15.06.2013

Bürgernähe durch „Graswurzeldemokratie“

Interview zur Landesverfassungsbeschwerde Baden-Württemberg

Bürgernähe durch „Graswurzeldemokratie“

Interview zur Landesverfassungsbeschwerde Baden-Württemberg

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Seit 1. April 2013 können Bürger in Baden-Württemberg, die sich in ihren Grundrechten verletzt fühlen, den baden-württembergischen Staatsgerichtshof anrufen. Zu diesem Datum wurde die Landesverfassungsbeschwerde eingeführt. Das Datum ist nicht zufällig: Im Jahr 2013 feiert die Landesverfassung ihren 60. Geburtstag.

Mit dem neuen Gesetz will die Landesregierung die Identifikation der Menschen mit ihrer Landesverfassung stärken.Derzeit gibt es in zehn Bundesländern die Möglichkeit einer Landesverfassungsbeschwerde, unter anderem in Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz und Sachsen.

 

PUBLICUS sprach mit Professor Dr. Rüdiger Zuck und Professor Dr. Holger Zuck, beide Rechtsanwälte und Partner der Anwaltskanzlei Zuck in Stuttgart und Autoren des Kommentars zur Landesverfassungsbeschwerde, über die neue Rechtsschutzmöglichkeit, deren Voraussetzungen und Intentionen.


PUBLICUS: Welche Rechte können mit der Landesverfassungsbeschwerde als verletzt gerügt werden?

Zuck: Die Landesverfassung von Baden-Württemberg hat keinen eigentlichen Grundrechtekatalog wie das Grundgesetz, sondern macht diesen Grundrechtekatalog zum Bestandteil der Landesverfassung. Das heißt aber nicht, dass die Landesverfassung keine eigenen Grundrechte kennt. Vor allem in den Bereichen Kirche und der Religion, Wohlfahrtspflege, Bildung, Erziehung, Unterricht und Gleichberechtigung gewährt die Landesverfassung eigene Rechte. Gleiches gilt für die staatsbürgerlichen Rechte bei Wahlen auf Landesebene, also bei Landtagswahlen und Kommunalwahlen. Der Katalog der verfassungsbeschwerdefähigen Rechte ist in Baden-Württemberg weitaus umfangreicher als vor dem Bundesverfassungsgericht. Aus diesem Grund haben wir in den Kommentar auch Steckbriefe sämtlicher Rechte aufgenommen, die mit der Landesverfassungsbeschwerde gerügt werden können.

PUBLICUS: Welchen Mehrwert wird die Landesverfassungsbeschwerde für Bürger, Unternehmer und selbstverfasste Körperschaften in Baden-Württemberg bringen?

Zuck: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Bundesverfassungsgericht sind zwar ebenfalls dazu berufen, die öffentliche Gewalt des Landes Baden-Württemberg zu kontrollieren. Sie können dies aber nur anhand der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Grundrechtskatalogs des Grundgesetzes tun. Landesgrundrechte oder ein besonderes landesverfassungsrechtliches Gepräge eines Grundrechts können von diesen Gerichten dagegen nicht überprüft werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Bundesverfassungsgericht sind außerdem überlastet. Wir setzen große Hoffnung darauf, dass Landesverfassungsbeschwerden beim Staatsgerichtshof schneller behandelt und entschieden werden, als das in Straßburg oder in Karlsruhe möglich ist. Ein weiterer Mehrwert ergibt sich daraus, dass eine Landesverfassungsbeschwerde zu einer größeren Bürgernähe führt. Man könnte das auch als Graswurzeldemokratie bezeichnen.

PUBLICUS: Wer nutzt das Instrument der Verfassungsbeschwerde eigentlich?

Zuck: Bei der Bundesverfassungsbeschwerde erleben wir als Verfassungsbeschwerdeführer die gesamte Bandbreite der Gesellschaft und Wirtschaft. Auch die mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Anliegen sind höchst unterschiedlich. Sie reichen von sachlich berechtigten Anliegen über den oft beschworenen letzten Strohhalm und die hartnäckige Rechthaberei bis hin zu psychisch auffälligem Querulantentum.

