08.03.2018

Das Broken-Web-Phänomen Teil 1

Der digitale Raum bietet einen großen Spielraum für kriminelle Angriffe

Das Broken-Web-Phänomen Teil 1

Der digitale Raum bietet einen großen Spielraum für kriminelle Angriffe

Das Gewaltmonopol muss sichtlich durchgesetzt werden. | © Jürgen Fälchle - stock.adobe.c
Das Gewaltmonopol muss sichtlich durchgesetzt werden. | © Jürgen Fälchle - stock.adobe.c

Der vorliegende Beitrag skizziert die Theorie, dass durch offen begangene Delikte im digitalen Raum, bei denen keine sichtbare normenkontrollierende Reaktion erfolgt, ein Verstärkungseffekt eintritt. Den Nutzern wird aufgezeigt, dass offenbar keine Schutzmechanismen wirken, was zu immer weiteren Tathandlungen führen kann. Dieses Phänomen kann als Broken Web bezeichnet werden. Eine Möglichkeit, diesem Phänomen zu begegnen, kann wiederum in der sichtbaren Verankerung des Gewaltmonopols des Staates im digitalen Raum liegen, insbesondere verkörpert durch die Polizei.

»Laws without enforcement are just good advice«

Bereits im 19. Jahrhundert soll Abraham Lincoln diesen kriminologisch bis heute gültigen Grundsatz geprägt haben. Die Erkenntnis hinter diesem Satz ist, dass geltende Gesetze nur dann Wirkung entfalten, wenn sie auch durchgesetzt werden. In der Kriminologie spricht man davon, dass keine mutmaßliche Strafhöhe Einfluss auf die Begehung eines Normenbruches hat, sondern lediglich die Strafverfolgungswahrscheinlichkeit. Im Kern geht es also um das Risiko, für einen Gesetzesverstoß auch zur Ahndung gezogen zu werden.

Dieser Gedankengang wurde in einer Vielzahl an Theorien verarbeitet. Zwei dieser Theorien sind für die folgenden Überlegungen von besonderer Relevanz: die Broken Windows Theorie von Wilson und Kelling aus dem Jahr 1982[1] und die Routine Activity Theorie von Cohen und Felson aus dem Jahr 1979[2].


Die Broken Windows Theorie besagt in ihrer Ursprungsform, dass bereits kleine vandalistische Schäden – wie ein eingeschlagenes Fenster in einem Haus – die nicht repariert werden, zu immer weiteren vandalistischen Handlungen führen werden. Dabei steht im Kern der Gedanke: Die fehlende Normenkontrolle auf ein sichtbar begangenes Delikt demonstriert anderen Personen, dass die Schutzmechanismen offensichtlich nicht mehr funktionieren. In fast jeder Großstadt ist diese Theorie an Mauern, Wänden und Ähnliches nachzuvollziehen, an denen Graffitis nicht entfernt werden und in der Folge die Anzahl neuer Motive gefühlt ins Unermessliche steigt.

An diesem Punkt setzt nun die Routine Activity Theorie von Cohen und Felson an. Diese besagt, dass Normenüberschreitungen auf Grundlage eines Abwägungsprozesses geschehen. Dieser Abwägungsprozess kennt drei Faktoren. Eine handelnde Person muss demnach motiviert sein, es muss eine lohnende Beute bzw. ein Ziel in Aussicht stehen und etwaige Schutzmechanismen müssen nicht vorhanden bzw. gering sein. Dabei bedingen sich diese Faktoren gegenseitig. Beispielhaft handelt ein Täter vielleicht auch bei einer nicht so attraktiven Beute, wenn keine regulierenden Schutzmechanismen vorhanden sind – das Risiko entdeckt und sanktioniert zu werden also sehr niedrig ist. Gleichzeitig ist der Täter aber eventuell auch bereit, trotz vorhandener Schutzmechanismen zu handeln, wenn die Beute verlockend genug ist, wie u.a. auch immer wieder Banküberfälle und Ähnliches verkörpern.

Die Kombination beider Theorien ergibt sich dann darin, dass eine eingeschlagene Fensterscheibe – bei der keine sichtbare Normenkontrolle – wie die Reparatur des Fensters oder eine Ahndung des Deliktes erfolgt – offensichtlich geringe Schutzmechanismen erkennbar symbolisiert. Tatsächlich kann jeder diese Erkenntnis tagtäglich im Straßenverkehr bzw. auf dem Weg zur Arbeit sehen oder sein eigenes Verhalten reflektieren. Dies gilt insbesondere bei der Frage, warum Fußgänger oder auch Fahrradfahrer sich in unterschiedlichen Situationen an die Norm einer «roten Ampel» halten oder auch nicht.

Trotz vorhandener Kritik an beiden Ansätzen, die sich insbesondere an den daraus abgeleiteten Konsequenzen wie die »Stop and Frisk« Taktik der New Yorker Polizei im Rahmen einer Zero Tolerance Ansatzes entzünden – nach der von der Polizei definierte Zielgruppen angehalten und kontrolliert werden sollten, was den Vorwurf des »Racial Profilings« nährte –, bietet die Kombination beider doch auch praxisnahe Schlussfolgerungen für kriminalpolitische Überlegungen. Es kommt demnach nicht darauf an, ob in einem gesellschaftlichen System Recht gilt, vielmehr ob dieses Recht mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch durchgesetzt wird. Dabei heißt dies nicht, dass alle Überschreitungen auch faktisch geahndet werden müssen. Dies wäre schon im Sinne des popitzschen Ansatzes einer Präventivwirkung des Nichtwissens[3] wenig zielführend, nach dem jedes Rechtssystem zusammenbrechen würde, wenn alle Straftaten (sowohl die im Dunkel- als auch im Hellfeld befindlichen) bekannt und verfolgt werden müssten. Es heißt viel eher, dass es eine gewisse Wahrscheinlichkeit für jeden Rechtsverstoß gibt, dass dieser geahndet wird.

