15.08.2014

Wissen wir nicht, was wir tun?

Mahnender Zwischenruf zum 65. Deutschen Anwaltstag

Wissen wir nicht, was wir tun?

Mahnender Zwischenruf zum 65. Deutschen Anwaltstag

© helmutvogler - Fotolia
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„Freiheit gestalten” war das Motto des 65. Deutschen Anwaltstages, der vom 25. bis 28. Juni in Stuttgart stattfand. Im Folgenden veröffentlichen wir einen Auszug aus dem Grußwort des Präsidenten des Deutschen Anwaltvereins, Prof. Dr. Wolfgang Ewer, der die Bedeutung dieses Leitmotivs in seinen unterschiedlichen Facetten und Themenfeldern eindringlich ins Bewusstsein rückte. Wir beginnen nach der Begrüßung der zahlreichen Ehrengäste und Gäste aus Bund und Land, die mit ihrer Anwesenheit die Relevanz des Anwaltstages als Diskussions-Forum brisanter juristischer Fragestellungen deutlich zum Ausdruck brachten:

„Freiheit” – nicht so wichtig?

„…Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Motto des diesjährigen Anwaltstages lautet ‚Freiheit gestalten’. Freiheit, das ist ein ziemlich abstrakter, hochtrabender Begriff. Und scheinbar auch nicht hoch im Kurs. Ist Freiheit uns wirklich noch wichtig? Ist das noch gewollt?

Dagegen spricht, dass sich die Leute nicht darum kümmern. Haben wir Bürger politischen Druck erzeugt? So stark, dass irgendwer zurücktreten musste wegen der NSA-Affäre? Nein. Ein paar Intellektuelle haben das gefordert und die Opposition, aber das ist ja deren Job.


Erhöhen wir den Standard der Sicherung unserer Daten? Nein. Denn die meisten haben ja „nichts zu verbergen”. 2010 sprach das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung davon, die anlasslose Speicherung von Verbindungsdaten sei „geeignet, ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen”. Heute aber haben rund 23 Millionen Menschen in Deutschland einen Facebook-Account, weltweit 1,23 Milliarden. Wissen wir nicht, was wir tun – oder stimmt einfach die These des Verfassungsgerichts nicht? Ich bin gespannt auf die morgige Schwerpunktveranstaltung zu diesem Thema!

Nicht gespannt, sondern mit einem gewissen Entsetzen habe ich gestern gelesen, dass jemand die Krankenakte von Michael Schumacher verkaufen will. Also intimste Daten von jemandem, der nach einem Unfall monatelang im Koma gelegen hat. Für 60.000 Schweizer Franken. Da kann man mal sehen, wie wenig Skrupel mancher im Umgang mit fremden Daten hat. Es macht mich etwas betroffen.

Kommen wir zurück zu uns Bürgern, die wir uns um unsere Anliegen kümmern könnten. Handeln die Menschen nicht, weil ihnen alles egal geworden ist? Nein. Wenn es den Leuten wichtig ist, dann kümmern sie sich auch. Wir buchen schon im Winter den nächsten Sommerurlaub, damit kein anderer uns den Platz am Pool wegschnappt. Wir behalten unser Sparbuch, auch wenn es keine Rendite mehr bringt, weil wir es für verlässlich und sicher halten.

Freiheit also … einfach nicht so wichtig?

Freiheit als Wert bestätigen

Doch. Freiheit ist wichtig, essentiell wichtig. Das brauche ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht zu erklären. Denn sie ist Teil unserer professionellen DNA, Teil der anwaltlichen Kernwerte. Und sie ist wesentliche Voraussetzung für den Rechtsstaat, in dem wir leben. Bundesjustizminister Heiko Maas hat es in der FAZ treffenderweise mit Carlo Schmid gesagt: „Der Mensch ist nicht um des Staates willen da, sondern der Staat ist dazu da, dem Menschen zu dienen.” Aber was wir brauchen, sind Konkretisierung und Vermittlung. Wir müssen sagen, was und wo und wie wir denn mit dieser Freiheit anfangen wollen! Ich will in der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung steht, das Schlaglicht auf einige wenige konkrete Punkte richten.

