15.05.2014

Eine Chance für die „lernende Kommune“?

Neu: Erstellung eines "Bürgergutachtens" in Sachsen-Anhalt

Eine Chance für die „lernende Kommune“?

Neu: Erstellung eines "Bürgergutachtens" in Sachsen-Anhalt

Planungszelle/Bürgergutachten: Neue Ideen zur Belebung einer innerstädtischen Brachfläche. | © mirpic - Fotolia
Planungszelle/Bürgergutachten: Neue Ideen zur Belebung einer innerstädtischen Brachfläche. | © mirpic - Fotolia

Der „Wutbürger“ hat einen Stein ins Rollen gebracht: Die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger außerhalb der bisher vorgesehenen Verfahren etwa durch das Baugesetzbuch gewinnt weiter an Bedeutung. Bundesweit wird intensiv erprobt, wie Bürgerbeteiligung als Handlungsprinzip in der Kommune verankert werden kann, um ein neues kooperatives Rollenverständnis zwischen Verwaltung, Politik und Bürgerschaft zu befördern.

Auch in Sachsen-Anhalt wird mit Ansätzen moderner Beteiligungsverfahren experimentiert. Erstmals kam in Wernigerode das Verfahren Planungszelle/Bürgergutachten zum Einsatz. Wissenschaftlich begleitet und ausgewertet wurde der Prozess der Erstellung eines Bürgergutachtens für die Harzstadt von einem Forscherteam der Hochschule Harz und des nexus Instituts Berlin unter Leitung von Prof. Dr. Birgit Apfelbaum.

Nach der Übergabe des Gutachtens im Rathaus Wernigerode im Juni 2013 an Vertreter des Stadtrats, den Oberbürgermeister und den Sprecher des Bürger-Bündnisses Wernigerode für Weltoffenheit und Demokratie untersuchte das Forscherteam der Hochschule Harz retrospektiv, wie die an der Vorbereitung beteiligten Akteure aus Zivilgesellschaft und Verwaltung ihre Zusammenarbeit in einem speziell dafür eingerichteten Arbeitskreis erlebten und welche Schlüsse sie aus diesen Erfahrungen mit Blick auf ihre zukünftige Bereitschaft zur Mitwirkung an ähnlichen Verfahren von Bürgerbeteiligung gezogen haben. Die Einschätzungen wurden im Rahmen der Begleitforschung auf der Grundlage von telefonisch durchgeführten Leitfadeninterviews ermittelt.


Die Aussagen der Interviewpartner dokumentieren eine differenzierte Wahrnehmung der Herausforderungen im demokratischen Miteinander, die mit einer solchen Kooperation einhergehen, sowie eine größere Offenheit dafür, Bürgerbeteiligung auch über den projektbezogenen Kontext hinaus strategisch und konzeptionell in der Kommune zu etablieren. Auch ein geschärftes Bewusstsein für das komplexe Zusammenspiel der unterschiedlichen Akteursgruppen in kommunalen Planungsprozessen ist in den Interviewdaten belegt, wenngleich die fehlende systematische Einbeziehung des Stadtrates als politisches Entscheidungsgremium von den Beteiligten nur ansatzweise thematisiert und kritisch reflektiert wird.

Ausgangslage und Auftrag

Initiator und Auftraggeber für die Durchführung von zwei Planungszellen und die Erstellung eines darauf basierenden Bürgergutachtens zur Frage der Nutzung des Wernigeröder Ochsenteichgeländes war nicht die Stadt, sondern das Bürger-Bündnis Wernigerode, also eine zivilgesellschaftliche Gruppierung. Das Bürger-Bündnis hatte seine Idee, eine Planungszelle zu einem relevanten Thema der Stadtentwicklung durchzuführen, Vertretern der Stadt unterbreitet, die eine Unterstützung für dieses Vorhaben zusagten. Da das Bürger-Bündnis selbst nicht ausreichend mit dem Verfahren Bürgergutachten/Planungszelle vertraut war, wandte es sich für die Organisation, Durchführung und Auswertung des Beteiligungsverfahrens an die Hochschule Harz, die als weiteren Projektpartner das auf partizipative Verfahren spezialisierte nexus Institut für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung aus Berlin hinzuzog (siehe Abb. 1).

