10.01.2022

Digitale Bildungsarbeit in der Polizei – auch nach Corona?

Bildungsarbeit der Polizei im Umbruch

Digitale Bildungsarbeit in der Polizei – auch nach Corona?

Bildungsarbeit der Polizei im Umbruch

Ein Beitrag aus »Deutsches Polizeiblatt« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Deutsches Polizeiblatt« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Die mit der Covid-19-Pandemie einhergehenden Auswirkungen haben umfassend auf die Art und Weise der Bildungsarbeit in den Polizeien der Länder und des Bundes Einfluss genommen. Auch die Polizei Niedersachsen stand und steht weiterhin vor der Herausforderung, Fachwissen und Kompetenzen zur Zeit von „Corona“ sach- und adressatengerecht zu vermitteln. Die digitalen Möglichkeiten sowie die Fähigkeit, diese auch entsprechend zu verwenden, stellen dabei ein Schlüsselelement bei der Bewältigung jener Herausforderungen dar.

Einleitung

Die Krise ist noch nicht überwunden und schon wird – und das auch absolut nachvollziehbar – über die Zeit „nach Corona“ diskutiert. Dabei steht die Frage, was von den „digitalen Errungenschaften“ bleiben kann, im zentralen Fokus. Oder, etwas weniger „digital-euphorisch“ ausgedrückt, wann kann endlich wieder zur vorherigen „analogen Normalität“ in Präsenz zurückgekehrt werden? Dabei wird diese Fragestellung nicht nur an dem didaktischen Mehrwert digitaler Methoden festgemacht. Die Verfügbarkeit, deren technische Stabilität aber auch der Umgang von Lehrenden und Lernenden sind nur beispielhaft genannte Perspektiven in diesem Diskurs. So betrifft diese Fragestellung jedoch nicht nur den polizeilichen Bildungsbereich. Vielmehr handelt es sich um einen Diskurs, der bisweilen verbissen an nahezu allen Fronten der schulischen sowie Erwachsenen-Bildung geführt wird. Anhand der jüngsten Entwicklungen in der polizeilichen Bildungsarbeit der Polizei Niedersachsen soll ein Beitrag zur Ergebnisfindung ob dieser Fragestellung geleistet werden. Dabei wird in der Folge, sehr naheliegend, jedoch lediglich auf den Bereich der Erwachsenenbildung eingegangen. Eine Positionierung soll bereits vorweggenommen werden. Ein „Ante Corona“ in der Nutzung von digitalen Methoden in der Bildungsarbeit wird es – und sollte es auch – nicht mehr geben können.

Bildungs-Schock mit Lockdown- Beginn

Der 16.03.2020 war auch für die Bildungsarbeit in der Polizei Niedersachsen eine Zäsur. Bedingt durch den Lockdown wurde sämtlicher Präsenzbetrieb in der Lehre – sei es das Studium für den Polizeivollzugsdienst oder auch die zentrale Fortbildung für die gesamte Polizei Niedersachsen – eingestellt. Betroffen waren dadurch rund 3.600 Studierende sowie die rund 26.500 Polizeibeschäftigen der Polizei Niedersachsen. Die Leistungsempfänger der zentralen Bildungseinrichtung der niedersächsischen Polizei, der Polizeiakademie Niedersachsen, kurz „PA NI“, waren somit von heute auf morgen nicht mehr zu erreichen. Zumindest nicht vor Ort. Ein Umstand, mit dem die PA NI nicht allein im bundesweiten Vergleich dastand. Es galt, alternative Wege zur Wissens- und Kompetenzvermittlung zu finden und zu nutzen. Aufgrund der stringenten curricularen Abläufe und Verbindlichkeiten eines akkreditierten Studienganges musste der Fortgang des Lehrbetriebes im Studium zunächst prioritär in den Fokus genommen werden.


Mit der Lern-Management-Software Stud.IP stand bereits eine insbesondere im Studium seit Längerem genutzte Plattform zur Verfügung. Jedoch reduzierte sich bis dato die Nutzung dieser grundsätzlich sehr umfassenden Plattform maßgeblich auf das zur-Verfügung-Stellen von Dateien und einzelnen E-Learning-Angeboten. Dabei muss zudem eingestanden werden, dass E- Learning-Angebote in der damaligen Ausgestaltung nur vereinzelt aus ihrem Dornröschen-Schlaf erweckt werden konnten. Weitere digitale, die Lehre unterstützende Angebote, wie z. B. elektronisch auswertbare Klausuren, wurden seit strategischer Schwerpunktsetzung der PA auf die Digitale Lehre in 2018 pilotiert, aber maßgeblich auf ein Präsenzerfordernis fokussiert. Kurzum: Digitale Wissensvermittlung in der Lehre war zum damaligen Zeitpunkt eher eine Absichtserklärung als gelebte Praxis.