PUBLICUS: Was sind die formellen Voraussetzungen für eine Landesverfassungsbeschwerde?

Zuck: Angegriffen werden kann nur ein Akt der öffentlichen Gewalt des Landes, also z. B. Entscheidungen von Behörden oder Gerichten des Landes, oder aber auch ein Bebauungsplan oder ein Landesgesetz. Bevor die Verfassungsbeschwerde erhoben wird, muss aber zunächst einmal der Rechtsweg erschöpft werden. Die unmittelbare Anrufung des Staatsgerichtshofes wird nur in den seltensten Fällen zulässig sein. Weitere Voraussetzung ist, dass der Beschwerdeführer durch den angegriffenen Akt selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen ist. Last but not least muss die Verfassungsbeschwerde innerhalb einer bestimmten Frist erhoben und begründet werden. Diese beträgt für gewöhnlich einen Monat bei Entscheidungen von Behörden und Gerichten und bei Landesgesetzen ein Jahr. Wichtig ist: Wenn das als verletzt bezeichnete Recht zum Grundrechtskatalog des Grundgesetzes gehört, gibt es ein Wahlrecht, ob das Bundesverfassungsgericht oder der Staatsgerichtshof angerufen wird. Wendet sich der Beschwerdeführer an das Bundesverfassungsgericht, macht das eine gleichzeitig oder später erhobene Verfassungsbeschwerde an den Staatsgerichtshof unzulässig.

PUBLICUS: Wovon hängen die Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde in materieller Hinsicht ab?

Zuck: Der häufigste Anwendungsfall der Verfassungsbeschwerde ist die gegen eine gerichtliche Entscheidung. Die Praxis zeigt, dass viele Beschwerdeführer die Verfassungsgerichtsbarkeit nur als weitere Instanz in einem verlorenen Rechtsstreit ansehen. Sie zeigen häufig nur auf, dass und warum die angegriffene Entscheidung einfachrechtlich falsch ist. Dabei vergessen sie völlig, dass es darauf gar nicht ankommt, sondern dass sie stattdessen eine Grundrechtsverletzung von einigem Gewicht aufzeigen müssen. Es ist weder Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts noch des Staatsgerichtshofes, die Anwendung des einfachen Rechts zu kontrollieren. Im Strafrecht ist das etwas einfacher, weil Verstöße gegen einfaches Recht, wenn sie zur Inhaftierung, Unterbringung oder Sicherungsverwahrung führen, immer in den Schutzbereich eines Grundrechts eingreifen. Das erklärt vielleicht auch, weshalb es vergleichsweise viele Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gegeben hat, mit denen Entscheidungen der Strafgerichte aufgehoben wurden. Die Freiheit ist eben ein hohes Gut. Vermögensrechte, um die es im Zivilprozess geht, oder die Freiheit von Staatszwang oder das Verschontbleiben von einem Bebauungsplan im Verwaltungsprozess wiegen verfassungsrechtlich gesehen dagegen weit weniger schwer. Besonders sorgfältig muss argumentiert werden, wenn die Verletzung des rechtlichen Gehörs gerügt wird. Nur weil der Beschwerdeführer eine ihm nachteilige gerichtliche Entscheidung erhalten hat, heißt das noch lange nicht, dass ihm kein rechtliches Gehör gewährt wurde.

PUBLICUS: Welche Vorkehrungen hat der Landesgesetzgeber getroffen, um den Staatsgerichtshof vor einer Überflutung mit Landesverfassungsbeschwerden zu schützen?