Für die Organisation und Vorbereitung der Planungszellen wurde im November 2012 ein vom Forscherteam der Hochschule Harz moderierter Arbeitskreis gebildet, in dem Vertreter aller Partner beteiligt waren. Dieser Arbeitskreis legte den Gegenstand der Planungszellen fest und stimmte die konkrete Ausgestaltung des Programms ab. Auswertung der Ergebnisse und Zusammenführung der Empfehlungen als Bürgergutachten lagen unter maßgeblicher redaktioneller Mitwirkung von Nicolas Bach M.A. in der Verantwortung von Prof. Dr. Birgit Apfelbaum (Hochschule Harz).

Als Bürgergutachter wurden 24 über das Melderegister per Zufall ausgewählte Wernigeröderinnen und Wernigeröder tätig. Sie erarbeiteten in einem dreitägigen, von einem Moderationsteam unterstützten Prozess Mitte März 2013 Empfehlungen für die künftige Nutzung der letzten innerstädtischen Brachfläche, die seit Anfang der 1990er Jahre immer wieder für Diskussionen in Politik, Verwaltung und Bürgerschaft sorgt. Nach einer Vor-Ort-Begehung, Expertenvorträgen und Gesprächen mit Vertretern verschiedener Seiten konnten sich die Bürgergutachter in zwei parallelen Planungszellen eine eigene Meinung bilden.

Wahrnehmung und Bewertung des vorbereitenden Arbeitskreises

Von besonderem Interesse für die Qualitätssicherung und wissenschaftliche Fundierung des Verfahrens sind Erkenntnisse über die Wahrnehmung und Bewertung der Zusammenarbeit innerhalb des vorbereitenden Arbeitskreises. Aufschluss darüber geben die vier unmittelbar nach Übergabe des Bürgergutachtens vom Forscherteam der Hochschule Harz telefonisch durchgeführten Interviews. Befragt wurden der Vertreter des Bürger-Bündnisses sowie drei Angehörige der Verwaltung (Verwaltungsspitze und operative Ebene), und zwar erstens zur Bewertung der Kooperation und der Zusammensetzung des Arbeitskreises, zweitens zur Identifikation von eventuellen kritischen Situationen und zur Bewertung der gefundenen Lösungen. Schließlich wurde drittens vor dem Hintergrund der gerade gemachten Planungszellen-Erfahrungen die grundsätzliche Bereitschaft zur Durchführung partizipativer Prozesse in der Zukunft beleuchtet.

Alle Interviewpartner bewerten die Zusammenarbeit im Arbeitskreis als positiv und angenehm. Nach einer kurzen Phase der Einarbeitung wird die Zusammenarbeit als konstruktiv, vertrauensvoll, offen und geradezu freundschaftlich charakterisiert. Ein Verwaltungsangehöriger hebt positiv hervor, dass sich die Kompetenzen der Arbeitskreismitglieder gut ergänzt hätten. Wie der Angehörige der Verwaltungsspitze unterstreicht, habe der lange Zeithorizont der Zusammenarbeit allen die Möglichkeit eröffnet, sich in das Thema einzuarbeiten, Verbindungen und Beziehungen aufzubauen, und Raum für Verständnis und Verständigung geboten. Der Vertreter des Bürger-Bündnisses stellt heraus, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hätten sich aufeinander eingelassen und ihre jeweiligen Kompetenzen eingebracht, sodass stets die Umsetzung des gemeinsamen Ziels im Vordergrund der zunächst ungewohnten Kooperation gestanden habe.

Auf die Frage, ob es kritische Situationen während der Zusammenarbeit des Arbeitskreises gegeben habe, erwähnen alle Interviewpartner die Irritationen rund um die Klärung des Gegenstandes der Planungszellen beim ersten Zusammentreffen, an denen das gemeinsame Bürgerbeteiligungsprojekt fast gescheitert sei. Um Überschneidungen zu vermeiden, hatte man dort das ursprünglich vorgesehene Thema kurzfristig verworfen, da hierzu durch das entsprechende Fachressort bereits eigene Beteiligungsmaßnahmen durchgeführt wurden.

