15.03.2012

Der „relative” Unternehmensbegriff

Öffentliche Unternehmen und die Aufsicht der Kartellbehörden

Der „relative” Unternehmensbegriff

Öffentliche Unternehmen und die Aufsicht der Kartellbehörden

Rekommunalisierung als Möglichkeit zur Vermeidung der kartellrechtlichen Aufsicht? | © Thomas Jansa - Fotolia
Rekommunalisierung als Möglichkeit zur Vermeidung der kartellrechtlichen Aufsicht? | © Thomas Jansa - Fotolia

Es ist bemerkenswert: Der Begriff des (öffentlichen) Unternehmens, die Anwendung des Kartellrechts „auf Unternehmen, die ganz oder teilweise im Eigentum der öffentlichen Hand stehen oder die von ihr verwaltet oder betrieben werden”, und das Recht der Kartellbehörden, von Unternehmen Auskunft über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse zu verlangen, gelten seit Inkrafttreten des GWB am 1. Januar 1958.

Dennoch ist die Reichweite des Kartellrechts hinsichtlich der Tätigkeiten der öffentlichen Hand keineswegs geklärt. Derzeit ist die Wasserwirtschaft ein zentraler Schauplatz in diesem Streit.

Ausgelöst durch Untersuchungen insbesondere der Landeskartellbehörden und im Grundsatz höchstrichterlich gebilligt durch die Entscheidung „Wasserpreise Wetzlar” des BGH vom 2. Februar 2010 prüfen die Kartellbehörden die Angemessenheit der Preise diverser Wasserversorger.


Inwieweit die Wasserwerke, soweit sie öffentlich-rechtlich organisiert sind, auch der Aufsicht und dem Zugriff der Kartellbehörden unterliegen, ist Gegenstand mehrerer ober- und höchstrichterlicher Entscheidungen der letzten Monate.

Im Folgenden sollen einige dieser Entscheidungen kurz geschildert und dabei auch auf die derzeit vorbereitete 8. GWB-Novelle eingegangen werden. Anschließend wird ein Blick auf die Situation unter europäischem Kartellrecht geworfen, bevor abschließend die aktuelle Lage zusammengefasst und gewürdigt wird.

Aktuelle Entscheidung des BGH Kürzlich hatte der Bundesgerichtshof (BGH) über die Wirksamkeit eines Auskunftsverlangens des Bundeskartellamtes hinsichtlich der Informationen über Entgelte, Kosten und Erlöse an den Niederbarnimer Wasser- und Abwasserzweckverband zu entscheiden (jüngst veröffentlicht, BGH, Beschluss vom 18. 10. 2011, KVR 9/11). Mit Hilfe dieser Auskünfte möchte sich das Bundeskartellamt eine Vergleichsbasis in seinem Missbrauchsverfahren gegen die Berliner Wasserbetriebe schaffen. Der angeschriebene Zweckverband erhebt für sein Trinkwasser Gebühren auf der Grundlage einer kommunalen Satzung. Außerdem besteht in seinem Gebiet ein Anschluss- und Benutzungszwang für den gesamten Wasserbedarf.

Die generelle Anwendbarkeit des Kartellrechts auf öffentlich-rechtlich organisierte Wasserversorger, deren Leistungsbeziehungen zu den Abnehmern ebenso öffentlich-rechtlich ausgestaltet sind (wenn also Gebühren erhoben statt Preise verlangt werden), lässt der BGH ausdrücklich offen. Diese Frage sei „bislang nicht geklärt”. Er beschränkt sich auf die für den konkreten Fall entscheidende Aussage, dass ein Auskunftsbeschluss gegen einen öffentlich-rechtlichen Versorger jedenfalls insoweit zulässig sei, wie die Körperschaft neben ihrer hoheitlichen Tätigkeit auch in Wettbewerbsbeziehungen zu anderen Unternehmen stehe. Dafür genüge es, dass der Kommunalversorger „gleichartig” im kartellrechtlichen Sinne mit dem untersuchten Betrieb (hier also die Berliner Wasserbetriebe) sei. Dies sei für die ordnungsgemäße Erfüllung der Aufgaben des Bundeskartellamtes erforderlich. Auf die Ausgestaltung der Leistungsbeziehungen komme es für die Zulässigkeit eines Auskunftsverlangens nicht an. Jedenfalls „relativ” zu den für einen Auskunftsbeschluss maßgeblichen „gleichartigen” Unternehmen sei der Zweckverband als „Unternehmen” zu qualifizieren. Mit seinem Beschluss hebt der BGH die in der Vorinstanz ergangene Entscheidung des OLG Düsseldorf auf, die exakt der gegenteiligen Ansicht war, nämlich dass die öffentlich-rechtliche Rechtsbeziehung und der Anschluss- und Benutzungszwang die Unternehmenseigenschaft ausschließe (OLG Düsseldorf vom 08. 12. 2010 – VI-2 Kart 1/10 (V)).

