02.03.2020

Demokratie und Arithmetik

Neues Urteil des Verfassungsgerichtshofs NRW zur Stichwahl und zur Einteilung kommunaler Wahlbezirke

Demokratie und Arithmetik

Neues Urteil des Verfassungsgerichtshofs NRW zur Stichwahl und zur Einteilung kommunaler Wahlbezirke

Die Gleichheit der Wahl umfasst die Wahlberechtigung und die Wählbarkeit. | © Christian Schwier - Fotolia
Die Gleichheit der Wahl umfasst die Wahlberechtigung und die Wählbarkeit. | © Christian Schwier - Fotolia

Reicht eine relative Mehrheit bei der Bürgermeister- und Landratswahl? Was ist bei der Einteilung in Wahlbezirke zu beachten?

 „Das Heil der Demokratien, von welchem Typus und Rang sie immer seien, hängt von einer geringfügigen technischen Einzelheit ab: vom Wahlrecht. Alles andere ist sekundär.“

(Jose Ortega y Gasset)

Alle Staatsgewalt „geht vom Volke aus“. Damit die Staatsgewalt nicht vom Staat selbst ausgeht, sind verfassungsgemäße Wahlen essenziell. Wahlen in Bund, Land und auch den Kommunen (Art. 28 Abs. 1 GG) müssen stets allgemein, gleich, unmittelbar, frei und geheim sein. Die Gleichheit der Wahl umfasst die Wahlberechtigung und die Wählbarkeit.


Das diese ehernen Grundsätze garantierende Wahlrecht ist indes oft Zankapfel, mitunter sogar Spielball politischer Interessen und Kräfte, wie die aktuelle Kontroverse um eine Verkleinerung des Bundestages belegt. Die Judikative ist gefragt, Wahlrechtsänderungen wieder in verfassungsgemäße Bahnen zu lenken. Stets ist die Gefahr virulent, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt (vgl. BVerfGE 120, 82).

Wahlrecht in NRW vor Neuaufführung?

Die Abgeordneten von SPD und Grünen im nordrhein-westfälischen Landtag haben mit Blick auf die im September 2020 stattfindenden Kommunalwahlen vor dem Verfassungsgerichtshof NRW (VerfGH) gegen zwei neue Regelungen im Kommunalwahlrecht geklagt. Zum einen wandten sie sich gegen die im April 2019 abgeschaffte Stichwahl für Bürgermeister und Landräte zugunsten einer einstufigen Wahl mit relativer Mehrheit. Damit wäre NRW das einzige Bundesland gewesen, dass die Wahl eines kommunalen Hauptverwaltungsbeamten in einem Wahlgang mit nur relativer Mehrheit für die demokratische Legitimation des Gewählten ausreichen lassen würde.

Umstritten vor Gericht war zum anderen die Neueinteilung der Wahlbezirke in NRW. Nach dem von den Regierungsfraktionen beschlossenen neuen Zuschnitt werden künftig nur noch Deutsche und Unionsbürger gezählt, die – nicht wahlberechtigten – Einwohner aus Drittstaaten dagegen nicht mehr. Zur Einteilung der Wahlbezirke sah die bisherige Regelung in § 4 Abs. 2 Kommunalwahlgesetz NRW (KWahlG) weiter vor, dass die Einwohnerzahl in einem Wahlbezirk nicht mehr als 25 % von der durchschnittlichen Einwohnerzahl der Wahlbezirke im Wahlgebiet nach oben oder unten abweichen darf.

Chor des Verfassungsgerichts mit Dissonanzen bei der Stichwahl

Der VerfGH entschied über beide im Rahmen des Normenkontrollverfahrens aufgeworfenen Streitfragen mit Urteil vom 20.12.2019 (VerfGH 35/19). Mit einer Mehrheit im Senat von vier zu drei Stimmen hielt das Gericht die Abschaffung der Stichwahl für nicht mit der Landesverfassung vereinbar.

Für eine hinreichende demokratische Legitimation sei neben der Wahlbeteiligung der erreichte Zustimmungsgrad bedeutsam. Die verfassungsrechtliche Beurteilung hänge insoweit von den zugrunde liegenden normativen und tatsächlichen Verhältnissen ab. Je höher der zu erwartende Anteil der obsiegenden Kandidatinnen und Kandidaten sei, die im einzigen Wahlgang lediglich eine weit von der absoluten Mehrheit entfernte relative Mehrheit erreichten, umso mehr sei das demokratische Prinzip der Mehrheitswahl tangiert. Die hiernach notwendige Prognose des Gesetzgebers zu den zu erwartenden Wahlausgängen beziehe relevante Tatsachen aber nicht ausreichend mit ein, werde vor allem der festzustellenden Zersplitterung der Parteienlandschaft nicht gerecht. Das Gericht verfuhr hier richtigerweise nach dem Motto, dass auch in der Demokratie „Konkurrenz das Geschäft belebt“.

