26.04.2018

Wo Rauch ist, ist auch Feuer

Probleme der Wahlrechts-Reform in Baden-Württemberg

Wo Rauch ist, ist auch Feuer

Probleme der Wahlrechts-Reform in Baden-Württemberg

In Baden-Württemberg wurde eine handfeste Koalitionskrise ausgelöst. | © Martina Berg - Fotolia
In Baden-Württemberg wurde eine handfeste Koalitionskrise ausgelöst. | © Martina Berg - Fotolia

Der Beschluss fiel in das Ende der Faschingszeit und war einstimmig. Die Landtagsfraktion der CDU in Baden-Württemberg hatte sich gegen eine Änderung des Wahlrechts ausgesprochen und damit eine handfeste Koalitionskrise ausgelöst. Denn diese Reform war zwischen Grünen und CDU im Koalitionsvertrag vom März 2016 fest vereinbart worden. Der Ruf: »pacta sunt servanda«, Verträge müssen eingehalten werden, machte die Runde. Und das ist der erste Punkt, der kritisch zu hinterfragen ist. Koalitionsverträge heißen zwar so. Doch richtige Verträge sind es nicht. Denn sie sind nicht einklagbar. Ähnlich wie Spielschulden haben sie keine rechtliche Bindungswirkung. Wer eine Koalitionsabsprache bricht, muss sich das jedoch gut überlegen. Damit setzt er nämlich die Koalition aufs Spiel.

Die Breite der Gesellschaft abbilden?

Nach der Landtagswahl vom 13.03.2016 hatten sich die Unterhändler der Grünen und der CDU in die Hand versprochen: »Damit der Landtag die baden-württembergische Gesellschaft künftig in ihrer ganzen Breite besser abbildet, werden wir ein personalisiertes Verhältniswahlrecht mit einer geschlossenen Landesliste einführen.« Und hier ist der zweite Punkt der Kritik anzubringen. Wahlen haben nicht den Sinn, »die Breite der Gesellschaft abzubilden«. Sinn und Zweck von Landtagswahlen ist es, den Ministerpräsidenten zu wählen und die sonstigen Entscheidungen treffen, für die der Landtag zuständig ist.

In Art. 28 Grundgesetz heißt es dazu ausdrücklich: »In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muss das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen sind.« Im Landtag von Baden-Württemberg gibt es jedoch auffällig wenig Frauen. Er zählt zur Zeit 143 Mitglieder, unter ihnen nur 36 Frauen. Das ist ungefähr ein Viertel und bildet natürlich nicht »die Breite der Gesellschaft« ab. In Art. 2 Grundgesetz wird garantiert: »Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.« Gleichwohl würde die Wahl nicht ungültig, falls mehr Frauen als Männer gewählt worden wären oder umgekehrt. Eine Frauenquote ist deshalb im Wahlrecht politisch erwünscht, aber rechtlich nicht durchsetzbar. Das ist und bleibt ein Dilemma.


Gleichwohl war man sich bei den Koalitionsvereinbarungen einig, dass etwas geschehen müsse, um mehr Frauen in den Landtag bringen. Allerdings wollte man zugleich auch daran festhalten, dass die Stimmzettel nur einmal gekennzeichnet werden wie bisher, und dass alle Kandidaten und Kandidatinnen für das Erstmandat allein in Wahlkreisen gewählt werden. Bei der Zuteilung der Zweitmandate sollte aber eine Listenkomponente hinzukommen, die landesweit oder in den vier Wahlbezirken zum Zuge kommen. Weil über die Listen »en bloc« abgestimmt wird, können die Parteien nach Belieben Frauen auf den besten Plätzen ganz oben auf der Liste absichern. – Das war der Plan. Er kann aber nur aufgehen, wenn man zwei Stimmen hat, also nach dem sog. »Grabensystem« in Wahlkreisen und in den vier Bezirken des Wahlgebietes zugleich auch mit Landeslisten wählt.

Man gründete einen »Stuhlkreis«

Aus der Sicht der Verfassung bewegt sich die rechtliche Problematik also in einem »uneasy triangle« aus Freiheit der Wahlentscheidung, Gleichberechtigung und Frauenquote bei der Listenwahl, aus der die Wähler keine Auswahl treffen können. Die Einführung von Landeslisten soll tunlich unter Wahrung des bisherigen Wahlrechts geschehen, die keine Landeslisten kennt. Gesetzgeberisch sind diese Vorbedingungen so überfrachtet, dass es schier unmöglich ist, sie »unter einen Hut« zu bringen. Ministerpräsident Kretschmann kommentierte den ablehnenden Beschluss der CDU-Landtagsfraktion denn auch mit Humor: »Wer denken kann, kann sich denken, was ich dazu denke.« Um die Koalitionskrise abzuwenden, griff man dann zu einem bewährten Mittel »aus der Hausapotheke« der Politik, gründete einen »Stuhlkreis« und vertagte sich.

