19.04.2018

Das Broken-Web-Phänomen Teil 2

„Laws without enforcement are just good advice“

Das Broken-Web-Phänomen Teil 2

„Laws without enforcement are just good advice“

Um dem Broken-Web-Phänomen entgegenzuwirken muss das Gewaltenmonopol in Form einer digitalen Polizei, im digitalen Raum etabliert werden. | © valerybrozhinsky - stock.adobe.c
Um dem Broken-Web-Phänomen entgegenzuwirken muss das Gewaltenmonopol in Form einer digitalen Polizei, im digitalen Raum etabliert werden. | © valerybrozhinsky - stock.adobe.c

Bereits in der März-Ausgabe des PUBLICUS hat sich Kriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger mit dem Broken-Web-Phänomen auseinandergesetzt. Dieser Beitrag setzt seine Ausführungen fort.

Cybergrooming – ein Resultat des Broken Web?

Eine ähnliche Situation ist auch im Bereich des Cybergroomings erkennbar. So gehen unterschiedliche Dunkelfeldstudien von einer Viktimisierungsrate allein von sexuellen Belästigungen im digitalen Raum von 40 % aus[1]. Die Anzeigenrate liegt in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) aber – je nach Lesart – zwischen 1066[2] und 1958[3] im zugrundeliegenden Tatbestand des § 176 Abs. 4 Nr. 3 und 4 StGB. Ein Kriminalhauptkommissar des Fachkommissariats Internetrecherche der Polizei Baden-Württemberg äußert im Zusammenhang mit proaktiven polizeilichen Aktionen gegen Cybergroomer, dass das Internet wie ein Piraniabecken sei[4]. Gemeint ist, dass wenn die Polizei sich als Kind ausgibt es innerhalb kürzester Zeit zu sexuellen Kontaktanbahnungen kommt. Dies hatten auch bereits zwei hessische Staatsanwälte festgestellt, die sich versuchsweise als kindliche Mädchen im digitalen Raum bewegten und in sieben Tagen nahezu 350 entsprechende Kontaktanbahnungen registrierten.

Interessanterweise weisen beide Phänomene – sowohl die Volksverhetzung mit 72 % (bei Tatmittel Internet) als auch Cybergrooming mit 87 % – hohe bis sehr hohe Aufklärungsquoten auf. Dieser Umstand in Kombination mit einer offensichtlich vorhandenen hohen Dunkelziffer – also der Relation zwischen Hell- und Dunkelfeld – kann darauf hindeuten, dass die Strafverfolgungswahrscheinlichkeit im digitalen Raum zu gering ist, um einen kontrollierenden Effekt zu haben. Konkret gesagt, es hat auf die Masse der Normenbegehung wenig Einfluss, wenn wenigen Tätern mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Tat nachgewiesen werden kann, wenn gleichzeitig Millionen Delikte begangen werden, ohne dass diese überhaupt zur Anzeige gebracht werden.


Jeder Kommentar, jedes Posting oder auch jede Internetseite, die sichtbar strafrechtliche Normen überschreitet, ohne dass eine für Außenstehende erkennbare sanktionierende Reaktion erfolgt, stellt demnach eine eingebrochene Fensterscheibe dar. Gleichzeitig symbolisiert diese nach der Routine Activity Theorie, dass die Schutzmechanismen offenbar im digitalen Raum nicht funktionieren. Dies kann dazu führen, dass auch Menschen, die sonst eine höhere Hemmschwelle zur Begehung eines Normenbruches haben, doch bereit sind, entsprechende Handlungen zu begehen. Nach der Systemtheorie von Niklas Luhmann würde sich das Gefühl eines kontrollfreien Raumes einerseits auf die jeweiligen Foren, Kommentarseiten oder auch Plattformen beziehen. Wenn aber ein Nutzer in vielen unterschiedlichen Plattformen auf dieselbe Situation trifft, kann sich das Empfinden auch auf das zugrundeliegende Gesamtsystem übertragen. Der Mensch entwickelt das Gefühl, sich in einem Raum frei von einer effektiven Strafverfolgungswahrscheinlichkeit zu bewegen. Es handelt sich dann um ein Broken Web.

Ein Raum frei von einer effektiven Strafverfolgungswahrscheinlichkeit

Diese Tendenz zeigt sich ggf. noch in einem weiteren Aspekt. Nach einer Studie von Titley (2015)[5] ziehen bei strafbaren Inhalten im digitalen Raum lediglich 8,5 % der Nutzer die mit Hatespeech persönlich konfrontiert waren eine Anzeige bei den Strafverfolgungsbehörden in Betracht. Auch dieser Umstand kann auf mehrere Ursachen hindeuten. Aber eine ist zunächst naheliegend: die Strafverfolgungsbehörden werden ggf. nicht als ein Akteur der Normenkontrolle in einem digitalen Raum wahrgenommen. Eine ähnliche Situation kennen wir auch im Rahmen sogenannter Kriminalitätsbrennpunkten, in denen sich teilweise bereits eigene Normenkontrollsysteme – wie sog. Friedenswächter – etablieren konnten[6].