… bezogen auf den Zugang zum Recht für Flüchtlinge

Fast genau vor einem Monat hat der an dieser Stelle gleich auftretende Navid Kermani im Deutschen Bundestag den Festvortrag zu 65 Jahren Grundgesetz gehalten. Voller Bewunderung hat er von den Wurzeln gesprochen, die die Freiheit innerhalb der letzten 65 Jahre in Deutschland geschlagen hat. Kermani hat auch das Zurückschneiden des Asylrechts kritisiert. Zitat: „Auch heute gibt es Menschen, viele Menschen, die auf die Offenheit anderer, demokratischer Länder existentiell angewiesen sind.” Das Zurückschneiden des Asylrechts, seit den Schengen-Verträgen, die Unmöglichkeit für viele, in Deutschland überhaupt einen Antrag zu stellen und einen Bescheid gerichtlich überprüfen zu lassen, sollte uns zu denken geben. Genau so, wie der Präsident der Bundesärztekammer vor wenigen Wochen gefordert hat, dass der Zugang zu medizinischer Versorgung auch denen gewährt werden muss, die mit unsicherem Status oder illegal in Deutschland leben, fordern wir einen Zugang zum Recht für alle Menschen in Deutschland, unabhängig von ihrem Status.

… bezogen auf Gerichtsschließungen

Man kann den Zugang zum Recht nicht nur formal beschränken. Man kann das auch ganz plastisch-praktisch, indem man die Infrastruktur des Rechtstaats abbaut. Um diese Infrastruktur ist es schlecht bestellt in Deutschland. Seit einigen Jahren gibt es die zunehmende Tendenz der Länder, Gerichtsstandorte zu schließen, um dadurch die Justizhaushalte zu entlasten. Betroffen sind vor allem die kleineren Einheiten in der Fläche. So sind beispielsweise 2011 in Hessen etliche Amtsgerichte und Arbeitsgerichte geschlossen worden. Die Landesregierungen in Rheinland-Pfalz und Brandenburg haben geprüft, ob sich Gerichtsstandorte einsparen lassen – und schließlich davon abgesehen. In Thüringen sind zum 1. Januar bei den Arbeitsgerichten Jena und Eisenach die Lichter ausgegangen. Und in Mecklenburg-Vorpommern werden zum 6. Oktober diesen Jahres die 21 Amtsgerichte zu zehn Amtsgerichten und sechs Zweigstellen zusammengestrichen. Der DAV hat dagegen protestiert. Mit seinem Landesverband und den örtlichen Anwaltvereinen. Zusammen mit den regionalen Justizorganisationen unterstützen wir ein Volksbegehren, bei dem bislang über 23.000 Stimmen eingegangen sind. 2014 feiern wir das Jubiläum des Mauerfalls. Sie alle kennen den Satz: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.” Was würde Bärbel Bohley 25 Jahre später erst zu dieser Gerichtsstrukturreform sagen?

An die Adresse der Justizministerkonferenz, die gerade am anderen Ende der Republik auf Rügen tagt, sage ich: Auch wer Gerichte wegspart, gestaltet Freiheit, greift einschränkend in Freiheit ein. Er fördert nicht die Qualität der Rechtsprechung. Und er sichert sie auch nicht. Er verkürzt allein den Zugang zum Recht.

… bezogen auf uns selbst

Sehr geehrte Anwesende, vor einigen Wochen hat das Bundessozialgericht in einer für uns überraschenden Härte festgestellt, dass Anwältinnen und Anwälte, die bei nichtanwaltlichen Arbeitgebern angestellt sind, nicht von der Rentenversicherungspflicht befreit werden können. Das Urteil halten wir für falsch. Aus unserer Sicht sind Syndikusanwälte Rechtsanwälte mit allen Rechten und Pflichten, nicht nur aus sozialversicherungsrechtlichen Gründen. Das gilt übrigens in vielen Ländern, ohne dass das heftig kritisiert würde. Hier will ich aber auf etwas anderes hinweisen: Wie kommt eigentlich das Bundessozialgericht dazu, uns vorzuschreiben, wer ein Anwalt ist und wer nicht? Das Berufsbild, das die Richter dieses Gerichts von unserem Beruf haben, hat nur wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Wir brauchen die Freiheit, unser Berufsbild selbst zu gestalten. Und wir tun das im Rahmen dessen, was die BRAO uns erlaubt, auch erfolgreich. Ich erwähne nur die maßgeblich vom DAV vorangetriebene Diskussion um eine systemische Qualitätssicherung in der Satzungsversammlung. Zur Freiheit gehören immer auch Bindungen. Für einen freien Beruf wie den des Rechtsanwalts gilt das besonders.

Zur Freiheit der Berufsausübung gehören übrigens auch eine angemessene Vergütung und die Freiheit, gute, passende Berufsausübungsformen zu finden. Hier – das sage ich rückblickend – haben wir, gemeinsam mit der Bundesrechtsanwaltskammer in der vergangenen Legislaturperiode viel erreicht. Die RVG-Reform und die Schaffung der Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung sind unsere großen Erfolge der vergangenen Jahre.