Eher Molltöne sind im Sondervotum zu hören: Die Abschaffung sei verfassungsgemäß, insbesondere auch mit dem Demokratieprinzip und den Wahlrechtsgrundsätzen vereinbar. Die Senatsmehrheit überhöhe den demokratischen Gehalt von Stichwahlen und verliere dabei die zumeist sinkende Wahlbeteiligung bei solchen Wahlen aus dem Blick. Das Gericht dürfte nicht die Wertungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers durch seine eigenen ersetzen.

Das für die Abschaffung der Stichwahl vorgetragene Argument der „sinkenden Wahlbeteiligung“ bei Stichwahlen vermag indes nicht zu überzeugen. Die Stichwahl ist keine isoliert zu betrachtende Wahl, sondern eine Verlängerung der Hauptwahl. Die Wahlberechtigten in der Hauptwahl haben bereits eine Vorauswahl getroffen, so dass ihre dortige Wahlbeteiligung in die Stichwahl weiterwirkt. Die Partizipation an der Direktwahl ist für die Wahlberechtigten insgesamt höher, wenn sie einmal im Rahmen der Hauptwahl und einmal im Rahmen der Stichwahl teilnehmen, statt nur einmal an der Hauptwahl. Im Ergebnis ist daher die Rechtsauffassung der maßgeblichen Senatsmehrheit stichhaltig und sachgerecht.

Mit einer Stimme zur Einteilung der Wahlbezirke

Die ebenfalls angegriffene Neuregelung, wonach nur Deutsche sowie Unionsbürger bei der Berechnung der Einwohnerzahl der einzelnen Wahlbezirke berücksichtigt werden, sei hingegen mit der Landesverfassung vereinbar –  so das VerfGH in einstimmiger Harmonie. Sie führe zu einer verbesserten Realisierung der Wahlrechts- und Chancengleichheit, die grundsätzlich eine Einteilung des Wahlgebietes in gleich große Wahlbezirke ausgehend von der Zahl der Wahlberechtigten gebiete.

Die mit dieser Neuregelung im Zusammenhang stehende Bestimmung zur zulässigen Abweichungstoleranz bei der Einteilung der Wahlbezirke von bis zu 25% bedürfe indes der einschränkenden, sogenannten verfassungskonformen Auslegung: Bereits eine Abweichung von mehr als 15% erfordere eine besondere Rechtfertigung. Eine Differenz von bis zu 15% sei noch vom Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers gedeckt, weil gewisse Abweichungen aufgrund des stetigen Bevölkerungswandels unvermeidbar seien. Die (volle) Ausschöpfung der Abweichungstoleranz von 25% bringe aber einen nicht unerheblichen Eingriff in die Wahlrechts- und die Chancengleichheit mit sich und müsse deshalb im Einzelfall durch die jeweilige Kommune verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden.

Als legitimer Grund komme das gesetzlich verankerte Ziel der Wahrung räumlicher Zusammenhänge in Betracht. Hinter diesem Aspekt müssten indes verfassungsrechtliche Ziele stehen, die ein der Wahlrechts- und Chancengleichheit vergleichbares Gewicht besäßen. Eine pauschalierende Anwendung der 25%-Klausel zum Zwecke der Verwaltungsvereinfachung werde diesem Erfordernis nicht gerecht. Diese sei – ebenso wie der Gesichtspunkt einer leichteren Zuordnung des jeweiligen Wahlbezirks zu einem Wohngebiet – kein ausreichender durch die Verfassung legitimierter Grund.

Alte Klaviatur, aber veränderte Tonlage

Die Entscheidung des VerfGH schlägt zwar hinsichtlich der zu beachtenden Abweichungsgrenze in Gestalt der Einführung einer konkreten 15%-Klausel überraschende Töne an, bewegt sich aber ansonsten in den Traditionen der Rechtsprechung des BVerfG und auch des BVerwG. Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit unterliegt danach keinem absoluten Differenzierungsverbot. Allerdings bleibt dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen. Diese können im Wahlrecht nur durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlgleichheit die Waage halten kann (BVerfG, Urt. v. 31.1.2012, juris, Rn. 61).

Bei einer Mehrheitswahl müssen alle Wähler über den gleichen Zählwert ihrer Stimmen hinaus mit annähernd gleicher Erfolgschance am Kreationsvorgang teilnehmen können (BVerfGE 121, 266, 295). Maßgeblich für die konkreten Einteilungskriterien der Wahlbezirke bei den Kommunalwahlen sind aber nicht die Vorgaben zur Einteilung der bisher noch 299 Wahlkreise bei der Bundestagswahl. Legitime Abweichungen von der durchschnittlichen Einwohnerzahl aller Wahlbezirke könnten sich hiernach besonders aus den örtlichen Verhältnissen ergeben (BVerwG, Urt. v. 22.10.2008, BVerwGE 132, 166).

