06.05.2020

Die extensive Geldpolitik der EZB vor Gericht

Abwägungspflicht der Zentralbank bei Ankaufprogrammen

Die extensive Geldpolitik der EZB vor Gericht

Abwägungspflicht der Zentralbank bei Ankaufprogrammen

Inhaltlich wie stilistisch kann man das Urteil für einen Paukenschlag oder einen Versuch der Gesichtswahrung halten. 
       | © fotowunsch - stock.adobe.com
Inhaltlich wie stilistisch kann man das Urteil für einen Paukenschlag oder einen Versuch der Gesichtswahrung halten. | © fotowunsch - stock.adobe.com

Die aktuelle Debatte um sog. Corona-Bonds lenkt etwas davon ab, dass die indirekte Form der Vergemeinschaftung von Schulden bereits seit der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise über die Anleihekaufprogramme der Europäischen Zentralbank (EZB) in gewaltigem Umfang erfolgt ist und absehbar noch erweitert wird.

Verbot der Staatsfinanzierung

Der Ankauf von Staatsanleihen durch die Notenbank hat einen Nebeneffekt: Wenn alle Marktteilnehmer wissen, dass sie Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt – also nicht von den Emittenten direkt – immer wieder an die EZB weiterverkaufen können, steigt die Nachfrage nach diesen Schuldtiteln. Daher sinken die Zinsen, die Staaten für neue Anleihen zahlen müssen. Dieser Effekt führt zu einer Marktverzerrung, da Staaten sich zu marktuntypisch günstigen Konditionen Geld am Finanzmarkt leihen können und die EZB somit indirekt diese Staaten finanziert. Daher verbietet der Vertrag von Maastricht die monetäre Haushaltsfinanzierung von Mitgliedstaaten durch die EZB insbesondere durch den Kauf von Schuldtiteln am Primärmarkt, d.h. direkt bei den Staaten.

Wegfall von Limitierungen

Bis zuletzt geltende weitere Restriktionen wurden jedoch aktuell zur Bekämpfung der ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie beseitigt. So durfte die EZB zum Beispiel bislang keine Anleihen Griechenlands kaufen, da die Bonität des Landes zu schlecht ist. An Griechenlands Kreditwürdigkeit hat sich zwar nichts geändert, aber wie sagte die EZB-Chefin Christine Lagarde jüngst ganz klar: „Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen“. Sollte Griechenland als Schuldner ausfallen, blieben die übrigen 18 Mitgliedstaaten der Euro-Zone über ihre Anteile an der EZB auf den dann wertlosen Papieren sitzen. Noch bedeutender ist jedoch die Aufhebung des Kapitalschlüssels als Grundlage für Anleihekäufe im Rahmen ihres neuen „Pandemic Emergency Purchase Programme“ (PEPP) im Umfang von 750 Mrd. €. Bisher durfte die EZB während des ebenfalls noch laufenden „Public Sector Purchasing Programme“ (PSPP) Staatsanleihen einzelner EU-Länder nur in Höhe des Anteils der Staaten am Grundkapital der Europäischen Zentralbank erwerben. Der Kapitalschlüssel wird je zur Hälfte anhand des Anteils eines Landes an der Gesamtbevölkerung und dem Bruttoinlandsprodukt der EU errechnet. Gehören beispielsweise 10 Prozent der EU-Bevölkerung zu einem Land, das 20 Prozent der gesamten EU-Wirtschaftsleistung erbringt, dann liegt der Kapitalschlüssel bei 15 Prozent. Der Anteil Deutschlands am Grundkapital der EZB betragt 26,8 Prozent, der Italiens nur 16,5 Prozent. Die EZB durfte also bisher im Rahmen ihrer Anleihekäufe nie mehr als diesen Anteil Italiens an der EZB erwerben, sodass im Falle einer Staatspleite die Haftung der EZB auf diesen Anteil beschränkt bliebe. Dieses Limit existiert nun nicht mehr.


Schon jetzt besteht das Problem des Länderschlüssels in der Differenz zwischen dem Eigenkapital der EZB in Höhe von 10,8 Mrd. Euro und dem Volumen ihrer Bilanz in Höhe von 4,8 Billionen Euro, die durch bereits gekaufte Anleihen von Staaten, Banken, Unternehmen und der Immobilienwirtschaft extrem aufgebläht wurde. Der von Italien eingezahlte Anteil am Grundkapital der EZB deckt schon lange nicht mehr die Risiken, die aus dem Volumen der von der EZB gehaltenen italienischen Staatsanleihen resultieren. Dieses Problem wird sich nun durch die Aufhebung des Länderschlüssels noch weiter verschärfen.

Zudem soll es künftig möglich sein, dass die Notenbank insgesamt auch mehr als ein Drittel der Staatsanleihen eines Eurolandes aufkauft. Gerade der Wegfall dieses Limits ist juristisch heikel, da der Europäische Gerichtshof Ende 2018 in seinem Urteil zu den EZB-Anleihekäufen (C-493/17) ausdrücklich auf die Kaufobergrenzen als rechtfertigendes Kriterium hingewiesen hatte.

