13.02.2023

Rechtsgrundlage für Vorfeldkontrollen im Versammlungsgeschehen

VG Weimar, Urt. v. 01.04.2019 – 1 K 46/18

Rechtsgrundlage für Vorfeldkontrollen im Versammlungsgeschehen

VG Weimar, Urt. v. 01.04.2019 – 1 K 46/18

Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV

Sachverhalt:

Am 1.7.2017 wurden in E im Vorfeld einer Versammlung der Partei „Die Rechte“ Kontrollstellen eingerichtet. An einer dieser Kontrollstellen sollte K körperlich durchsucht werden. Da er sich weigerte, wurde ihm der Zutritt zum Versammlungsgelände verwehrt. Nach erfolgloser Fortsetzungsfeststellungsklage vor dem VG Weimar – Urt. v. 1.4.2019, 1 K 46/18 – wurde die Zulassung der Berufung beantragt.

GG – Art. 8 Abs. 1, 19 Abs. 1 Satz 2


BVersG – §§ 15, 27

ThürPAG – §§ 14 Abs. 1 Nr. 4, 23 Abs. 1 Nr. 4

1 Bei Vorfeldkontrollen, die einen Eingriff in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit darstellen, ist die Ausstrahlungswirkung des Art. 8 Abs. 1 GG auf die anzuwendende Schrankennorm zu berücksichtigen.

2 Einer Gefahrenprognose müssen konkrete und nachvollziehbare Anhaltspunkte zugrunde liegen. Bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen nicht aus.

3 Einwendungen hinsichtlich einer Missachtung des Zitiergebots dürfen nicht lediglich pauschal erhoben werden, sondern müssen sich zumindest ansatzweise mit Rechtsprechung und Literatur zu Anwendungsbereich und Reichweite des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG befassen.

Oberverwaltungsgericht Thüringen (Beschl. v. 22.12.2021 – 3 ZKO 417/19 – Verlags-Archiv Nr. 22-11-01)

Aus den Gründen:

Der Antrag des K auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des VG Weimar vom 1.4.2019 ist zulässig (§ 124a Abs. 4 VwGO), hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. K verfolgt mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung seine in erster Instanz erfolglose Fortsetzungsfeststellungsklage gegen die Durchsuchung seiner Person weiter.

Ihm war am 1.7.2017 im Vorfeld einer Versammlung der Partei „Die Rechte“ in E an einer Kontrollstelle am Hauptbahnhof von den anwesenden Polizei-beamten bedeutet worden, dass er sich körperlich durchsuchen lassen müsse. Der Kläger weigerte sich. Daraufhin wurde ihm der Zutritt zum Versammlungsgelände verwehrt.

Die vorgetragenen Einwände des K geben keinen Anlass zu ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit des Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Diese bestehen dann, wenn ein einzelner, die Entscheidung tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wer-den. Dies erfordert entsprechend der Darlegungspflicht nach § 124a Abs. 4 Satz 3 VwGO, dass sich der Rechtsmittelführer mit der angegriffenen Entscheidung auseinandersetzt, also aufzeigt, warum die Entscheidung aus seiner Sicht im Ergebnis unzutreffend ist.

Ernsthafte Zweifel in diesem Sinne bestehen nicht mit Blick darauf, dass das VG § 23 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 14 Abs. 1 Nr. 4 ThürPAG für die taugliche Rechtsgrundlage für die Durchsuchung des Klägers hält. Damit verkennt das VG nicht die Reichweite des Versammlungsrechts gegenüber dem lückenfüllenden allgemeinen Polizeirecht (sog. Polizeirechtsfestigkeit der Versammlungsfreiheit).

Da das BVersG insbesondere keine Befugnis enthält, Kontrollen durchzuführen, ist es hinsichtlich Maßnahmen vor Beginn einer Versammlung nicht abschließend. Die Polizeirechtsfestigkeit der Versammlungsfreiheit hindert im Vorfeld nicht, auf das jeweilige Landespolizeigesetz zurückzugreifen. Das VG betont ausdrücklich, dass sich auch Maßnahmen im Vor-feld von Versammlungen an Art. 8 Abs. 1 GG messen lassen müssen, und verkennt damit auch nicht die Bedeutung der grundgesetzlich geschützten Versammlungsfreiheit im Vorfeld einer Versammlung.

Nicht zum Erfolg führt auch der Einwand des Klägers, das VG sei davon ausgegangen, dass seine Weigerung, sich in der Kontrollstelle vor der Versammlung körperlich durchsuchen zu lassen, ihn nicht an der Teilnahme der Versammlung gehindert habe. Das VG hat vielmehr zu Recht dargelegt, dass im Vorfeld einer Versammlung erfolgte Maßnahmen gegenüber Einzelnen grundsätzlich jedenfalls dann nicht vom Vorrang des Versammlungsrechts gegenüber dem allgemeinen Polizeirecht erfasst werden, wenn keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass durch die Maßnahme gerade die Teilnahme an der Versammlung verhindert werden soll. Das Vorliegen solcher Anhaltspunkte hat das VG im Hinblick auf die Durchsuchung des Klägers in nicht zu beanstandender Weise verneint.

Die Ausführungen des K greifen auch insoweit nicht durch, als sie auf die Anforderungen an die verwaltungsgerichtliche Überprüfung der polizeilichen Gefahrenprognose zielen. Die Polizei hat bei Durchsuchungsmaßnahmen an einer Kontrollstelle nach § 23 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 14 Abs. 1 Nr. 4 ThürPAG eine solche Prognose mit Blick auf zu erwartende Straftaten im Sinne von § 100a StPO oder § 27 BVersG anzustellen.

Bei der Anwendung allgemeiner polizeirechtlicher Befugnisnormen für Vorfeldmaßnahmen, die den freien Zugang zu der Versammlung behindern und insofern einen Eingriff in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit darstellen, ist dabei die Ausstrahlungswirkung von Art. 8 Abs. 1 GG auf die gesetzliche Schrankennorm zu berücksichtigen. Deshalb muss in angemessener Weise die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Versammlungsfreiheit berücksichtigt werden und dürfen keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose gestellt wer-den.

Die Ausstrahlungswirkung des Art. 8 Abs. 1 GG ist bereits auf der Tatbestandsebene bei der Auslegung und Anwendung der dort jeweils normierten Rechts-begriffe und damit auch der Gefahrenprognose zu beachten. Dieser müssen konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte zugrunde liegen, dass Straf-taten i.S.d. § 14 Abs. 1 Nr. 4 ThürPAG gerade auch durch die Versammlungsteilnehmer drohen. Bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen hierzu nicht aus. Dabei dürfen Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen als Indizien herangezogen werden, soweit sie bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen.

Ernstliche Zweifel an der Überprüfung der polizeilichen Gefahrenprognose durch das VG sind nicht dargelegt. Die Prognose konnte sich insbesondere auf Ereignisse stützen, die sich nur zwei Monate vor der Versammlung in E im nahe gelegene A ereignet hatten. Als Reaktion darauf, dass eine in H angemeldete Demonstration durch Gegendemonstrationen gestört worden war, führten Teilnehmer dieser Versammlung einen nicht angemeldeten Aufzug durch die Stadt A durch, der einen gewalttätigen Verlauf nahm. Bei den daraufhin festgenommenen Personen wurden u.a. diverse Vermummungsgegenstände, eine Atemschutzmaske, zwei Nothämmer, drei Schutzbrillen, drei Paar Handschuhe, zehn Schlauchschals, ein Paar Einweghandschuhe, drei Schutzbrillen und ein Silvesterfeuerwerk sichergestellt. Insgesamt war ein sehr hohes Gewaltpotenzial zu verzeichnen.

Es bestanden daher für die Polizei konkrete Anhaltspunkte dafür, dass auch im Zuge der Versammlung am 1.7.2017 in E entsprechende Gegenstände von Demonstrationsteilnehmern mit sich geführt und Straftaten i.S.d. § 27 BVersG begangen werden würden. Die Versammlung in E wurde von einem Teilnehmer des Aufzugs in A für die Partei „Die Rechte“ angemeldet, und es war von einem sich überschneidenden Teilnehmerkreis aus der Anhängerschaft der Partei zu rechnen. Die Ähnlichkeit des Mottos konnte für die Gefahrenprognose nicht relevant sein, da für den spontanen Aufzug in A ein Motto gar nicht benannt worden war.

Von Bedeutung für die Ähnlichkeit der Versammlungen musste hingegen angesichts der Gewalteskalation in A als Reaktion auf Gegendemonstrationen in H am 1.5.2017 der Umstand sein, dass bei der Stadt E durch verschiedene Anmelder für den 1.7.2017 sieben Versammlungen unter freiem Himmel angemeldet wurden, die allesamt als Gegendemonstrationen eingestuft wurden. Zu Recht – und ohne dass dies vom Kläger mit seinem Vortrag substantiiert in Frage gestellt wird – gelangt das VG zu dem Ergebnis, dass es für die Bejahung einer Gefahr der Begehung von Straftaten i.S.d. § 27 BVersG als Grundlage für die Durchsuchungsmaßnahme gerade nicht darauf ankommt, ob der Kläger selbst Teilnehmer des Aufzuges in A war, bei dem es zu den oben genannten Ausschreitungen gekommen war.

Schließlich hat der Kläger keine ernsthaften Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils mit Blick darauf, dass das VG einen Verstoß der §§ 14, 23 Thür-PAG gegen Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG verkennen würde, dargelegt. Dieser rechtliche Einwand wird pauschal erhoben, ohne sich ansatzweise mit der Rechtsprechung und Literatur zu Anwendungsbereich und Reichweite des verfassungsrechtlichen Zitiergebotes zu befassen.

So bleibt der dem Anwendungsbereich des Zitiergebots möglicherweise entgegenstehende Umstand völlig unberücksichtigt, dass mit der Durchsuchung an der Kontrollstelle die Polizei nicht die Einschränkung des Grund-rechts der Versammlungsfreiheit beabsichtigt, sondern diese nur als unbeabsichtigte Nebenfolge in Kauf nimmt. Der Zulassungsgrund der Divergenz durch Abweichung des Urteils des VG Weimar von einer Entscheidung des BVerfG, § 124 Abs. 1 Nr. 4 VwGO, wird vom Kläger nicht hinreichend dargelegt.

Eine Divergenz im Sinne dieses Zulassungsgrundes setzt voraus, dass das VG mit einem seiner Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz zu derselben Rechtsvorschrift zu einem in der Rechtsprechung des Thüringer OVG, des BVerwG, des gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG aufgestellten Rechtssatz in Widerspruch tritt. Die verwaltungsgerichtliche Entscheidung muss im Ergebnis auf eine in diesem Sinne entscheidungserhebliche Rechtsauffassung gestützt sein. Dies bedeutet, dass das VG für das Vorliegen dieses Zulassungsgrundes einen von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweichenden Rechtssatz hätte aufstellen müssen.

Es reicht nicht aus, wenn das VG einen entscheidungserheblichen Rechtssatz im zu entscheidenden Fall nicht oder lediglich fehlerhaft anwendet. Die Darlegung dieses Zulassungsgrundes erfordert neben der genauen Angabe der Entscheidung, von der das VG abgewichen sein soll, auch die klare und zutreffende Bezeichnung und Wiedergabe der im Widerspruch stehenden inhaltlich bestimmten, divergierenden, abstrakten Rechtssätze in der angefochtenen Entscheidung einerseits und in der Entscheidung eines divergenzfähigen Gerichts andererseits. Weiter ist auszuführen, worin die Abweichung gesehen wird und warum das Urteil auf der festgestellten Abweichung beruht. Unter anderem diesen Anforderungen genügen die Ausführungen des Klägers zur Begründung des Zulassungsantrags nicht.

Anmerkung:

Vorfeldkontrollen gehören zu den anerkannten polizeitaktischen Instrumenten im Versammlungsgeschehen. Die grundsätzliche Zulässigkeit der Maßnahme wird da-her auch dann nicht in Frage gestellt, wenn damit ein Eingriff in das Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG verbunden ist (vgl. Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, 2020, Ver-sammlungsrecht, 5. Aufl., S. 357). Im Geltungsbereich des BVersG ist es allerdings umstritten, welche Rechtsgrundlage dafür herangezogen werden kann, da das Ge-setz selbst keine Regelung enthält.

Anders ist die Rechtslage zurzeit nur in Schleswig-Holstein, Berlin und Nordrhein-Westfalen sowie ansatzweise in Niedersachsen (vgl. nur Knape/Brenneisen, 2021, Versammlungsfreiheitsgesetz Berlin, § 17, Rn. 1).  In der Literatur werden berechtigte Zweifel erhoben, ob trotz der bestehenden Regelungslücke das allgemeine Polizeirecht anwendbar ist (vgl. Becker/Brüning, 2022, Öffentliches Recht in Schleswig-Holstein, 2. Aufl., S. 239; Deiseroth/Kutscha, in: Breitbach/Deiseroth, 2020, Versammlungsrecht, 2. Aufl., S. 372; Hettich, 2018, Ver-sammlungsrecht in der Praxis, 2. Aufl., S. 132). Dies gilt insbesondere dann, wenn dort das Zitiergebot aus Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG nicht berücksichtigt worden ist (vgl. BVerfGE 150, 244; 150, 309).

Diese Problematik hat der Senat in der vorliegenden Entscheidung zwar aufgegriffen, zugleich jedoch darauf hingewiesen, dass Einwendungen hinsichtlich einer Missachtung des Zitiergebots durch den Kläger nicht lediglich pauschal erhoben werden dürfen, sondern sich zumindest ansatzweise mit Rechtsprechung und Literatur zu Anwendungsbereich und Reichweite des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG befassen müssen. Im Ergebnis hatte der Antrag also wohl vorrangig aufgrund des unzureichend begründeten Zulassungsantrages keinen Er-folg.

In der Sache sollte daher in vergleichbaren Konstellationen, trotz ebenfalls vorhandener rechtssystematischer Schwächen, über den Erst-Recht-Schluss „argumentum a maiore ad minus“ unter den einschränkenden Bedingungen der Ergänzungs-theorie des BVerwG (BVerwGE 64, 55) begründet werden (Brennei-sen/Wilksen/Staack/Martins, 2020, Versammlungsrecht, 5. Aufl., S. 366).

Kontrollen sind als Minusmaßnahme zu Verbot oder Auflösung zu bewerten und im Rahmen des verfassten Übermaßverbots vorrangig einzusetzen. Schließlich ist die Verwaltung gehalten, versammlungsfreundlich zu verfahren und nicht ohne zureichenden Grund hinter bewährten Erfahrungen zurückzubleiben (BVerfGE 69, 315).

Als Rechtsgrundlage wäre im vorliegenden Fall damit § 15 BVersG i.V.m. §§ 14 Abs. 1 Nr. 4, 23 Abs. 1 Nr. 4 ThürPAG einschlägig gewesen.

 

Entnommen aus dem Neuen Polizeiarchiv, 11/2022, Lz. 104.

 

Prof. Hartmut Brenneisen

Prof./Ltd. