzieht.

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Die Unmittelbarkeit der Entscheidung

Deshalb ist es politisch klug, die Abgeordneten in überschaubaren Wahlkreisen nur mit einfacher Mehrheit zu wählen und ihnen die Wahl des Kanzlers oder der Ministerpräsidenten zu überlassen. Wie die Erfahrung zeigt, führt das erleichterte Verfahren der klassischen Direktwahl in überschaubaren Wahlkreisen in den meisten Fällen zu einer raschen und eindeutigen Entscheidung. Wegen ihrer Unmittelbarkeit kommt sie dem Willen des Volkes viel näher als die sog. Verhältniswahl, die von der Bildung von Koalitionen abhängig ist und ohne Fünf-Prozent-Hürde gar nicht funktioniert.

Wie die drei Landtagswahlen vom März 2016 bestätigen, führt unser Wahlsystem dazu, dass die Deutschen bei den meisten Bundestagswahlen und zahlreichen Landtagswahlen notorisch mehr Abgeordnete wählen als dort Sitze zur Verfügung stehen. In den Landtag von Baden-Württemberg zogen 143 Abgeordnete ein, obwohl es nur 120 Plätze gibt und im Land nur 70 Wahlkreise bestehen. Es entstanden also zusammengenommen 23 Überhang- und Ausgleichsmandate, obwohl der Stimmzettel bei dieser Landtagswahl nur einmal gekennzeichnet werden kann, das Stimmensplitting also ausgeschlossen ist (vgl. Abbildung). Ein Blick in die Statistik ergibt, dass in Baden-Württemberg die Überhang- zusammen mit den Ausgleichsmandaten eher die Regel sind als die Ausnahme.

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Quelle: Landeswahlleiter

Überhang- und Ausgleichsmandate in Baden-Württemberg

Das Geheimnis dieses Wahlverfahrens lässt sich nur lüften, wenn man weiß, dass die Stimmzettel zweimal ausgewertet werden: einmal, um den Sieger in den 70 Wahlkreisen zu ermitteln; zum anderen, um die Stimmenanteile der Parteien zu erfassen. Warum es dabei zu Überhängen kommt, die dann ausgeglichen werden, bleibt letztlich rätselhaft. Es fällt jedoch auf, dass man für ein Direktmandat weniger Stimmen braucht als für einen rechnerisch vergleichbar gemachten Platz im Kontingent seiner Partei. Denn Listenplätze gibt es in Baden-Württemberg nicht. Alle Abgeordneten werden über die Wahlkreise gewählt: sei es über das sog. „Erstmandat” der Sieger in den 70 Wahlkreisen, sei es über das sog. „Zweitmandat” der jeweils nächstbesten Wahlkreis-Verlierer, die als „zweiter Sieger” durch das Ziel gehen. Wie auch immer, bleibt es zumindest gewöhnungsbedürftig, dass nach den 70 Wahlkreis-Gewinnern mindestens 50 Wahlkreis-Verlierer über das „Zweitmandat” in den Stuttgarter Landtag einziehen.

Was die Überhang- und Ausgleichsmandate betrifft, bleibt es bei der bisherigen Bewertung: „Doch Ausgleichsmandate haben noch einen größeren ‚Pferdefuß’. Sie werden nicht vom Wähler selbst vergeben. Denn für Ausgleichsmandate gibt es gar keine Stimmzettel. Ein Mandatsüberhang lässt sich nicht diesem oder jenem Abgeordneten zuweisen. Der Wähler weiß also bei der Abgabe seiner Stimme weder wo, noch weiß er wie viele Ausgleichsmandate anfallen. Wie will er da entscheiden, wem sie zukommen sollen?” Vgl. Hettlage, in: PUBLICUS – Der Online-Spiegel für das öffentliche Recht, www.publicus-boorberg.de, Ausgabe 2011.3: Eine Rechnung mit zwei Unbekannten (zugänglich als Nachdruck auch in: Hettlage, Wie wählen wir 2013? erschienen 2012, S. 19 (21).

Ebenda heißt es weiter: Wer ein Ausgleichsmandat erhalte, werde erst nachträglich von der Wahlleiterin festgestellt, natürlich ‚wie das Gesetz es befiehlt’. Daher bestimme sie immer den Nächstbesten, unabhängig davon, ob er im Wahlkreis gewonnen oder verloren hat. Doch die Abgeordneten werden auch nicht durch Gesetz bestimmt. „Die Abgeordneten werden (…) gewählt.” Und diese zwingende Vorgabe des Art. 38 GG habe das Verfassungsgericht in Karlsruhe (BVerfG v. 26. 02. 1998, BVerfGE 97, 317 (323)) ausdrücklich bestätigt. An dem Fazit ändert sich nichts: „Ausgleichsmandate gehen also nicht auf den unmittelbaren Willen der Wähler zurück und sind deshalb schlicht verfassungswidrig” (ebenda).

Überraschung bei den Erststimmen

Besondere Aufmerksamkeit zog die gleichzeitige Landtagswahl in Sachsen-Anhalt auf sich. Hier hatte die NPD ihre Wähler mit einer Plakat-Aktion öffentlich dazu aufgerufen, sie nur mit der Zweitstimme zu wählen, die Erststimme aber der AfD zu geben. Die Presse berichtete darüber (vgl. SüddZ v. 09. 03. 2016, S. 5: „Rechtes Splitting”; http://www.sueddeutsche.de/politik/npd-rechtes-splitting-1.2897794.) Und in der Tat: In den 43 Wahlkreisen des Landes erlangte die CDU 27, die AfD 15 Direktmandate. Die Linken konnten dagegen nur eines erringen. Alle anderen Parteien gingen leer aus.

In der Tat eine Überraschung, die man in dieser Dimension bisher für unmöglich gehalten hatte. Geht man der Sache auf den Grund, wird das Bild noch verwirrender. Denn 15.288 Wähler der AfD gaben ihr zwar die Zweitstimme, nicht aber die Erststimme. Offenbar sind jedoch die NPD-Wähler dem Aufruf ihrer Partei gefolgt. Jedenfalls erreichte sie 21.230 Zweitstimmen, aber keine nennenswerte Menge an Erststimmen. Dass es so geht, wusste man, aber dass es tatsächlich so gemacht wird, ließ sich bisher kaum belegen: Das Unzulängliche, hier wirds Ereignis. Das völlig unerwartete Wahlergebnis zeigt, wie leicht man die personalisierte Verhältniswahl durch das Stimmensplitting „über den Haufen werfen” kann. Die Landtagswahl v. 13. 03. 2016 in Sachsen-Anhalt wurde daher zum Menetekel!

Sachsen-Anhalt: Stimmensplitting Landtagswahl 2016

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Quelle: Landeswahlleiter und eigene Berechnung

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