Die Debatte um die Reform des Wahlrechts rückt das eigentümliche Verfahren in das Rampenlicht, das bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg bisher zur Anwendung kam. Landeslisten gibt es keine. Die Stimmzettel werden nur einmal gekennzeichnet, aber zweimal ausgewertet: einmal um in den 70 Wahlkreisen des Landes den direkt gewählten Landtagsabgeordneten und noch einmal um die Stimmenanteile der Parteien in den vier Wahlbezirken zu ermitteln. Man hat also zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Wer in den 70 Wahlkreisen mit einfacher Mehrheit direkt gewählt wurde, erhält das sog. »Erstmandat«. Insoweit kommt die klassische Direktwahl nach dem »Westminster-Modell« zum Zuge – eine unmittelbare Personenwahl, wie sie auch das Grundgesetz in Art. 28 für die Bundesländer verlangt.

Der Landtag hat aber nicht nur 70 sondern 120 Plätze. Und zu allem Überfluss gibt es nicht 120, sondern 143 Abgeordnete. Das wirft die Frage auf: Wie kommen die überzähligen Abgeordneten dort hinein? Ganz einfach: Weitere 50 Abgeordnete erhalten ein sog. »Zweitmandat«, das es so nur bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg gibt. Die verbleibenden 50 Plätze werden im Verhältnis ihrer Stimmenanteile auf die Parteien in den vier Wahlbezirken des Landes verteilt und mit den jeweiligen bestplatzierten in den Wahlkreisen aus den vier Wahlbezirken besetzt. Erreicht eine Partei dadurch mehr Erstmandate als dem Stimmenanteil in dem jeweiligen Wahlbezirk entspricht, werden diese Überhänge durch Ausgleichsmandate egalisiert.

Fehlende Normenklarheit und Verständlichkeit

Das klingt sehr abstrakt, kann aber anhand der Wahlergebnisse vom 13.03.2016 weiter verdeutlicht werden. Damals erhielt die CDU 22, die Grünen 46 und die AfD 2 sog. Erstmandate. Sie wurden in 70 Wahlkreisen unmittelbar gewählt. Die Grünen erzielten dabei 8 Überhänge, weil der Anteil der Partei an den Sitzen hinter den erzielten Direktmandaten landesweit um 8 Plätze zurückblieb. Bei den 50 Zweitmandaten ging die CDU mit 20 Sitzen aus dem Rennen; darunter 7 Ausgleichsmandate. Auch die Grünen erhielten in einem der vier Wahlbezirke 1 Zweitmandat. SPD erzielte keine Erstmandate und musste sich mit 19 Zweitmandaten abfinden; darunter 3 Ausgleichsmandate. Auch die FDP konnte in keinem Wahlkreis den Sieg erringen und kam auf 12 Zweitmandate; darunter 1 Ausgleichsmandat. Die AfD holte, wie gesagt, 2 Direktmandate. Hinzu kamen 21 Zweitmandate; darunter 4 Ausgleichsmandate.

Nimmt man alles zusammen, dann ergaben sich aus der Wahl insgesamt 143 Landtagsmandate; 8 Überhänge bei den Grünen; und 15 Ausgleichsmandate bei den vier verbleibenden Landtagsparteien CDU, SPD, FDP und AfD. Das war das Wahlergebnis vom 13.03.2016. Bei den Zweitmandaten werden 50 Sitze auf die Parteien in den vier Wahlbezirken verteilt, ohne dass die Wähler in unmittelbarer und vor allem auch in freier Wahlentscheidung auf den amtlichen Stimmzetteln gekennzeichnet haben, wem sie das Mandat zukommen lassen wollen. Die Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11.11.1953 (GBl S. 173) hält in Art. 28 Abs. 2 dagegen fest: »Wählbar ist jeder Wahlberechtigte.« Parteien sind nicht wahlberechtigt und können deshalb nicht gewählt werden. Auch hat das Bundesverfassungsgericht für die Bundestagswahlen festgehalten: »Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.« (BVerfGE 97, 317 (323).)