Zuck: Es gibt zwei Vorkehrungen. Zum einen werden Begehren, die noch nicht einmal im Ansatz erkennen lassen, welches Grundrecht durch eine staatliche Maßnahme des Landes verletzt sein soll, gar nicht erst als Verfassungsbeschwerden behandelt, sondern in das Allgemeine Register eingetragen. Zum anderen kann eine Kammer des Staatsgerichtshofs trotz der grundsätzlichen Kostenfreiheit der Landesverfassungsbeschwerde für die weitere Bearbeitung eine Gebühr in Höhe von bis zu 2.000 Euro verlangen. Voraussetzung dafür ist, dass die Kammer die Verfassungsbeschwerde einstimmig für unzulässig oder offensichtlich unbegründet hält. Der Beschwerdeführer hat dann die Wahl: Bezahlt er die Gebühr nicht, gilt die Verfassungsbeschwerde als zurückgenommen. Bezahlt er sie, kann er zwingend damit rechnen, dass seine Verfassungsbeschwerde verworfen oder zurückgewiesen wird. Von notorischen Rechthabern und Querulanten einmal abgesehen, die nicht aufs Geld schauen müssen, wird das in den meisten Fällen den gewünschten Effekt erzielen. Wo die Gebühr nichts helfen wird, sind allerdings Fälle, in denen jemand nur den innerstaatlichen Rechtsweg erschöpfen will, um vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen zu können.

PUBLICUS: Welche Erwartungen haben Sie an den Staatsgerichtshof?

Zuck: Der Staatsgerichtshof muss zunächst einmal die 60-jährige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufnehmen. Da das Land Baden-Württemberg ein eigenständiger Verfassungsraum ist, muss er dabei aber den Besonderheiten der Landesverfassung Rechnung tragen. Dies eröffnet dem Staatsgerichtshof die Chance, die Grundrechte des Grundgesetzes im Land Baden-Württemberg weiterzuentwickeln, und zwar zum Wohle der Erhaltung und der Fortentwicklung der Eigenständigkeit des Landes.

PUBLICUS: Wie kamen Sie auf die Idee, einen Kommentar zur Landesverfassungsbeschwerde zu schreiben?

Zuck: Wir bringen es zusammen auf über 60 Jahre Erfahrungen mit Verfassungsbeschwerden, der eine mehr, der andere weniger. Erstens haben wir schon anhand des Gesetzentwurfs erkannt, dass das baden-württembergische Landesverfassungsbeschwerderecht eigenständig, aber auch lückenhaft ist. Es hat uns gereizt, aufzuzeigen, wie man diese Lücken füllen kann. Zweitens kennen wir den Markt für Verfassungsbeschwerden. Es kommt häufig vor, dass Bürger sich in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren selbst vertreten. Denen wollten wir eine Handreichung mit Mustern geben, damit sie möglichst wenig falsch machen. Drittens wollten wir den Rechtsanwälten etwas an die Hand geben. Auch der erfahrenste Zivilprozessrechtler betritt schnell vermintes Gelände, wenn er gegen eine Entscheidung zuungunsten seines Mandanten Verfassungsbeschwerde erheben soll. Viertens haben wir gesehen, dass der Anwendungsbereich der Landesverfassungsbeschwerde in Baden-Württemberg hinsichtlich der in Betracht kommenden Grundrechte und staatsbürgerlichen Rechte sehr groß ist. Da es wenig Rechtsprechung der Instanzgerichte zu diesen Landesrechten gibt, wollten wir auch dazu eine Hilfestellung geben.

PUBLICUS: An welche Zielgruppen richtet sich der Kommentar?

Zuck: Im Blick hatten wir die rechtssuchenden Bürger, die Syndikus-Anwälte in Unternehmen und Rechtsanwälte. Ein kleines bisschen hatten wir beim Schreiben aber auch den Staatsgerichtshof selbst im Blick. Auch er betritt schließlich Neuland und sieht sich einer Aufgabe gegenübergestellt, die trotz der vom Gesetzgeber ausdrücklich gesuchten Nähe zum Verfassungsbeschwerderecht des Bundes und anderer Bundesländer nicht einfach zu lösen ist.

PUBLICUS: Sehr geehrte Herrn, wir danken Ihnen für das Gespräch und wünschen dem Buchprojekt guten Erfolg.

Hinweis der Redaktion: Der Kommentar „Die Landesverfassungsbeschwerde in Baden-Württemberg“ ist im Richard Boorberg Verlag erschienen

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