Eine typische Reaktion des Staates auf das Aufkommen des Attributes einer im Volksmund sogenannten NoGo Area besteht dabei in der Erhöhung und Präsenz von Sicherheitskräften – zumeist von Polizisten[7]. Der Gedanke ist dabei nicht, dass die Polizisten in Zivil aktiv sind, sie sollen vielmehr durch ihre Uniform symbolisieren, dass der Rechtsstaat sein Gewaltmonopol auch in diesem Bereich wahrnehmen wird. Gleichzeitig erhöht die Sichtbarkeit die Wahrscheinlichkeit, dass Bürger die Polizei in diesem Raum ansprechen und z.B. auch Sachverhalte zur Anzeige bringen. Diese Funktion des Rechtsstaates – vertreten durch eine sichtbare Polizei – ist im deutschsprachigen digitalen Raum bisher noch nicht hinreichend verankert.

Wie kann dem Broken-Web-Phänomen begegnet werden?

Dabei gäbe es nach der Routine-Activity-Theorie auch im digitalen Raum drei Ansatzpunkte um dem Broken Web Phänomen zu begegnen. Es kann versucht werden, der Motivation von Tätern zu begegnen, die Beute unattraktiver zu machen oder durch eine Erhöhung der Schutzmechanismen die Kosten-Nutzen-Abwägung in Richtung Einhaltung der Normen hinzuentwickeln. Alle drei Punkte bieten vielfältige Möglichkeiten der Einflussnahme. So kann eine Vermittlung der Gültigkeit von Normen auch im digitalen Raum zu einer prinzipiellen moralischen Erhöhung der Hemmschwelle zur Begehung von Delikten im Netz führen. Ein anderer Ansatz ist es, potenzielle Opfer – z.B. die Kinder im Bereich des Cybergroomings – auf Risiken vorzubereiten und somit die potenziellen Angriffsziele zu verringern. Ein dritter Ansatzpunkt ist es aber, die Normenkontrolle im Netz zu verstärken, um somit die Risikoeinschätzung bei potenziellen Taten zu erhöhen. Hier sind prinzipiell auch drei Akteure denkbar: die Nutzer selbst, die privatwirtschaftlichen Betreiber Sozialer Medien und der Rechtsstaat.

Die Debatte um das am 30. Juni 2017 durch den Bundestag verabschiedete Netzwerkdurchsetzungsgesetz und vor allem die Ausgestaltung des Gesetzes, das keine Stärkung oder Verantwortung der Sicherheitsbehörden im digitalen Raum vorsieht – beispielhaft durch eine Anzeigenpflicht der Betreiber bei Vorliegen von strafrechtlich relevanten Verdachtsmomenten – deutet darauf hin, dass die Verantwortung der Normenkontrolle durch den Rechtsstaat auf die Betreiber verlagert wird. Die Risiken, die aus dieser Verlagerung entstehen, sind offensichtlich: Einerseits ist es möglich, dass Normen im digitalen Raum nicht geprägt werden von Gerichten, sondern von multinationalen Betreibern Sozialer Medien. Andererseits bedeutet dies, dass auch die Errungenschaften eines Rechtsstaates nicht per se in den digitalen Raum übertragen werden. Sollte diese Entwicklung gesellschaftlich nicht gewünscht sein, muss darüber diskutiert werden, wie der Rechtsstaat im digitalen Raum gestärkt werden kann. Hierfür bedarf es vor allem einer sichtbaren Verankerung inklusive einer damit einhergehender Durchsetzung des Gewaltmonopols des Rechtsstaates. Eine solch sichtbare Verankerung könnte vor allem in einer viel aktiveren Nutzung von Accounts durch die Polizei bestehen, wie es im europäischen Raum gegenwärtig tatsächlich üblich ist. So existieren allein in den Niederlanden ca. 2.500 Accounts von Polizeiinstitutionen, aber vor allem von Polizeibeamten, die dienstlich und individuell eigene Polizeiaccounts in den Sozialen Medien unterhalten – sog. Digital Community Policing Officer[8]. Letzteres dient dabei maßgeblich der Verankerung der Polizei im digitalen Raum und der Kommunikation mit den Nutzern.

Braucht es eine virtuelle Polizeistreife?