Politische Parteien bestehen zwar aus Wahlberechtigten, können aber selbst nicht wählen und sind deshalb selbst und als solche nicht wählbar. Man darf also nicht unterstellen, die Wähler hätten ihre Stimmen zugleich für eine Partei abgeben wollen, wenn sie auf dem Stimmzettel einen der 70 Wahlkreis-Sieger gekennzeichnet haben. Daher stellt sich schon hier die Verfassungsfrage nach der unmittelbaren und freien, auf die Person eines Abgeordneten gerichteten Wahlentscheidung. Das Wahlrecht in Baden-Württemberg ist davon abgesehen in sich so kompliziert und unanschaulich, dass die erforderliche Normenklarheit und Verständlichkeit, die das Verfassungsgericht grundsätzlich einfordert (Vgl. BVerfG v. 03.07.2008, BVerfGE 121, 216 [232]) nicht mehr gewährleistet ist. Die gewöhnlich anzutreffenden Wähler können das Wahlverfahren nicht mehr hinreichend durchschauen.

Leichter zu erfassen ist die verfassungsrechtliche Bewertung der 15 Ausgleichsmandate. Über sie kann erst entschieden werden, wenn die Wahllokale geschlossen sind und die Auszählung der Stimmen ergeben hat, dass es zu Überhängen gekommen ist. Den Ausgleichsmandaten fehlt daher zwangsläufig jede demokratische Legitimation. Müssen Ausgleichsmandate nachgeschoben werden, muss auch eine Nachwahl darüber nachgeschoben werden, wer, von welcher Partei, in welchen der vier Wahlbezirke denn ein solches Zusatzmandat erhalten soll. Und wenn man den Wählern die freie Auswahl gestattet, kommt dabei natürlich nicht mehr der gewünschte Mandatsausgleich heraus.

Schlafende Hunde geweckt.

Wer ein Ausgleichsmandat erhält, wird nachträglich vom Wahlleiter festgestellt. Das tut er natürlich so »wie das Gesetz es befiehlt«. Obwohl der Stimmzettel nur einmal gekennzeichnet wird, das Stimmensplitting also ausgeschlossen ist, sind die Überhang- und Ausgleichsmandate ein bestimmendes Element der Landtagswahlen in Baden-Württemberg. So gab es 1980: 4; 1984: 6; 1988: 5; 1992: 26; 1996: 35; 2001: 8; 2006: 19; 2011: 18 und 2016: 23 Überhang- bzw. Ausgleichsmandate. Doch Abgeordnete werden nicht durch Gesetz bestimmt. »Die Abgeordneten (…) werden gewählt (…).«. So steht es in Art. 28 der Landesverfassung. »Ausgleichsmandate gehen also nicht unmittelbar auf den Willen der Wähler zurück und sind deshalb schlicht verfassungswidrig.« Vgl. Publicus, Ausg. 2011-2 und Ausgabe 2011-3.

Die verfassungsrechtliche Kritik an den Ausgleichsmandaten ist also bekannt. Sie hat aber nicht zu einem Wahlprüfungsverfahren geführt. Wenn jetzt das Wahlrecht reformiert und das ohnehin einsturzgefährdete System durch eine wie auch immer geartete Listenwahl ergänzt werden soll, um auf riskanten Wegen den Frauenanteil im Stuttgarter Landtag zu steigern, wenn also nicht mehr mit einer Stimme gewählt wird, sondern mit zwei, wie das bei der Bundestagswahl und in 13 von 16 Landtagswahlen regelmäßig der Fall ist, dann werden die schlafenden Hunde wach. Dann wird die Verfassungsfrage virulent. Das zeichnet sich schon jetzt ab. Geschlossene Landeslisten, aus denen die Wähler keine freie Auswahl treffen können, sind unzulässig, es sei denn, es handelt sich im eine geringe Zahl von Abgeordnetensitzen, die auf diesem Weg besetzt werden. Wird dagegen mit offenen Listen abgestimmt, wie das bei den Landtagswahlen in Bayern der Fall ist, dann kann man den Wähler nicht mehr dazu zwingen, mit Vorrang eine Frau zu wählen.

Wie das neue Wahlrecht aussehen wird und ob es überhaupt dazu kommt, das steht also in den Sternen. Und wenn man einfach die Landesverfassung beugt, muss man befürchten, dass sowohl die Wähler als auch die Gewählten rebellisch werden.

 
n/a