11.05.2016

Naturschutz in drei Geschwindigkeiten

Die aktuelle Gesetzgebung am Beispiel Bayerns, Hessens und Thüringens

Naturschutz in drei Geschwindigkeiten

Die aktuelle Gesetzgebung am Beispiel Bayerns, Hessens und Thüringens

Bunte Baustelle Naturschutzrecht: Auch der geübte Anwender kann ins Stolpern geraten. | © Robert Kneschke - Fotolia
Bunte Baustelle Naturschutzrecht: Auch der geübte Anwender kann ins Stolpern geraten. | © Robert Kneschke - Fotolia

Von politischen Geschwindig­keiten wird derzeit eher auf EU-Ebene als auf nationaler Ebene gesprochen. Die politische Gefahr des Aus­einander­driftens eines auf Einmütigkeit und Zusammen­wachsen angelegten Systems erscheint virulent, je einseitiger Partner versuchen, ihre Interessen zu Lasten der Weiter­entwicklung der gesamten Union durchzusetzen. Solche Partner sind im föderativen Staats­aufbau der Bundes­republik der Bund und die Länder und selbst die Länder untereinander. Die gesamt­staatliche Entwicklung im Bundes­staat bedingt die Bereitschaft zu politischen Kompromissen und zur konstruktiven Zusamme­narbeit. Gleiche­rmaßen hängt das Wesen des Föderalismus von einem klaren Bundes­rahmen ab.

Dieses Signal hat zunächst auch die Föderalismus­reform 2006 (vgl. hierzu der Beitrag: Umwelt­rechtliche Einheit in Vielfalt? – Die Föderalismus­reform nach 10 Jahren, in: PUBLICUS 2016.3) gesendet, indem die Rahmengesetzgebung aufgegeben und die Zuständigkeiten im Umweltrecht in die konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis überführt wurden. Im Gegenzug dazu forderten die Länder eine Abweichungsmöglichkeit vom Bundesrecht, Art. 72 Abs. 3 GG (vgl. hierzu den Beitrag: Gemeinsame Ziele föderal zersplittert – Umweltrecht: Die Abweichungsmöglichkeiten der Länder vom Bundesrecht, in: PUBLICUS 2016.4), deren Praxis an drei konkreten Beispielen auf dem Gebiet des Naturschutzrechts aufgezeigt werden sollen.

Erhebliche Klärungsrelevanz der „Grundsätze des Naturschutzes”

Mit dem Inkrafttreten des Bundesnaturschutzgesetzes 2010 am 01. 03. 2010 waren die Bundesländer in Zugzwang, da in der Folge dem Bundesrecht entgegenstehende Regelungen unanwendbar wurden. Die Rechtsetzung des Bundes eröffnete den Ländern auf dem Gebiet des Naturschutzrechts erstmals die Möglichkeit einer abweichenden Gesetzgebung. Art. 72 Abs. 3 Nr. 2 GG spricht für den Naturschutz und die Landschaftspflege ausdrücklich von einer solchen Kompetenz. Zugleich legt das Grundgesetz die Schranken dieser Befugnis fest, in dem es sog. „abweichungsfreie Kerne” vorgibt, von denen die Bundesländer nicht abweichen dürfen. Für das Naturschutzrecht gelten folgende Einschränkungen: kein Eingriff in die „allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes, das Recht des Artenschutzes oder des Meeresnaturschutzes”. Art. 72 Abs. 3 GG ist an dieser Stelle sehr ungenau formuliert, weil beim Artenschutz sich die Frage stellt, ob der Schutz vor anderweitigen Regelungen nur die allgemeinen Grundsätze betrifft, nachdem der Meeresnaturschutz wieder im Genitiv genannt wird.


Nicht abschließend absehbar ist, mit welchem Inhalt die unbestimmten Rechtsbegriffe letztendlich gefüllt werden, die bundeseinheitlich zu interpretieren sind. Daher ist es umso verwunderlicher, dass die sehr allgemein formulierten „Grundsätze des Naturschutzes” bisher sehr wenig Diskussionsbedarf hervorgerufen haben, obwohl sie dem Wortlaut nach erhebliche Klärungsrelevanz in sich tragen. Nach der bundesgesetzgeberischen Vorstellung gehören zu diesen Grundsätzen:

  • die Zielsetzungen des § 1 BNatSchG,
  • das Monitoring durch den Bund und die Länder nach § 6 BNatSchG,
  • die Landschaftsplanung (§ 8 BNatSchG),
  • die zentrale naturschutzrechtliche Eingriffsregelung (§ 13 BNatSchG),
  • der Gebietsschutz mit den acht abschließend definierten Gebietstypen (§ 20 BNatSchG) einschließlich der Schaffung eines Biotopverbunds (§ 30 BNatSchG) mit Überschneidungen zum Artenschutz,
  • das Recht auf Betreten der freien Landschaft zu Erholungszwecken (§ 59 BNatSchG), wobei nach Abs. 2 Satz 2 die Länder regeln können, was unter Betreten zu verstehen ist, die dem Betreten gleichgestellte Benutzungsarten, Regelungen, die das Betretungsrecht ausgestalten bzw. einschränken, wie z.B., wann eine Fläche betreten werden darf, oder die rechtlichen Voraussetzungen für die Errichtung von Sperren und Zäunen.

Verneint wird die Qualität eines allgemeinen Grundsatzes z. B. bei den Zielsätzen des § 2 BNatSchG und dem Vertragsnaturschutz, der guten fachlichen Praxis (§ 5 BNatSchG), den Regelungen der Natura-2000-Schutzgebiete (§ 33 Abs. 1 BNatSchG) oder den Vorschriften über Vorkaufsrechte. Vor dem Hintergrund der Vielschichtigkeit möglicher Inhalte und des Fehlens einer verfassungsrechtlichen Judikatur wird die allgemeine Akzeptanz einzelner Regelungszwecke noch weiter zu beobachten sein.

Zur Lage in den einzelnen Bundesländern

Trotz dieser ordentlichen Grundlage haben einzelne Bundesländer nicht davor zurückgeschreckt, im Grenzbereich dieser Kerne oder unverhohlen auf diesen Gebieten Regelungen zu erlassen. Z. B. hat in jüngster Vergangenheit das Land Mecklenburg-Vorpommern auf dem Gebiet des Meeresnaturschutzes eine länderrechtliche Normierung vorgenommen (vgl. § 24 des Ausführungsgesetzes zum Landesnaturschutzgesetz – Kap. 5 Meeresnaturschutz).

Nach Inkrafttreten des BNatSchG 2010 war es nicht verwunderlich, dass einige Länder rasch von ihrer Befugnis Gebrauch machten. Hierzu zählen bis heute dreizehn Bundesländer (Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Bayern, Berlin, Brandenburg, und Sachsen, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz), die im Sinne des Art. 72 Abs. 3 GG naturschutzrechtlich reagiert haben.

Fünf Länder hierunter haben den Weg gewählt, die missliche Lage eines gültigen „Flickerlteppichs” an Länderrecht durch den Erlass von „Ausführungsgesetzen” zu bereinigen (Brandenburg, Niedersachsen, Hessen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern). Sieben Länder spielten bereits 2010 eine Vorreiterrolle, gefolgt von Bayern 2011. 2013 zogen dann mit Berlin, Brandenburg, Sachsen drei weitere Länder nach, 2015 Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Teilweise dienten Anwendungserlasse für eine Übergangszeit als Hilfsmittel. In Nordrhein-Westfalen, im Saarland und in Thüringen ist das Landesrecht nach wie vor nicht an die neue Rechtslage angepasst.

…keine Neuregelung in Thüringen

Der Freistaat Thüringen hat bisher darauf verzichtet, eine Neuregelung ins Auge zu fassen. Entsprechende Absichtserklärungen finden sich auch nicht im aktuellen Koalitionsvertrag der Rot-Rot-Grünen Landesregierung. Um der misslichen Lage Abhilfe zu verschaffen, hat das zuständige Ministerium eine Anwendungshilfe zur Verfügung gestellt, aus der synoptisch die nicht mehr gültigen Regelungen des Thüringer Naturschutzgesetzes aus der Vorzeit des BNatSchG 2010 dem Bundesnaturschutz 2010 gegenüber gestellt werden. Die hilfreiche Dokumentation darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Anwendung des Naturschutzrechts nach wie vor vertrackt erscheint. Dabei tröstet es nur unmerklich, dass auch bei verkündigter Abweichung ein Hin und Her zwischen Bundes- und Landesnaturschutzgesetz unvermeidbar wäre.