Urteilsschelte aus Deutschland

In Deutschland ist zum PSPP am 05. Mai 2020 ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts verkündet worden (2 BvR 859/15). Anlass waren vier Verfassungsbeschwerden aus den Jahren 2015 und 2016. Geklagt hatten unter anderen der frühere CSU-Vizeparteichef Peter Gauweiler sowie die Ex-AfD-Politiker Bernd Lucke und Hans-Olaf Henkel. Eine weitere Klägergruppe wurde von dem Berliner Finanzwissenschaftler Markus Kerber vertreten. Neben dem Mandat der EZB und dem Verbot der monetären Staatsfinanzierung ging es dabei auch um die Frage, ob die sich aus dem PSPP ergebende Verlustverteilung das Budgetrecht des Deutschen Bundestages beeinträchtige.

Nach diesem Urteil dürfen sich Kläger und Beklagte gleichermaßen als Gewinner und Verlierer fühlen. Zum einen sieht Karlsruhe (bei einem Ankauflimit von einem Drittel noch) keinen offensichtlichen Verstoß gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung, zum anderen moniert es jedoch die fehlende Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Hier hätten Geeignetheit und Erforderlichkeit des PSPP abgewogen werden müssen mit dem wirtschaftspolitischen Kompetenzverlust der Mitgliedstaaten. Denn die EZB hatte das Programm allein damit begründet, dass ihr Inflationsziel von knapp zwei Prozent anderweitig nicht erreichbar sei. Insbesondere die Auswirkungen des Ankaufprogramms etwa auf die Staatsverschuldung, Sparguthaben, Altersvorsorge, Immobilienpreise und das Überleben wirtschaftlich nicht überlebensfähiger Unternehmen wäre – im Rahmen einer wertenden Gesamtbetrachtung – zu dem angestrebten und erreichbaren währungspolitischen Ziel in Beziehung zu setzen gewesen. Damit habe er auf eine effektive Kompetenzkontrolle der EZB verzichtet. Diese sei aber wegen deren abgesenkten demokratischen Legitimationsniveaus umso notwendiger. Karlsruhe sieht das EuGH-Urteil als „schlechterdings nicht nachvollziehbar“ und qualifiziert es – zum ersten Mal in seiner Geschichte – als ausbrechenden Rechtsakt (Ultra vires), der in Deutschland keine Bindungswirkung entfaltet. In einem neuen Beschluss muss nun der EZB-Rat innerhalb von drei Monate nachvollziehbar darlegen, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen. Danach wäre es der Bundesbank andernfalls untersagt, bestandserweiternde Ankäufe von Anleihen zu tätigen oder sich an einer abermaligen Ausweitung des monatlichen Ankaufvolumens zu beteiligen.

Nach dem Urteil ist vor dem Urteil

Inwiefern sich das jüngste Urteil auf ganz aktuelle Corona-Hilfsprogramme der EZB auswirkt, ist noch offen. Das BVerfG hat der Bundesregierung und dem Bundestag damit jedoch Maßstäbe und Beobachtungspflichten auferlegt, an denen sich auch andere Finanzierungsinstrumente wie das PEPP messen lassen müssen. Gerade durch die dortige Aufhebung der Limitierungen droht die Geldpolitik nämlich noch mehr als bisher die Grenzen ihrer Legitimität zu überdehnen und macht das, wovor Politiker in Nordeuropa zurückschrecken. Ohne diese Unterstützung drohten die Renditen für Staatsanleihen der hoch verschuldeten Südländer im Zuge der Corona-Krise zu explodieren und Banken reihenweise bankrott zu gehen. Ein Wiederausbrechen der Eurokrise konnte die EZB damit bislang verhindern. Doch die Staatsverschuldung Italiens und Spaniens steigt im Zuge der Corona-Krise sprunghaft weiter an. Über die Anteile der nördlichen Währungsunion an der EZB verteilen sich diese wachsenden Kreditrisiken auch auf sie. Damit ist die Gemeinschaftshaftung aller Mitgliedsstaaten über die Hintertür der EZB bereits Realität geworden – ohne nennenswerte demokratische Legitimation und ohne die Einführung von Corona-Bonds.

Fazit

Inhaltlich wie stilistisch kann man das Urteil für einen Paukenschlag oder einen Versuch der Gesichtswahrung halten. Trotz der deutlichen Worte hat Karlsruhe eine komplette Konfrontation mit dem EuGH vermieden und die Verantwortung der deutschen Verfassungsorgane angemahnt. An den Finanzmärkten hatten viele offenbar noch schwerere Kost befürchtet. Die praktischen Folgen werden sich denn auch zunächst in Grenzen halten. Der EZB wird nichts anderes übrigbleiben, als der ihr auferlegten Begründungspflicht nachzukommen. Dem könnte sie allerdings formal genüge tun, ohne dass sich an ihrer Selbstermächtigung sowie der ökonomischen Natur ihrer Ankaufprogramme wesentliche Änderungen ergeben.

Vielleicht liegt darin aber auch die Chance der EZB, dass sie negative Effekte ihrer Geldpolitik im Blick hat und transparent kommuniziert. Dann könnte dies die Akzeptanz ihrer Programme, gerade im kritischen Deutschland, steigern.

 

Michael Heinrich

Dozent an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Bundeswehrverwaltung in Mannheim
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