Erlauben Sie mir, im Zusammenhang mit dem Thema Vergütung noch eine weitere Sache anzusprechen. Zurzeit werden insbesondere Kolleginnen und Kollegen in manchen Medien harsch kritisiert, die ihr Geld damit verdienen, dass sie in großer Zahl sozialrechtliche Mandate betreuen. Die sogenannten Hartz IV-Anwälte. Meine Damen und Herren, da wedelt der Schwanz mit dem Hund. Der Skandal ist doch nicht, dass unsere Kolleginnen und Kollegen den Workflow in ihrer Kanzlei so professionalisieren, dass sie selbst mit Sozialrecht gut verdienen. Im Gegenteil, wir brauchen das! Wenn uns die DAV-Zukunftsstudie eines lehrt, dann, dass die Anwaltschaft unternehmerischer denken und effizienter handeln muss. Der Skandal, den wir hier adressieren müssen, ist die große Zahl der Hartz IV-Mandate. Weil es so viele fehlerhafte Bescheide gibt. Weil die Rechtsgrundlage fehlerhaft ist. Hier, meine sehr geehrten Damen und Herren, wäre viel Platz für den Gesetzgeber, Freiheit zu gestalten.

In den vor uns liegenden Jahren wird sich der DAV wie bisher nicht nur in eigener Sache, sondern auch für den Rechtsstaat insgesamt einsetzen. Unser Vorschlag zur Reform der Tötungsdelikte im StGB ist gut aufgenommen worden. Ich höre, dass die Expertenkommission des Bundesjustizministeriums schon an der Arbeit sitzt, um dem Gesetzgeber einen Vorschlag zu präsentieren. Auf die Zusammenarbeit in diesem und anderen Themen freue ich mich, weil diese Reformprojekte den Rechtsstaat stärken.

… bezogen auf Europa

Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben in den letzten vier Wochen nicht nur rückblickend das Grundgesetz gefeiert, sondern auch für die nächsten fünf Jahre das Europäische Parlament und in einigen Bundesländern Stadt- und Gemeinderäte gewählt. Das vielfache Erstarken extremer und chauvinistischer Parteien in Europa und auch bei uns ist ein Menetekel. Ich nehme das zum Anlass, Gesetzgeber und Parteien in Deutschland aufzufordern, die Grundlagen unseres Rechtsstaates ernst zu nehmen und zu verteidigen. Das beginnt bei den immer phrasenhafteren Wahlkämpfen. Und es reicht bis zum Mittragen von nicht zufriedenstellenden Kompromissen auf europäischer Ebene.

Es ist beispielsweise richtig, dass der Binnenmarkt und die Freizügigkeit eine grenzüberschreitende Strafverfolgung erzwingen. Aber dann brauchen wir auch europäische Strafverfahrensrechte, die diesen Namen verdienen. Und die Mitgliedstaaten müssen mehr als Prüfaufträge erteilen, wenn die Frage der Finanzierung der Verteidigung auf dem Tisch liegt. Die rechtspolitischen Errungenschaften der einzelnen Mitgliedstaaten dürfen nicht mit leichter Hand auf dem Altar des politisch Machbaren geopfert werden. Auch das gehört zum Gestalten der Freiheit.

Anwaltsausbildung als Zulassungsvoraussetzung

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Freiheit zu gestalten, erschöpft sich nicht darin, Forderungen aufzustellen. Freiheit zu gestalten setzt voraus, dass es jemanden gibt, der sich darum kümmert und das nötige Handwerkszeug für den Alltag hat. Das ist die originäre Aufgabe von Anwältinnen und Anwälten. Dass setzt voraus, dass ein Anwalt auch die berufsrechtlichen Rahmenbedingungen seiner Profession kennt. In drei Worten: BRAO muss mit!

An Universität oder im Referendariat kommt der Kollege in spe aber nur selten bis gar nicht mit seinem Berufsrecht in Berührung. Das Problem ist lang bekannt und breit diskutiert. Juristenausbildung ist Ländersache. Der Gesetzgeber blieb untätig.

Aus diesem Grund schlage ich folgende einfache Lösung vor: Die Ausbildung im anwaltlichen Berufsrecht wird als Zulassungsvoraussetzung zur Anwaltschaft in die BRAO aufgenommen. Die Ausbildung umfasst mindestens 10 Zeitstunden. Sie kann an der Universität, während des Rechtsreferendariats oder in einem privaten Seminar absolviert werden. Der Nachweis der Teilnahme reicht aus. Die Idee dieses Vorschlags geht auf das DAV-Ehrenmitglied Prof. Dr. Hellwig zurück. Einen konkreten Gesetzentwurf hierzu haben unsere Fachleute in den vergangenen Wochen erarbeitet.

Eine solche Regelung würde künftige Anwaltsgenerationen noch kompetenter machen. Wenn Sie / die Freiheit / gestalten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich wünsche Ihnen und uns einen ertragreichen Deutschen Anwaltstag. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!”

 

Prof. Dr. Wolfgang Ewer

Präsident des Deutschen Anwaltvereins
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