24.02.2023

Vorsicht Kamera!

Datenerhebung durch den Einsatz technischer Mittel nach dem Versammlungsgesetz NRW

Vorsicht Kamera!

Datenerhebung durch den Einsatz technischer Mittel nach dem Versammlungsgesetz NRW

© denisismagilov - stock.adobe.com
© denisismagilov - stock.adobe.com

In § 16 (Versammlungen unter freiem Himmel) und § 26 (Versammlungen in geschlossenen Räumen) VersG NRW sind das Anfertigen von Bild- und Tonaufnahmen bei Versammlungen neu geregelt. Damit wurde die bisherige defizitäre und aufgrund neuer technischer Mittel (Drohnen) nicht mehr zeitgemäße Rechtslage nach Maßgabe des Bundesversammlungsgesetzes (§§ 12 a, 19 a VersG) in Nordrhein-Westfalen endlich beseitigt.

Versammlungen unter freiem Himmel Aufzeichnungen zur Gefahrenabwehr Zweck der Regelung in § 16 VersG NRW ist es, in der Entstehung begriffene erhebliche Gefahrenlagen, die sich in aller Regel durch die Begehung von Straftaten manifestieren, frühzeitig zu erkennen, um diese zu verhindern sowie potenzielle Störer abzuschrecken. Es soll erschwert werden, dass bei Versammlungen der Schutz der Menge gesucht wird, um Rechtsverstöße zu begehen. Als technische Mittel lässt die Norm Bild- und Tonaufnahmen sowie -aufzeichnungen zu. „Aufnahmen“ sind Daten in Form von Bildern oder Tönen ohne Speicherung, also die bloße Echtzeitübertragung. „Aufzeichnungen“ erfassen dagegen auch die Speicherung der Aufnahmen.

Die Eingriffsschwellen des § 16 Abs. 1 Satz 1 VersG NRW („Tatsachen rechtfertigen die Annahme einer erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit“) knüpfen an die bisherige Rechtslage an (§§ 12 a, 19 a BVersG); zutreffend und verfassungsrechtlich erforderlich wurde aber in der Neuregelung das Schutzgut der „öffentlichen Ordnung“ gestrichen. Ob mit dem Begriff „Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen …“ eine „Vorfeldbefugnis“ implementiert wird oder damit eine konkrete Gefahrenlage gemeint ist, kann dahinstehen. Denn jedenfalls ist die Begrifflichkeit einer konkreten Gefahr stark angenähert und entspricht dieser im Wesentlichen.[1]


Bloße Vermutungen bzw. polizeiliches Erfahrungswissen reichen als Basis für die polizeiliche Prognose jedenfalls nicht aus. Es müssen im Einzelfall konkrete Fakten vorliegen, die aus Sicht eines objektiven Betrachters den Schluss zulassen, dass auf der betreffenden Versammlung von Personen die öffentliche Sicherheit erheblich beeinträchtigt werden wird.

Objekt der Überwachungsmaßnahme darf nur die Person sein, von der die erhebliche Gefahr ausgeht; Dritte nur nach § 16 Abs. 1 Satz 2 VersG NRW. Die Betroffenen müssen sich in der Versammlung („bei“), auf dem Weg zur oder von der Versammlung weg befinden („im Zusammenhang“). § 16 VersG NRW geht den polizeigesetzlichen Regelungen zum Einsatz technischer Mittel vor. Ein Rückgriff auf diese Vorschriften (etwa auf die Befugnis zum Einsatz einer sog. Bodycam, § 15 c PolG NRW) ist nicht statthaft. Der Einsatz der technischen Mittel muss dabei zwingend offen erfolgen, vgl. § 16 Abs. 3 Satz 1. Offen bedeutet objektiv erkennbar (z. B. aufgrund von einer Wahrnehmbarkeit der eingesetzten technischen Mittel, Durchsagen usw.).[2] Eine positive Kenntnis der Betroffenen ist aber nicht erforderlich.[3]