In Deutschland existieren nach einer letzten Zählung lediglich 216 Polizeiaccounts und nur zwei davon sind individualisiert. Zum Vergleich: die Niederlande hat insgesamt etwa 63.000 Polizisten, die deutsche Polizei 270.000. Hochgerechnet auf die deutsche Polizeistärke müsste es hierzulande über 10.000 Polizeiaccounts geben, um dieselbe digitale Polizeipräsenz zu erreichen. Eine solche Polizeipräsenz könnte dabei von einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes profitieren[9], wonach der digitale Raum in einen öffentlichen und einen nicht öffentlichen Bereich eingeteilt werden kann. Um in diesem öffentlichen Bereich – also beispielsweise Foren und Accounts, die nicht besonders geschützt sind – tätig zu werden, bedarf es für die Polizei prinzipiell keiner besonderen Ermächtigungsgrundlagen. Es verhält sich vielmehr wie eine Streifenfahrt im öffentlichen Straßenverkehr. Eine solche digitale Streifenfahrt müsste im öffentlichen digitalen Raum zum Ziel haben, eine gewisse Wahrscheinlichkeit zu etablieren, dass die Bürger das Gewaltmonopol des Staates wahrnehmen und ggf. auch auf strafrechtliches Verhalten reagiert wird.

Tatsächlich gibt es im deutschsprachigen Raum bereits einige Beispiele für diese Sichtbarkeit. Die Polizei Berlin reagierte beispielhaft auf einen öffentlichen Aufruf zu einer Wannseeparty auf Facebook mit einem Kommentar unter dem Aufruf mit dem Hinweis, dass hoffentlich das Grünflächen- und Ordnungsamt informiert sei, andernfalls die Party aufgelöst werden müsste. In einem anderen Beispiel postete die Polizei des Landes Sachsen nach der Abschaltung der illegalen Streaming Plattform „Kino.To“ eine Seite mit dem Hinweis, dass es sich um illegale Inhalte handelte. In beiden Fällen sind die Nutzer bei ihrem alltäglichen Surfverhalten mit der Polizei konfrontiert und für andere Nutzer ist es offensichtlich, dass auf entsprechende Inhalte auch eine Reaktion seitens des Rechtsstaates erfolgt.

Betreiber oder Rechtsstaat?

Die Entwicklung des digitalen Raumes steht momentan an einem Scheideweg. Wie und vor allem wer soll in diesem Raum ohne physische Grenzen Normen definieren und durchsetzen? Die multinationalen Betreiber oder die nationalen Rechtsstaaten? Das Broken Web Phänomen stellt dabei einen fundamentalen Angriff auf eine rechtsstaatliche Strukturierung im Netz dar, denn es schwächt das Vertrauen in die Gültigkeit des Gewaltmonopols auch in diesem virtuellen Raum. Der Rechtsstaat ist aber eine zivilisatorische Errungenschaft, die auch in einem digitalen Raum nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden sollte. Um dem Rechtsstaat aber wieder ein stärkeres Gewicht zu verschaffen, bedarf es einer sichtbaren Wahrnehmung des Gewaltmonopols vor allem in Form einer digitalen Polizei. Die hierfür notwendige gesellschaftliche, aber auch juristische Debatte steht trotz der Relevanz dieses Interaktionsraums erst ganz am Anfang.

Dieser Beitrag stammt aus dem aktuellen Wirtschaftsführer des Richard Boorberg Verlages.

 

[1] Vgl u.a. Weller (2013) „Partner 4 Studie“; Neutze/ Osterheide (2015) MIKADO Studie.

[2] Bundesministerium des Innern (2015): PKS 2015, Grundtabelle 05, Tatschlüssel 131400.

[3] Bundesministerium des Innern (2015): PKS 2015, Grundtabelle 01, Tatschlüssel 131400.

[4] Vgl. Schulzki-Haddouti, Außer Kontrolle – Warum die Anmache von Kindern im Internet zunimmt, C’T 08/2016

[5] Vgl. Titley, No Hate Survey Results, 2015 online verfügbar unter http://www.nohatespeechmovement.org/survey-result.

[6] Vgl, Dienstbühl, Paralleljustiz in Deutschland – Machtlose Polizei?, Deutsche Polizei Ausgabe 10-2013.

[7] Vgl. Reisener Mehr Polizei an Brennpunkten in NRW, 2016, online verfügbar unter http://www. rp-online.de/nrw/panorama/mehr-polizei-in-nrwan-brennpunkten-aid-1.5864800.

[8] Vgl. Bayerl/Rüdiger, Die polizeiliche Nutzung sozialer Medien in Deutschland: Die Polizei im digitalen Neuland, in: Handbuch für Polizeimanagement, 2017, S. 919–945.

[9] 1 BvR 370/07 v. 27.02.2008.

 

Thomas-Gabriel Rüdiger, M.A.

Kriminologe, Institut für Polizeiwissenschaft, Fachhochschule der Polizei des Landes Brandenburg, Forschungsfeld Digitale Polizeiarbeit und Digitale Straftaten
n/a