Auf die Frage, was zur Lösung dieser kritischen Situation beigetragen habe, nennen die Interviewpartner als zentralen Punkt die Abwägung sachlich vorgebrachter Argumente, die aber auch eine Offenheit aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer für die Prüfung alternativer Themen erfordert habe. Dies habe, so eine Anmerkung des Angehörigen der Verwaltungsspitze, auch eine gute Moderation, Kommunikationsfähigkeit und unvorbelastete persönliche Beziehungen vorausgesetzt.

Bezüglich der Zusammensetzung des Arbeitskreises wird von allen Befragten eine Arbeitskreisgröße von ca. sechs Personen als ideal zur Gewährleistung der Arbeitsfähigkeit befunden. Ebenso stimmen die Interviewpartner darin überein, dass die richtigen Akteure in den Arbeitskreis eingebunden gewesen seien. Die Zusammensetzung habe einen pragmatischen und zielorientierten Arbeitsstil mit direktem Kontakt und Austausch von Argumenten ermöglicht, was die Zusammenarbeit des Gremiums so effektiv gemacht habe. Die operativen Mitarbeiter der Verwaltung hätten sich allerdings intern bei der Themenauswahl eine bessere Abstimmung in der Verwaltungsspitze gewünscht. Es wird kritisch angemerkt, dass die Themenabsprache zunächst ohne die Einbindung relevanter und im Nachfolgenden zuständiger Personen stattgefunden habe.

Alle Befragten sind sich einig, dass in Wernigerode auch zukünftig Bürgerbeteiligungsprozessedurchgeführt werden sollten, die über das gesetzlich geforderte Maß hinausgehen. Grundsätzlich sei auf allen Ebenen der Verwaltung die Bereitschaft zur Anwendung neuer, bisher nicht durchgeführter Beteiligungsverfahren vorhanden. In der Praxis erschwere der Personalmangel jedoch die Umsetzung zeitintensiver Verfahren vom Typ Bürgergutachten/Planungszelle. Der Vertreter der Verwaltungsspitze sieht zudem bei einigen Stadträten und Meinungsbildnern die Befürchtung, sie könnten durch eine intensiv betriebene Partizipation überflüssig werden. Diese Haltung könne die Durchführung zukünftiger partizipativer Prozesse behindern. Ein anderer Verwaltungsangehöriger versichert, die Verwaltung werde sich eingehend mit den Empfehlungen des Bürgergutachtens beschäftigen. Er hoffe, dass der Stadtrat dies ebenfalls tun werde. Allerdings bremst er zugleich Erwartungen an eine schnelle Umsetzung, da vorher noch die Finanzierungsfrage zu klären sei.

Von der „lernenden Verwaltung“ zur „lernenden Kommune“

Die Einschätzungen der Interviewpartner belegen, dass nach anfänglichen Irritationen zwischen dem Vertreter des Bürger-Bündnisses und den Mitarbeitern der Verwaltung die Bereitschaft der an der Vorbereitung beteiligten Akteure zugenommen hat, eigene Handlungskompetenzen für Bürgerbeteiligung weiter zu entwickeln und die Planungszellen-Erfahrung als Chance für eine „lernende Kommune“ mit partizipativem Selbstverständnis zu werten. Auch wenn die Mitwirkenden die im konkreten Fall nicht gegebene systematische Einbeziehung des Stadtrates nur begrenzt kritisch reflektieren, manifestiert sich in ihren Aussagen ein geschärftes Bewusstsein für das notwendige und häufig konflikthafte Zusammenspiel von Zivilgesellschaft, Verwaltung und Politik im demokratischen Miteinander. Fortsetzung folgt?

Das ausführliche „Bürgergutachten zur Nutzung des Ochsenteichgeländes Wernigerode“ mit weiteren Informationen zum Verfahren ‚Planungszelle‘ finden Sie zum Download unter https://www.hs-harz.de/user-mounts/27_m715/BG_Wernigerode.pdf

 

Prof. Dr. Birgit Apfelbaum

Professorin für Kommunikations- und Sozialwissenschaften, Fachbereich Verwaltungswissenschaften der Hochschule Harz, Halberstadt
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