In diesem Rahmen bleibend hat der VerfGH – eher unerwartet – die nicht im KWahlG stehende Grenze von 15% an erlaubter Abweichungstoleranz aus dem Hut gezaubert. Sie entspricht zwar der im europäischen Verhaltenskodex empfohlenen und im Bundeswahlgesetz normierten Soll-Grenze. Der Landesgesetzgeber dürfte aber nun klarstellend gehalten sein, die verfassungsrechtliche notwendige engere Grenze auch im Gesetz glattzuziehen.

Auch in einem weiteren Punkt reizt der VerfGH seinen verfassungsrechtlichen norminterpretierenden Entscheidungsspielraum aus. Anders als im KWahlG geregelt, sei bei der Prüfung der 15%-Grenze anhand der Zahlen aller Deutschen und Unionsbürger in der zweiten Stufe die Zahl der Wahlberechtigten zu berücksichtigen. Dies entspricht der sehr formalen und strikten Wahlrechtsgleichheit, führt aber zu weiteren praktischen Umsetzungsproblemen: Denn besonders in den Städten entwickelt sich etwa wegen neuer Wohngebiete die soziale und altersmäßige Zusammensetzung unterschiedlich, damit die Anzahl der nicht wahlberechtigten Kinder, die bei der bloßen Betrachtung nach der Staatsangehörigkeit mitgezählt werden.

Das Abstellen auf die Zahlen der Deutschen und Unionsbürger bzw. der Wahlberechtigten hat auch Folgen für den Repräsentationsumfang der Wahlbezirksbewerber. Ratsmitglieder in Wahlbezirken mit hohem Anteil von Drittstaatlern haben damit eine viel höhere Anzahl von Einwohnern zu betreuen. Gerade solche Wahlbezirke können aufgrund ihrer Bevölkerungsstruktur zudem besonders betreuungsintensiv sein. Dies lässt der VerfGH aber nicht gelten und verweist zur Begründung auf das in der Gemeindeordnung normierte freie Mandat der Ratsmitglieder und den Grundsatz der Gesamtrepräsentation der Einwohnerschaft. Mehr Verständnis hat hierfür das BVerfG, welches durchaus die „territoriale Verankerung des im Wahlkreis gewählten Abgeordneten“ und die durch die Direktwahl „geknüpfte engere persönliche Beziehung des Wahlkreisabgeordneten zu dem Wahlkreis“ im Bundeswahlrecht als abwägungsrelevanten Faktor anerkennt (BVerfG, Urt. v. 31.1.2012, juris, Rn. 64).

Wahlrechtliche Arithmetik in den kommunalen Wahlämtern

Wegen der neuen verfassungsrechtlichen Klänge zur Einteilung der Wahlbezirke haben die kommunalen Wahlämter in Vorbereitung der Kommunalwahlen alle Hände voll zu tun. Insbesondere in den kreisfreien Städten wird hin und her gerechnet; viele Wahlbezirke müssen neu zugeschnitten werden, damit die 15%-Grenze nicht überschritten wird. Nach dem VerfGH ist in einer kreisfreien Stadt ein Rückgriff auf die 25%-Klausel verfassungsrechtlich schon dann zu beanstanden, wenn es ohne weiteres möglich ist, durch Einbeziehung angrenzender Straßenzüge oder einzelner kleiner Stadtquartiere zu einer annähernd großen Gestaltung der Wahlbezirke zu gelangen– was regelmäßig möglich sein dürfte. Dass die Betriebsamkeit in den Kommunen und Aufsichtsbehörden nach der Entscheidung des VerfGH nicht unbegründet ist, wird belegt durch ein Urteil des VG Cottbus (Urt. v. 24.7.2018, juris), welches über vier Jahre nach einer Ratswahl diese für ungültig erklärt und eine Wiederholungswahl angeordnet hat, da die seinerzeitige Wahlbezirkseinteilung rechtswidrig gewesen sei.

Nicht selten ist in den insoweit entscheidungsbefugten Wahlausschüssen der Kommunen nunmehr eine andere Art von „Straßenkampf“ entbrannt. Politisch lieb gewordene, vermeintlich sichere Quartiere müssen Neuberechnungen geopfert werden. Wahlbezirke nehmen geografisch ungewöhnliche Gestalt an. Abweichungen müssen anders in den Ratsvorlagen begründet werden. Doch insbesondere von Kommunalpolitikern in den Städten sind ohnehin Kompetenzen gefragt, über Grenzen jeglicher Art hinaus nicht nur die wahlberechtigten Bürger, sondern alle dort wohnenden Menschen an einem lebenswerten und zukunftsfesten Ort integrierend zu vereinen. Demokratie ist dann doch mehr als bloße Arithmetik.

 

Prof. Dr. Frank Bätge

Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen
 

Franz Dillmann

Leiter des Bürgeramtes Köln-Rodenkirchen
n/a