Sichtbarer Normenbruch erfordert sichtbare Normenkontrolle

Nach dem Routine Activity und Broken Windows Ansatz muss also gezeigt werden, dass das Gewaltmonopol auch in einem gewissen Maße durchgesetzt wird. Dabei geht es vor allem um offen begangene bzw. bekannt gewordene Delikte, nicht so sehr um das absolute Dunkelfeld. Wo der Schwellenwert liegt, wie häufig Gesetzesbrüche geahndet werden müssen, damit ein System – auch ein Teilsystem – als ein Rechtsraum empfunden wird, ist nicht klar bezifferbar und zudem auch abhängig von den einzelnen Deliktsarten. So haben vermutlich nicht geahndete offensichtlich begangene Morde eine andere Wirkung als nicht geahndete Beleidigungen oder auch Urheberrechtsverletzungen. Die Grunderkenntnis ist, dass eine für Menschen sichtbar begangenen Normenbruch, der ohne erkennbare Sanktion bleibt, den gesamten Rechtsraum in Frage stellen kann.

Besteht das Internet aus zerschlagenen Scheiben?

Nun stellt sich die Frage, wie diese Situation im digitalen Raum ist, in dem die Menschen statistisch mehr Zeit verbringen als im öffentlichen Straßenverkehr[4] . Dort treten gleichzeitig Menschen jeglichen Alters, Geschlechts und kultureller Herkunft in diesem riesigen Raum miteinander in Interaktion. Ein interessanter Aspekt hierbei ist vor allem, dass es z. B. in Onlinegames – vor allem solchen, die auch für Kinder empfohlen sind – ganz normal erscheint, dass unbekannte Erwachsene mit unbekannten Kindern spielen und kommunizieren. Zum Vergleich: wenn auf einem Spielplatz im physischen Raum ein Erwachsener unbekannte Kinder ansprechen würde, würde dies vermutlich einen Polizeieinsatz auslösen. Denn einerseits werden Kinder von den Eltern auf Risiken im physischen Raum vorbereitet. Andererseits können Erwachsene die Situation von außen betrachten und eingreifen, im Bestfall kann sogar eine Polizeistreife vorbeikommen. Alles erhöht für etwaige Täter, die sich z. B. tatsächlich einem Kind nähern wollen, das Risiko, entdeckt und damit überführt zu werden.

Im digitalen Raum sieht diese Situation gegenwärtig aber völlig anders aus. Fast alle sog. Kommunikationsdelikte – also Straftaten, die durch die Kommunikation erfolgen können (wie z. B. Cybergrooming gem. § 176 Abs. 4 Nr. 3 & 4 StGB, Volksverhetzung gem. § 130 StGB oder auch Beleidigungen gem. § 185 StGB usw.) – werden im Internet öffentlich nachvollziehbar und sichtbar begangen. Diese Tendenz kann an zwei Aspekten abgelesen werden: zunächst gibt es – nicht erst seit der Debatte um das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) – eine gesellschaftliche Auseinandersetzung über Straftaten die aus dem Miteinander im Netz entstehen. Gleichzeitig scheint es eine außergewöhnlich große Diskrepanz zwischen dem Hell- und dem Dunkelfeld zu geben. So ergab eine aktuelle Forsa-Studie der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen, dass 92 % aller jungen Internetnutzer von 14–24 Jahren bereits im Netz mit sog. Hatespeech konfrontiert waren[5]. Im Zeitraum von 2014 bis 2016 hat sich dabei die Anzeigenrate für Volksverhetzung im Internet nahezu vervierfacht, von lediglich 754 Anzeigen im Jahr 2014 auf 3331 Anzeigen im Jahr 2016[6]. In einem Vergleich zu dem offensichtlichen Dunkelfeld erscheinen aber selbst diese Zahlen gering.

Dieser Beitrag wird in der kommenden Ausgabe des PUBLICUS fortgesetzt und stammt aus dem aktuellen Wirtschaftsführer.

 

[1] Vgl. Wilson/Kelling, Broken Windows: The police and neighborhood safety, Atlantic Monthly 29, 38 (Mar 1982).

[2] Vgl. Felson/Cohen, «Social change and crime rate trends: A routine activity approach», in: American Sociological Review 1979 (44), S. 588–608.

[3] Vgl. Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm und Strafe, 1968.

[4] Vgl. Rüdiger, Der Digitale Raum – Ein polizeifreier Verkehrsraum? Der Rechtsstaat zwischen Präsenz, Selbstjustiz und Legalitätsprinzip, in: Sicherheitsproduktion zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft, 2016.

[5] Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM), Ethik im Netz «Hatespeech» 2016.

[6] Bundesministerium des Innern (2016): PKS 2014–2016, Grundtabelle 05, Tatschlüssel 627000

 

Thomas-Gabriel Rüdiger, M.A.

Kriminologe, Institut für Polizeiwissenschaft, Fachhochschule der Polizei des Landes Brandenburg, Forschungsfeld Digitale Polizeiarbeit und Digitale Straftaten
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