…eine Vollregelung in Bayern

Die bayerische Vollregelung ist gekennzeichnet durch zahlreiche Abweichungen quer durch alle naturschutzrechtlichen Themenfelder. Sie ersetzt vollständig das bis dato nur noch in Teilen anwendbare Bayerische Naturschutzgesetz (BayNatSchG) und das Naturschutz-Ergänzungsgesetz. Mit der Neufassung des BayNatSchG macht der bayerische Gesetzgeber von seiner Abweichungsbefugnis gegenüber dem Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) Gebrauch. So sieht das BayNatSchG beispielsweise bei der Landschaftsplanung, der Eingriffsregelung, in Teilen beim Schutz bestimmter Teile von Natur und Landschaft, bei Regelungen zu Produkten, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten oder aus solchen bestehen, innerhalb eines Natura 2000-Gebiets und im Umkreis von 1000 Metern oder die Aufnahme weiterer gesetzlich geschützter Biotoptypen Abweichungen vor. Darüber hinaus finden sich Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen sowie Regelungen zu im BNatSchG nicht geregelten Sachverhalten (z. B. Aussagen zu der Genehmigung der Errichtung von Skipisten). Die jeweiligen Abweichungen wurden – im Gegensatz z. B. von Baden-Württemberg – vom Freistaat Bayern im Bundesanzeiger veröffentlicht. 2015 kam es zur ersten Anpassung des BayNatSchG.

…und ein Ausführungsgesetz in Hessen

Hessen hat den Weg eines Ausführungsgesetzes gewählt. Das Gesetz ist vor allem darauf ausgelegt, den verfahrensrechtlichen Rahmen für die Umsetzung des BNatSchG festzulegen. Dementsprechend zurückhaltend geht der Hessische Landesgesetzgeber mit den Abweichungsmöglichkeiten um. Quantitativ wird in Hessen neunmal, in Bayern dagegen sogar 18-mal vom BNatSchG abgewichen, übertrumpft von Schleswig-Holstein mit an die 50 Abweichungen – einen einheitlichen Abweichungsbegriff vorausgesetzt.

System der Abweichungsgesetzgebung läuft nicht rund

Der Reigen der Bezugsnormen aus dem Bundesnaturschutzgesetz, von denen abgewichen wurde, geht quer durch alle Regelungsbereiche. Schwerpunkte bilden dabei

  • die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung (§§ 14 ff. BNatSchG) ,
  • die Landschaftsplanung (§§ 8 ff. BNatSchG),
  • der Gebietsschutz (§§ 22 BNatSchG) und
  • das Vorkaufsrecht der Naturschutzbehörden (§ 66 BNatSchG) .

Augenscheinlich ist, dass das System der Abweichungsgesetzgebung noch nicht rund läuft. So regelt § 30 LNatSchG-SH beispielsweise einen allgemeinen Grundsatz des Naturschutzes. Ebenso haben sich Länder herausgenommen, Gegenstände der nichtkonkurrierenden Vorranggesetzgebung zu regeln. Soweit das Bundesnaturschutzgesetz Verordnungsermächtigungen enthält, haben diese die Länder nur teilweise genutzt. Alles Weitere bleibt einer Prüfung durch die Verfassungsjudikatur vorbehalten, soweit es überhaupt zu deren Einschaltung kommt.

Fazit

Zusammenfassend soll angemerkt werden, dass die Föderalismusreform mit der Einführung der Abweichungsgesetzgebung der Länder vom Bundesrecht für die betroffenen Regelungsmaterien zu einer naturschutzrechtlichen Rechtszersplitterung geführt hat. Selbst der geübte Anwender kann im Einzelfall leicht ins Straucheln geraten. Dies gilt für alle Legislativtechniken, welche die Landesgesetzgeber als Reaktion auf das BNatSchG 2010 gewählt haben. Der Thüringische Weg der Weitergeltung „alten” Naturschutzrechts kann vor dem Hintergrund der Rechtsfortentwicklung und -systematik nicht überzeugen, wenn auch hierdurch Bundesrecht am Weitesten zur Geltung gebracht wird. Bayern hat mit seiner Vollregelung von der Abweichungsbefugnis in breitem Maße Gebrauch gemacht. Hierdurch wird eigenständiges Recht konstituiert, zugleich aber die Rechtseinheit auf eine Probe gestellt. Mit der Hessischen Regelung eines Ausführungsgesetzes ist der naturschutzrechtliche Mittelweg gelungen. Dennoch ist klar: Die goldene Lösung wäre nur eine restriktive Anwendung der Abweichungsbefugnis wie in Hessen und darüber hinaus eine einheitliche Koordination der Gesetzgebungsinitiativen aller Bundesländer. So könnte verhindert werden, dass Deutschland naturschutzrechtlich drei Wege mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten geht.

 

Prof. Dr. Matthias Werner Schneider

Fachhochschule Schmalkalden
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