Übersichtsaufnahmen

In § 16 Abs. 2 Satz 1 VersG NRW sind Übersichtsaufnahmen geregelt. Dabei handelt es sich um Aufnahmen einer Personengruppe, die nicht mit dem Ziel der Individualisierung oder Identifizierung einer Person angefertigt und in Echtzeit übertragen, aber nicht gespeichert werden.[4] Übersichtsaufnahmen dienen auch dem Schutz der Versammlungsteilnehmer. So kann bei einer Beobachtung von oben frühzeitig erkannt werden, wenn es an einer verengten Stelle zu Panik oder einem Gedränge kommen sollte.[5] Übersichtsaufnahmen dürfen angefertigt werden, wenn dies zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes wegen der Größe oder Unübersichtlichkeit[6] der Versammlung im Einzelfall erforderlich ist. Diese Formulierung wurde einer Entscheidung des BVerfG zum BayVersG entnommen,[7] ist hinreichend bestimmt[8] und in genau dieser Form auch in anderen Landesversammlungsgesetzen anzutreffen.[9]

Weitere einengende Tatbestandsmerkmale, wie etwa in § 16 Abs. 2 S. 2 VersFG SH vorgesehen,[10] sind dagegen verfassungsrechtlich nicht angezeigt. Übersichtsaufnahmen müssen gem. § 16 Abs. 3 Satz 1 VersG NRW offen erfolgen. Der Herstellung der gebotenen Offenheit dient in zentraler Weise die Information der Versammlungsleitung über den Technikeinsatz, die in § 16 Abs. 3 Satz 2 VersG NRW verpflichtend geregelt ist. Nur nach Maßgabe des § 16 Abs. 2 Satz 2 bzw. Satz 3 VersG NRW (Tatsachen rechtfertigen die Annahme einer erheblichen Gefahr) sind Übersichtsaufzeichnungen bzw. eine Identifizierung der abgebildeten Personen zulässig. (…)

Verdeckte Datenerhebung

Verfassungsrechtlich problematisch[11] ist die Regelung in § 16 Abs. 3 Satz 2 VersG NRW, wenn dort eine ausnahmsweise verdeckte Datenerhebung zum Schutz eingesetzter Polizeibeamter im Falle einer Gefahr für Leib und Leben vorgesehen ist. Denn der verdeckte Einsatz technischer Mittel ist mit Blick auf die innere Versammlungsfreiheit in aller Regel unzulässig[12]; wenn überhaupt nur unter engen Voraussetzungen ausnahmsweise gestattet[13]. Teilweise werden in der Literatur Ausnahmen erkannt, etwa wenn von Veranstalterseite „konspirativ“ vorgegangen wird.[14] Insoweit ist aber bereits das Merkmal „konspirativ“ viel zu unscharf. Im Übrigen ist eine solche Ausnahme nicht erforderlich. Denn in aller Regel können alternativ mildere offene Datenerhebungsmaßnahmen von oben (insbesondere durch den Einsatz von Drohnen) erfolgen, bei denen eine Gefährdung der eingesetzten Polizeibeamten stets ausgeschlossen ist.

Regelungen zum Umgang mit den erhobenen Daten

In § 16 Abs. 4 bis 8 VersG NRW sind besondere Verfahrensvorschriften in Bezug auf den datenschutzkonformen Umgang (Unterrichtungspflichten, zulässige Zweckänderungen, Dokumentationspflichten usw.) mit den erhobenen Daten geregelt. Diese entsprechen – mit kleineren Abweichungen – weitestgehend dem Musterentwurf.[15] Eine solche Abweichung enthält § 16 Abs. 5 Nr. 1 VersG NRW. Diese – an sich zutreffende – Befugnis zur Zweckänderung der nach § 16 Abs. 1 und 2 VersG NRW erhobenen Daten zu repressiven Zwecken ist unglücklich formuliert, wenn sie auf die Verfolgung von Straftaten der Versammlungsteilnehmer beschränkt wird. Denn nach dem Wortlaut der Regelung dürften Aufzeichnungen, die Informationen zur Verfolgung von Straftaten von Nicht-Versammlungsteilnehmern enthalten (bspw. Angriffe auf Versammlungsteilnehmer), nicht verwendet werden.