Videokonferenzsysteme als Lösung?

Die Plattform Stud.IP erwies sich jedoch nach unterschiedlichen Alternativversuchen in der Folge als das zentrale digitale Element in der Corona-Pandemie. Mit der integrierten Videokonferenz-Software „Big-BlueButton“ erfolgten seitdem nahezu alle Vorlesungen online. War in den Sommermonaten die Zuversicht der dauerhaften Besserung groß, ermöglichte diese Software nach erneutem Lockdown in der zweiten Jahreshälfte in 2020 die Durchführung von mehreren zehntausend vormals in Präsenz geplanten Lehrstunden. Der Bereich der Fortbildung mit seinen rund 700 Veranstaltungen für ca. 11.000 Teilnehmende im Jahr wurde zwar in der zeitlichen Abfolge nach der digitalen Ertüchtigung des Studiums, aber nicht minder wichtig betrachtet. War im Bereich des Studiums die ganzheitliche Flexibilität in der Nutzung technischer Systeme größer, bedurfte es in der Fortbildung einer umfassenderen Bewertung des zu nutzenden Systems. Dabei waren insbesondere die Restriktionen der IT-Struktur, die technische Ausstattung der Fortbildungsteilnehmer, die heterogene digitale Medienkompetenz – sowohl in der Vermittlung aber auch in dem Konsum digitaler Medien – und nicht zuletzt die allgemeine Bereitschaft, sich einer digitalen Wissensvermittlung zu öffnen, zu berücksichtigen. Mit der polizeinetzinternen Einführung der Videokonferenz-Software VITERO wurde eine Lösung gewählt, die zunehmend mehr Akzeptanz in ihrer Anwendung findet. Somit stehen in den beiden maßgeblichen Säulen der polizeilichen Bildungsarbeit Niedersachsens zwei elementare Systeme zur Verfügung, die digitale Lehre bzw. Wissensvermittlung ohne Präsenzerfordernis ermöglichen. Ohne dem später dargestellten Ausblick auf die Möglichkeiten künftiger Wissensvermittlung vorwegzugreifen, bieten die bisher erlangten Erfahrungen bereits ausreichend Material für einen ersten Zwischenstand im Rahmen „digitaler Lehre“.

Dabei sind verschiedene Faktoren zu berücksichtigen. Die technischen Herausforderungen bei der Implementierung derartiger Softwarelösungen sind umfassend. Insbesondere die IT-Sicherheitsinfrastrukturen und die damit einhergehenden Restriktionen machen die Einrichtung derartiger digitaler Konferenzsysteme – insbesondere, wenn es um die Einbindungsmöglichkeit von Teilnehmenden außerhalb des Polizeinetzes geht – kompliziert. Für alle mit dem System arbeitenden Personen bedarf es umfassender Qualifizierungen aus mediendidaktischer Perspektive. Hierunter sind nicht nur der Umgang mit den Funktionalitäten selbst zu verstehen, sondern insbesondere die Fähigkeit, die relevanten Lehrinhalte zielgruppengerecht zu konzeptionieren, digital aufzubereiten und in der Folge zu vermitteln. Ebenso muss auch die Bereitschaft für und das Verständnis von einer nahezu gänzlich anderen Art der Wissensvermittlung als „in Präsenz“ bei allen Beteiligten erreicht werden. Diese Art des Kulturwandels benötigt in unterschiedlichem Maße Zeit. Zeit, die im Rahmen der Corona-Situation nicht immer im ausreichenden Maße vorhanden war und ist. Eine Herausforderung, die, wenn auch in der Aufzählung der bisher erlangten Erfahrungen am Ende aufgezählt wird, aber mit Blick auf die Meta-Ebene wohl eine der entscheidendsten ist. Durchgeführte Evaluationen zeigen, dass die Nutzung digitaler Systeme zur präsenzfreien Lehre im Rahmen der Corona-Pandemie weitgehend akzeptiert wurde. Die Bereitschaft und Flexibilität zur Nutzung dieser Möglichkeiten war entsprechend hoch. Ein Wert, der aber insbesondere von der Performance und Stabilität der genutzten Systeme abhängig war. Der Kompetenzzuwachs über digitale Medien wurde durch Studierende durchschnittlich, durch die Lehrenden etwas höher bewertet. Gleichwohl spiegeln die im Zusammenhang mit der Corona-Situation getätigten Aussagen den Diskurs wider, der bereits oben angesprochen wurde. Auch hier ist zu erkennen, dass die aktuell vorherrschende Alternativlosigkeit die Bereitschaft für digitale Medien unterstützt.

Digitale Bildungsarbeit heißt nicht nur Videokonferenzen

Die Möglichkeiten künftiger (digitaler) Lehre nur anhand von einzusetzenden Videokonferenzsystemen zu messen, greift jedoch zu kurz. Es geht auch nicht darum, analoge bzw. in Präsenz gehaltene Formate 1:1 in die digitale Welt zu transformieren. Vielmehr geht es darum, digitale Möglichkeiten dort zu nutzen, wo sie gewinnbringend sind, um sie mit den bewährten Elementen der Präsenzlehre zu kombinieren. So zeigten sich in den angesprochenen Evaluationen des digitalen Studiums bemerkenswerte Ergebnisse. Waren Online-Plenumsveranstaltungen zwar das am häufigsten genutzte Mittel, so überzeugten Lerninhalte „on demand“ die Studierenden am ehesten. Besprochene PowerPoint-Präsentationen, Videopodcasts sowie Audiopodcasts, didaktisch sinnvoll über Plattformen wie Courseware bereitgestellt, erzeugten die höchste Zufriedenheit und Akzeptanz bei den Studierenden. Die Möglichkeit der Abrufbarkeit der Lehrinhalte „bei Bedarf “ brachte den Studierenden mehr Flexibilität, aber auch mehr Eigenverantwortung. Insbesondere diese Kombinationsmöglichkeit von „Wissen auf Abruf “ – zweifelsohne von inhaltlicher, didaktischer und nicht zuletzt optischer Qualität – mit Elementen des persönlichen (digitalen) Austausches scheinen die eingangs formulierte These zu unterstützen. Dabei soll nicht verkannt werden, dass sich die Studierenden trotz all dieser Flexibilität nach einem geleiteten Lernen im Sinne eines synchronen Lernens aussprechen.

Der nächste Schritt – Enterprise Social Network

Protegiert von diesem Rückenwind des „hybriden Lernen on demand“ wurde Ende November 2020 mit der Einführung eines Enterprise Social Networks (ESN) ein weiterer Meilenstein in der zeitgemäßen Bildungsarbeit der Polizei Niedersachsen erreicht. Unter dem Namen „Null1|5“ ist für alle Beschäftigten der Polizei Niedersachsen ein System eingeführt worden, über das Wissen kollaborativ und sozial-interaktiv erarbeitet sowie orts- und zeitunabhängig verfügbar gemacht werden kann. Null 1|5 löst somit das bisherige Intranet ab und setzt mit seiner Social-network-Komponente neue Maßstäbe in der hierarchieübergreifenden Kommunikation sowie dem Wissensmanagement. Zur Einordnung dieses Systems in die Bildungslandschaft der Polizei Niedersachsen bedarf es zunächst einer Klärung des Begriffs „Fortbildung“.

Dieser ist im Kontext eines Enterprise Social Networks und dem in diesem Zusammenhang zumeist verwendeten Begriff „Wissensmanagement“ weit zu sehen. So bietet Null1|5 die Möglichkeit, einen weiteren Beitrag in künftiger Wissensvermittlung und somit auch Fortbildung zu leisten. Durch die strukturierte Nutzung der dortigen Kanäle wie Blogs, Wikis und Foren können insbesondere fachtheoretische Fortbildungsinhalte als Video-podcasts, Audiopodcasts oder Textbeiträge adressatengerecht zur Verfügung gestellt werden. Dabei reichen die Videopodcasts von vertonten Power-Point-Präsentationen über Green- Screen-Produkte bis hin zu aufgezeichneten Streaming-Veranstaltungen. Audiopodcasts können mittlerweile in speziell für die Audioaufnahme beschafften Schallschutz-Audiokabinen aufgenommen werden. Durch eine Verzahnung der auf Null1|5 zur Verfügung gestellten Inhalte mit dem bisherigen Fortbildungsangebot in Präsenz wird sich das Verständnis von Fortbildung verändern (müssen). So wird das Wissen dann abgerufen werden können, sobald es für die originäre Aufgabenerfüllung erforderlich ist. Gleichwohl wird die Erwartungshaltung bestehen, den eigenen – nicht nur für eine erfolgreiche Teilnahme an Präsenzveranstaltungen erforderlichen Wissenstand – unterjährig über die jeweils relevanten Blogs und Wikis aktuell zu halten.

