10.07.2013

Einheimischenmodelle auf dem Prüfstand

EuGH-Urteil zum flämischen Grundstücks- und Immobiliendekret

Einheimischenmodelle auf dem Prüfstand

EuGH-Urteil zum flämischen Grundstücks- und Immobiliendekret

EuGH-Urteil: Begünstiger Grundstückserwerb von Einheimischen grundsätzlich mit EU-Recht konform. | © djama - Fotolia
EuGH-Urteil: Begünstiger Grundstückserwerb von Einheimischen grundsätzlich mit EU-Recht konform. | © djama - Fotolia

Am 08. 05. 2013 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) das Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-197/11 (Libert u. a.) und C-203/11 (All Projects & Developments u. a.) im Vorabentscheidungsverfahren zum flämischen Grundstücks- und Immobiliendekret aus dem Jahr 2009 gefällt und folgte damit den Schlussanträgen des Generalanwalts (siehe Brüssel Aktuell 35/2012).

Das Verfahren betriff den Grundstücks- und Immobilienerwerb in Flandern und ist für den weiteren Verlauf des derzeit ausgesetzten Vertragsverletzungsverfahrens gegen deutsche/bayerische Einheimischenmodelle (siehe Brüssel Aktuell 23/2010) von Bedeutung. Das Urteil ist aus kommunaler Sicht grundsätzlich positiv, da es ermöglicht, Kriterien der Sozialwohnungspolitik, die darauf zielen, die Wohnbedürfnisse der weniger begüterten Bevölkerung zu sichern, nach dem EU-Recht für den Grundstückskauf und Wohnungsbau in den Kommunen zuzulassen.

Zum Ausgangsverfahren

In der flämischen Region in Belgien bestimmt das Grundstücks- und Immobiliendekret, dass die Übertragung von Grundstücken und Gebäuden in bestimmten Gemeinden davon abhängt, dass der Käufer eine „ausreichende Bindung“ zur betreffenden Kommune nachweist. Dazu werden drei alternative Kriterien vor dem Immobilienerwerb geprüft: Der Erwerber war entweder sechs Jahre in der Gemeinde wohnhaft, verrichtet dort Tätigkeiten oder es besteht eine gesellschaftliche bzw. familiäre Bindung. Damit soll der Immobilienbedarf der einheimischen Bevölkerung in den flämischen Gemeinden gedeckt werden, in denen hohe Grundstückspreise zu einer Gentrifizierung (d. h. Ausschluss der weniger begüterten Bevölkerung vom Immobilienmarkt aufgrund des Zuzugs finanzkräftigerer Personen) führen. Auch verpflichtet das Dekret Bauherren zur Errichtung von Sozialwohnungen. Mehrere Privatpersonen und Immobilienfirmen gingen gegen die Regelung vor dem belgischen Verfassungsgerichtshof vor. Dieser hat dem EuGH Fragen zur Vereinbarkeit der Regelung mit dem EU-Recht, insbesondere den Grundfreiheiten, zur Vorabentscheidung vorgelegt.


Bedingung der „ausreichenden Bindung“ zur Gemeinde beschränkt offenkundig die Grundfreiheiten

Der EuGH verneinte zunächst eine reine Inländerdiskriminierung und beschäftige sich sodann mit der Frage, ob das flämische Dekret die Grundfreiheiten aus Art.21, 45, 49, 56 und 63AEUV beschränkt und kam dabei zum Ergebnis, dass eine offenkundige Beschränkung dieser vorliegt. Er begründet dies damit, dass zum einen die Bestimmungen Personen ohne „ausreichende Bindung“ zur Gemeinde daran hindern, Grundstücke oder Häuser zu erwerben, für mehr als neun Jahre zu mieten oder ein Erbpacht- oder Erbbaurecht zu vereinbaren. Zum anderen würden dadurch auch EU-Bürger davon abgehalten, die Gemeinde zu verlassen, um sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, denn nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer außerhalb hätten diese Bürger keine „ausreichende Bindung“ mehr zur Gemeinde. Auch beschränke das flämische Dekret die Tätigkeit von Immobilienunternehmen, denn es können Liegenschaften in der Gemeinde nicht an jeden EU-Bürger veräußert werden, sondern nur an diejenigen mit einer „ausreichenden Bindung“.

Keine Rechtfertigung der flämischen Maßnahmen durch zwingenden Grund des Allgemeininteresses

Der Gerichtshof prüfte sodann, ob die Beschränkung der Grundfreiheiten durch die Bedingung der „ausreichenden Bindung“ des Käufers zur Gemeinde durch ein im Allgemeininteresse liegendes, zwingendes Ziel, gerechtfertigt ist.

Die flämische Regierung machte geltend, die Bedingung der „ausreichenden Bindung“ sei durch das Ziel gerechtfertigt, den Immobilienbedarf der weniger begüterten einheimischen Bevölkerung zu befriedigen. Darunter fielen sozial schwache und junge Haushalte sowie alleinstehende Personen, die nicht in der Lage seien, ausreichendes Kapital für den Kauf einer Liegenschaft in der Gemeinde aufzubauen. Dieser Teil der örtlichen Bevölkerung sei wegen des Zuzugs von Personen mit finanziell höherem Wohlstand am Immobilienerwerb gehindert. Aus raumplanerischen Gründen solle daher ein ausreichendes Wohnangebot für benachteiligte Gruppen der örtlichen Bevölkerung sichergestellt werden.

Der EuGH führte dazu aus, dass solche Erfordernisse der Sozialwohnungspolitik zwingende Gründe des Allgemeininteresses darstellen können und damit Beschränkungen der Grundfreiheiten gerechtfertigt seien. Er prüfte weiter, ob die Voraussetzung der „ausreichenden Bindung“ eine Maßnahme darstellt, die für die Erreichung des angeführten Ziels aber auch erforderlich und angemessen ist.

Das flämische Dekret sieht drei alternative Bedingungen vor, die im Vorfeld des Immobilienerwerbs zur Voraussetzung einer „ausreichenden Bindung“ überprüft werden. Der potentielle Käufer müsse vor der Übertragung mindestens sechs Jahre lang ununterbrochen in der Gemeinde oder in einer angrenzenden wohnen oder zum Zeitpunkt der Übertragung Tätigkeiten in der Gemeinde verrichten (die durchschnittlich mindestens eine halbe Arbeitswoche in Anspruch nehmen) oder aufgrund eines wichtigen und dauerhaften Umstands eine gesellschaftliche, familiäre, soziale oder wirtschaftliche Bindung zur Gemeinde aufgebaut haben.

Der EuGH kommt zum Ergebnis, dass keine dieser Bedingungen in unmittelbarem Zusammenhang mit den sozioökonomischen Aspekten – die von flämischer Seite angeführt wurden – ausschließlich die am wenigsten begüterte einheimische Bevölkerung auf dem Immobilienmarkt schützen würden. Solche Bedingungen können nämlich nicht nur von der am wenigsten begüterten Bevölkerung erfüllt werden, sondern auch von anderen Personen, die über ausreichende Mittel verfügen und folglich keinen besonderen sozialen Schutzbedarf auf dem Immobilienmarkt hätten. Daher gingen die betreffenden Maßnahmen über das hinaus, was zur Erreichung des angestrebten Ziels erforderlich sei.

Außerdem wären andere, weniger einschränkende Maßnahmen geeignet, das verfolgte Ziel zu erreichen, ohne zwangsläufig zu einem faktischen Verbot des Erwerbs für jeden potenziellen Käufer, der die genannten Bedingungen nicht erfüllt, zu führen. Vorstellbar wären laut EuGH z. B. Kaufprämien oder sonstige speziell zugunsten der am wenigsten begüterten Personen konzipierte Arten von Beihilfen, um insbesondere denjenigen, die ein schwaches Einkommen nachweisen können, den Erwerb von Immobilien in den Gemeinden zu ermöglichen.

Zur Bedingung der gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Bindung des Kaufinteressenten an die Gemeinde weist der EuGH darauf hin, dass ein System der vorherigen behördlichen Genehmigung keine Ermessensausübung der nationalen Behörden rechtfertigen könne, die geeignet sei, den Grundfreiheiten ihre praktische Wirksamkeit zu nehmen. Solle ein derartiges System trotz Eingriff in Grundfreiheiten gerechtfertigt sein, müsse es auf objektiven, nicht diskriminierenden, im Voraus bekannten Kriterien beruhen, damit der Ermessensausübung durch die Behörde hinreichende Grenzen gesetzt werden. In Anbetracht des vagen Charakters der Bedingung und des Fehlens einer Beschreibung der Situationen, in denen sie im flämischen Fall als erfüllt anzusehen wäre, genügen die Bestimmungen des Dekrets diesen Anforderungen nicht. Folglich beruhe ein System der vorherigen behördlichen Genehmigung, wie im flämischen Fall, nicht auf Bedingungen, die geeignet seien, der Ermessensausübung durch die Behörden hinreichende Grenzen zu setzen. Daher ist insgesamt ein Eingriff in die Grundfreiheiten nicht gerechtfertigt.

Bedeutung des Urteils für die deutschen/bayerischen Einheimischenmodelle

Der EuGH stellt mit dieser Entscheidung klar, dass Einheimischenmodelle grundsätzlich EU-rechtlich konform sind, wenn sie auf angemessenen Kriterien basieren und den Grundsatz der Nichtdiskriminierung beachten. Die bayerischen Einheimischenmodelle unterscheiden sich vom flämischen Modell darin, dass Ortsansässige nur dann vergünstigte Konditionen beim Erwerb von Bauland erhalten, wenn sie aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse auf dem regulären Grundstücksmarkt nicht zum Zug kommen und zum Hausbau ihre Heimatgemeinde verlassen müssten. Der EuGH befindet, dass soziale Kriterien, die zum Ziel haben, die Wohnbedürfnisse ärmerer Bevölkerungsschichten zu sichern, nach EU-Recht möglich sind. Allerdings müssen die Einschränkungen beim Immobilienkauf hinsichtlich des Ziels angemessen und verhältnismäßig sein, was bei dem belgischen Modell hier nicht der Fall war.

Die Entscheidung lässt somit die Berücksichtigung von sozioökonomischen Aspekten zu, mit denen die wohnsozialen Bedürfnisse der am wenigsten begüterten einheimischen Bevölkerung gesichert werden können und zeigt damit Wege auf, wie solche Modelle EU-rechtlich konform gestaltet werden können.

Das bayerische Kommunen betreffende Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission zu den Einheimischenmodellen war bisher noch bis April ausgesetzt. Für den Abschluss des Verfahrens wird es nun darauf ankommen, anhand des EuGH-Urteils die deutschen Einheimischenmodelle europarechtskonform auszugestalten oder anzupassen. Die Entscheidung in den verbundenen Rechtssachen mit den Aktenzeichen C-197/11 und C-203/11, die sich auch noch zu Fragen sozialer Auflagen für Bauherren und zu steuerlichen Anreizen und Subventionsmechanismen äußert, ist abrufbar unter http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=137306&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=1758561.

 

Andrea Gehler

Leiterin Europabüro der bayerischen Kommunen, Brüssel
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