Dies macht keinen Sinn, da den verdächtigen Nicht-Versammlungsteilnehmern in diesen Fällen ein geringerer grundrechtlicher Schutz zukommt. Insoweit ist die Vorschrift so auszulegen, dass auch eine Zweckänderung zur Verfolgung von Straftaten von Nicht-Versammlungsteilnehmern möglich ist. Zutreffend ist diesbezüglich die Formulierung des Musterentwurfs gefasst. Dort ist eine Zweckänderung allgemein „zur Verfolgung von Straftaten in oder im Zusammenhang mit der Versammlung“ zulässig.[16] (…)

Fazit

Bis auf die verfassungsrechtlich problematische Regelung zu dem ausnahmsweise zulässigen verdeckten Einsatz technischer Mittel zur Eigensicherung enthalten die Neuregelungen in § 16 und § 26 VersG NRW in Bezug auf den Grundrechtsschutz der Betroffenen angemessene und aus Sicht der polizeilichen Praxis gut handhabbare Regelungen. Der Gesetzgeber hat gut daran getan, sich bei Fassung der Eingriffsbefugnisse stark am vom „Arbeitskreis Versammlungsrecht“ erarbeiteten Musterentwurf eines Versammlungsgesetzes zu orientieren. Die Regelungen im Musterentwurf basieren im Kern auf der entsprechenden Vorschrift im Bayerischen Versammlungsgesetz, die im Jahr 2009 Gegenstand einer Entscheidung des BVerfG[17] war und den Vorgaben des Gerichts entsprechend angepasst wurde.

 

Den kompletten Beitrag lesen Sie im Deutschen Polizeiblatt, 06/2022, S. 16.

[1] So die Rechtsprechung des BVerfG, NVwZ 2009, 441 LS 2 S. 1 und Rn. 134; BVerfG, NJW 2016, 1781; dazu Möstl, DVBl. 2010, 808 ff.

[2] Gusy, NVwZ 1991, 614, 616.

[3] Teils strittig, vgl. Kniesel, Die Polizei 2017, 33 ff.

[4] Wächtler/Heinhold/Merk, BayVersG, 2011, Art. 9 Rn. 28.

[5] Tegtmeyer/Vahle, PolG NRW, 12. Aufl. 2018, § 15 Rn. 11.

[6] Diese ist gegeben, wenn die Versammlung aufgrund ihrer Größe, wegen der Beschaffenheit des Versammlungsortes (z. B. Sichthindernisse, verwinkelter Streckenverlauf) oder der Art und Weise der Durchführung der Versammlung (z. B. weiter auseinanderstehende Gruppen) nicht überblickt werden kann.

[7] BVerfGE 122, 342, 373.

[8] VerfGH Berlin, NVwZ-RR 2014, 577, 580.

[9] Vgl. Art. 9 Abs. 2 BayVersG und § 20 Abs. 2 SächsVersG.

[10] „Tatsächliche Anhaltspunkte, die die Annahme rechtfertigen, dass eine erhebliche Gefahr besteht“, dazu kritisch Braun, Stellungnahme 17/3815 S. 15.

[11] Vgl. Braun, LT-Stellungnahme 17/3815, S. 16.

[12] Koranyi/Singelnstein, NJW 2011, 124, 127.

[13] Henninger, DÖV 1998, 719.

[14] Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des PolR, 7. Aufl. 2021, Kap. J Rn. 386.

[15] Enders/Hoffmann-Riem/Kniesel/Schulze-Fielitz/ Hong, Arbeitskreis Versammlungsrecht, MEVersG, 2010.

[16] Dazu Enders u. a., ME VersG, S. 50.

[17] BVerfG, DVBl. 2001, 454; dazu Papier, BayVBl. 2010, 225, 233.

 

Prof. Dr. Frank Braun

Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Münster
n/a