OLG Frankfurt zur Rekommunalisierung

Weitreichender hinsichtlich der Anwendung des Kartellrechts auf Gebühren erhebende Wasserversorger hat sich das OLG Frankfurt a. M. geäußert. Nachdem die privatrechtlich organisierte enwag GmbH 2007 Adressatin einer ersten Missbrauchsverfügung der Landeskartellbehörde gewesen war und ihre Preise um ca. 30 % zu senken hatte, strukturierte die Gemeinde Wetzlar ihre Wasserversorgung in einen kommunalen Eigenbetrieb um. Seit dem 01. 01. 2011 verpachtet die enwag GmbH die Wasserversorgungsanlagen an die Stadt und ist von ihr mit der Betriebsführung lediglich beauftragt. Die Wasserversorgung erfolgt nun auf öffentlich-rechtlicher Grundlage mittels Gebührenerhebung. Anlässlich weiterer Untersuchungen erließ die Kartellbehörde im April 2011 einen Auskunftsbeschluss gegen die Stadt Wetzlar, gerichtet auf Preiskalkulation u. a.

Auf einen entsprechenden Antrag der Stadt ordnete das OLG Frankfurt a. M. die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen den Auskunftsbeschluss an (OLG Frankfurt a. M. vom 20. 09. 2011 – 11 W 24/11). Die Stadt Wetzlar als Betreiberin der Wasserversorgung in Form eines kommunalen Eigenbetriebs selbst sei kein Unternehmen im Sinne des GWB, jedenfalls wenn Gebühren erhoben würden und Anschluss- und Benutzungszwang bestehe (hier zitiert das OLG Frankfurt a. M. den inzwischen aufgehobenen Beschluss des OLG Düsseldorf, s. o.). Insoweit dürfte auch die Entscheidung des OLG Frankfurt überholt sein. Aber das Gericht beschränkt sich nicht auf den Zusammenhang des Auskunftsverlangens, sondern zitiert – angesichts des Streitgegenstandes offenbar obiter dictum – quasi allgemeingültig den Gesetzgeber von 1997: „…darüber hinaus findet das Kartellrecht ohnehin in den zahlreichen Fällen keine Anwendung, in denen die Versorgung von Endverbrauchern öffentlich-rechtlich ausgestaltet ist” (BT-Drs. 13/3720, S. 70). Dennoch ordnet das OLG der Stadt Wetzlar im Ergebnis Unternehmenseigenschaften zu, nämlich kraft gesetzlicher Fiktion wegen ihrer Mehrheitsbeteiligung an der weiterhin privatrechtlich organisierten enwag GmbH.

Die Ansicht, dass Gebühren erhebende Versorger nicht dem Kartellrecht unterliegen, greift das OLG in seiner Entscheidung später aber wieder auf. Denn schließlich ordnet es die aufschiebende Wirkung der Beschwerde des Versorgers an, weil es die von der Kartellbehörde verfolgte Untersuchung einer möglichen Umgehung des Kartellrechts im Wege der „Rekommunalisierung” für bedenklich hält. Es sei nämlich „völlig legitim, unter mehreren zulässigen rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten diejenige zu wählen, mit der sich bestimmte unerwünschte Rechtsfolgen vermeiden lassen. (…). Ein allgemeines kartellrechtliches Umgehungsverbot gibt es daher nicht.”

Rekommunalisierung also zulässig?

Damit widersprechen sich die Entscheidungen des BGH und des OLG im Ergebnis nicht. Zwar fallen sie hinsichtlich des Unternehmensbegriffs im Rahmen von Auskunftsverlangen auseinander. Der BGH beschränkt aber seine Entscheidung auf den Unternehmensbegriff „in Relation” zum Auskunftsverlangen und das OLG kommt in diesem Punkt (wenn auch mit abweichender Begründung, nämlich der Konzernfiktion) zum gleichen Ergebnis. In seiner Entscheidung über die Zulässigkeit einer Rekommunalisierung, d. h. Verneinung sowohl der Unternehmenseigenschaft eines hoheitlichen Wasserversorgers mit Anschluss- und Benutzungszwang als auch einer unzulässigen Umgehung, behält das OLG mangels Äußerung des BGH bis auf Weiteres das letzte Wort.