Mehr Eigenverantwortung beim „lebenslangen Lernen“

Diese Art der Wissensvermittlung bedeutet auch mehr Selbstverantwortung in der Wissenserlangung. Die Beschäftigten sind aufgerufen, den für ihren Alltag relevanten Blogs zu folgen. Sie sollten bei ungeklärten Fragestellungen in Foren nach bereits erfolgten Antworten recherchieren oder die entsprechenden Wiki-Artikel lesen. Dieses Maß der Eigenverantwortung schafft die Möglichkeit der besseren Adressatenfokussierung von Wissen. Aber auch hier wird ein organisationskultureller Wandel im Umgang mit Wissen deutlich. Dieser Gedanke des „Pull-Prinzips“ funktioniert nur, wenn den Beschäftigten ausreichend Freiraum für diese Art der Wissensaneignung gegeben wird.

Den Führungskräften wird hier eine besondere Rolle zuteil. Des Weiteren wird bereits seit der Einführungsphase des Systems der kritische Diskurs geführt, wie in einem System, in dem allen Beteiligten dem Grunde nach die Möglichkeit haben, nach eigenem Ermessen ihr Wissen, ihre Meinungen und ihre Informationen kundzutun, gesichertes (im Sinne von zitierfähiges) Wissen bereitgestellt werden kann. Neben dem Fundament aller qualifizierten Beschäftigten wurden über die mit der institutionalisierten Fortbildung beauftragten Stellen entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen. So werden durch die Fortbildungsverantwortlichen die jeweils in der Fortbildung abgebildeten Themen in eigens dafür eingerichteten Blogs oder Wiki-Artikeln veröffentlicht. Um das Wissen nicht (immer) selbst zur Verfügung stellen müssen, knüpfen sie Netzwerke mit den Personen in der Polizei Niedersachsen, die über dieses spezifische Wissen verfügen. Gemeinsam werden die Blogs, Foren und Wikis erstellt, moderiert und inhaltlich erweitert. Dadurch verändert sich das Rollen- und Aufgabenverständnis der in der Fortbildung tätigen Personen zunehmend. Die Verlagerung der fachtheoretischen Wissensvermittlung in den digitalen Raum auf null1/5 schafft wiederum Freiräume in den Präsenzseminaren, die für die Aspekte genutzt werden können, bei denen eine tatsächlich physische Anwesenheit unerlässlich ist (z. B. Trainings, Netzwerkarbeit, Coachings).

Fazit

Die Formulierung eines Fazits wird dem Diskurs, der im Bereich der künftigen Ausgestaltung der (digitalen) Bildungsarbeit nicht gerecht. Vielmehr kann es aufgrund der Dynamik und der Unverkennbarkeit, dass dieser Prozess bei weitem noch nicht zu Ende ist – wenn er es überhaupt sein kann – lediglich nur ein Zwischenfazit sein. Dennoch darf festgestellt werden, dass sowohl im Bereich der Ausbildung als auch in der Fortbildung die Möglichkeiten digitaler Wissensvermittlung nicht mehr wegzudenken sind. Forciert durch die gegenwärtige und nunmehr seit rund einem Jahr andauernde Corona-Pandemie wurde dieser Wandlungsprozess der Organisation bisweilen aufgezwungen. Aufgezwungen mit der Konsequenz, dass Mensch und insbesondere Technik nicht immer Schritt halten konnten. Das führte – insbesondere im Rahmen des alltäglichen Wirkens – auf vielen Seiten zu Unzufriedenheit. Unzufriedenheit, die sich maßgeblich auf die Akzeptanz und mittelbar auch auf den Lehr- bzw. Lernerfolg ausweiteten. Eine Erkenntnis, die wohl einen nicht ganz unerheblichen Beitrag zum Diskurs hin zu „back to the roots“ leistet.

Hätten die Lehren des Changemanagements mehr Gültigkeit gehabt, wäre dem organisationskulturellen Wandel der lernenden Organisation Polizei mehr Zeit gegeben worden. Den zutage getretenen Problemen wäre so vielleicht besser entgegengewirkt worden. In Ermangelung dieser nicht zurückzuholenden Zeit gilt es nun, den Blick nach vorne zu richten. Dabei hilft es nicht, den Blick vor den (digitalen) Novellierungen zu verschließen. Vielmehr bedarf es der stabilen, ausgereiften Technik, eines qualifizierten Personals und nicht zuletzt einer klaren Orientierung. Dabei bezieht sich diese Orientierung nicht nur auf die zu verwendenden Tools und Technik. Vielmehr bedarf es der entsprechenden Leitlinien in der strategischen Ausrichtung, die durch alle entscheidenden und gestaltenden Personen mitgetragen wird.

 

Erschienen im DPolBl 3/2021

 

 

Till Maurer

Polizeioberrat, Hannover
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