Bundeskartellamt für einheitliche Aufsicht

Das Bundeskartellamt strebt angesichts dieser verbleibenden Rechtsunsicherheit einen gesetzlich geregelten Zugriff auch auf öffentlich-rechtliche oder „rekommunalisierte” Wasserversorger an. Wiederholt hat es den Gesetzgeber aufgefordert, im Rahmen der anstehenden 8. GWB-Novelle eine entsprechende Regelung aufzunehmen. Die „geteilte Aufsicht”, also Kommunalaufsicht über hoheitliche und Kartellaufsicht über private Wasserversorger, sei zu beenden, da sie aus Verbrauchersicht nicht zu rechtfertigen sei. Nach derzeitigem Stand plant der Gesetzgeber allerdings nicht, den Wünschen des Bundeskartellamtes zu entsprechen. Das BMWi hat sich wiederholt dagegen ausgesprochen, die Kompetenzzuteilung gesetzlich anzupassen.

Allerdings sollen nach der Begründung des vorliegenden Referentenentwurfs für eine 8. GWB-Novelle Auskunftsverlangen für Vergleichsbetrachtungen der Kartellbehörden – insoweit in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BGH – auch an Gebühren erhebende Wasserversorger gerichtet werden können (Referentenentwurf, Stand: 10. 11. 2011, S. 36). Im Wortlaut des Gesetzentwurfs spiegelt sich dieser Anwendungsbereich nicht ausdrücklich wider (es ist die Rede von „Unternehmen und Vereinigungen von Unternehmen”).

Vielmehr verweist die Entwurfsbegründung auf den „einheitlichen Unternehmensbegriff”, mit dem die Einbeziehung auch der Gebühren erhebenden Wasserversorger im Einklang stehe. Der „einheitliche Unternehmensbegriff” reicht allerdings über die Vorschriften zu den Auskunftsrechten der Behörden hinaus. Unter Verweis auf einen einheitlichen Unternehmensbegriffs läge der Zugriff auf diese öffentlich-rechtlichen Versorger auch im Rahmen der Missbrauchsaufsicht bereits nach geltendem Recht nahe.

Blick auf das Europäische Recht

Die Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts setzt eine „zwischenstaatliche” Dimension des Sachverhalts voraus. Diese liegt für Auskunftsverlangen an den Niederbarnimer Zweckverband, nördlich von Berlin im Brandenburgischen gelegen, oder die Wasserversorgung in Wetzlar eher fern. Dennoch sind Sachverhalte in der Wasserwirtschaft mit zwischenstaatlichem Bezug, etwa in grenznahen Gebieten oder im Zusammenhang mit EU-weiten Ausschreibungen, denkbar. Zudem stellt sich auch für rein nationale Sachverhalte angesichts der weitgehenden Harmonisierung von nationalem und deutschem Kartellrecht seit 2005 die Frage nach der Möglichkeit unterschiedlicher Bewertungen nach den Regeln beider Ebenen.

Der Gesetzgeber hat seinerzeit das Ziel formuliert, dass einzelne Vorschriften des deutschen Kartellrechts in inländischen und grenzüberschreitenden Sachverhalten nicht unterschiedlich interpretiert werden sollten (BT-Drs. 15/3640, S. 32 zum „Gleichklang” der Vorschriften). Die unmittelbar vorgesehene Regelung des „Gleichklangs” über die „europafreundliche Anwendung” ist 2005 zwar letztlich im Vermittlungsausschuss gescheitert. Es besteht aber weitgehend Einigkeit darüber, dass die möglichst einheitliche Anwendung der kartellrechtlichen Vorschriften zentrales Ziel des Gesetzgebers war und ist. Ein deutscher „Sonderweg” hinsichtlich des Unternehmensbegriffs ist nach dem Willen des Gesetzgebers möglichst zu vermeiden (für den Bereich der wettbewerbsbeschränkenden Absprachen ist dies sogar ausdrücklich geregelt, § 22 GWB).

Wie behandelt nun das europäische Kartellrecht kommunale Wasserversorger, die auf Grundlage einer Satzung und eines Anschluss- und Benutungszwangs tätig sind? Auch für die Art. 101 AEUV ff. gilt ein funktionaler Unternehmensbegriff, der „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung” umfasst. Auch hier ist die einzelne bestimmte wirtschaftliche Tätigkeit maßgeblich („relativer” Unternehmensbegriff). Damit sind alle Tätigkeiten der öffentlichen Hand erfasst, die keine Ausübung von Hoheitsgewalt sind. Letzterer Bereich wird dabei tendenziell eng gefasst (z. B. Polizei, Strafvollzug, Militär, grundlegende Schulbildung). Die Ausgestaltung der Leistungsbeziehung ist in der Regel irrelevant. So wurden auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk oder die früheren „Postämter” als Unternehmen behandelt. Generell gilt für die europäische Unternehmenseigenschaft, dass diese naheliegt, wenn die Tätigkeit auch durch ein privates Unternehmen ausgeübt werden könnte. In dem aktuellen Richtlinienentwurf der Europäischen Kommission über die Konzessionsvergabe heißt es: „Um bei der Anwendung der Konzessionsvergabevorschriften in den Bereichen der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste eine wirkliche Marktöffnung und ein angemessenes Gleichgewicht zu erreichen, dürfen die von der Richtlinie erfassten Einrichtungen nicht aufgrund ihrer Rechtsstellung definiert werden.” (KOM(2011) 897 endg. vom 20. 12. 2011, Rn. 11) In der Zusammenschlusskontrolle werden Wasserversorgungsunternehmen regelmäßig als Unternehmen behandelt (z. B. in dem Fall MIDEWA / Stadtwerke Halle / Fernwasser Sachsen-Anhalt aus dem Jahr 2004 [Fall M.3550]), in dem teilweise auch Anschluss- und Benutzungszwang galt. Hochaktuell kann auf parallele Wertungen des Bundesfinanzhofs im Bereich der Umsatzbesteuerung wirtschaftlicher Betätigungen der Kommunen verwiesen werden. In seinem Urteil vom 10. 11. 2011 (veröffentlicht am 15. 2. 2012) qualifiziert der BFH unter Verweis auf die europäische Rechtslage die Tätigkeit einer Kommune auch dann als unternehmerisch, wenn sie eine kommunale Sporthalle Dritten auf öffentlich-rechtlicher Grundlage gegen Entgelt überlässt, „da sie insoweit im Wettbewerb zu privaten Konkurrenten tätig war” (V R 41/10)

Nach alledem fallen nationale (gemäß OLG Frankfurt a. M., s. o.) und europäische Bewertung der Unternehmenseigenschaft im Gebührenbereich auseinander. Während für viele der z. B. durch Auskunftsverlangen betroffenen Sachverhalte das europäische Recht nicht unmittelbar anwendbar sein wird (wegen fehlender Zwischenstaatlichkeit), besteht doch ein grundsätzliches Spannungsverhältnis zwischen den Rechtsebenen, das nicht ohne Weiteres mit dem Harmonisierungsziel des deutschen Gesetzgebers zu vereinbaren ist.

Vorläufige Schlüsse für die Praxis

Nach der Rechtsprechung des OLG Frankfurt a. M. ist die Rekommunalisierung und die damit verbundene Vermeidung der kartellrechtlichen Aufsicht zulässig und wirksam. Für den BGH wiederum beginnt der kartellrechtliche Zugriff jedenfalls dort, wo der Wasserversorger wie ein Unternehmen im Wettbewerb tätig ist, d. h. als Vergleichsmaßstab herangezogen werden kann. Ob im Übrigen eine öffentlich-rechtliche Leistungsbeziehung und Anschluss- und Benutzungszwang ein Garant für die „kartellrechtsfreie Zone” ist, lässt der BGH offen. Eine höchstrichterliche Entscheidung dazu steht aus. Das Bundeskartellamt kämpft dagegen für seine Aufsicht auch über die öffentlich-rechtlich organisierte Wasserversorgung.

Rekommunalisierung ist demnach aktuell eine Option zur Vermeidung der kartellbehördlichen Aufsicht. Darauf, dass sie auch langfristig Rechtssicherheit verspricht, kann allerdings derzeit noch nicht vertraut werden.

 

Dr. Justus Herrlinger

Im deutschen und europäischen Kartell- und Wettbewerbrecht spezialisierter Rechtsanwalt, White & Case LLP, Hamburg
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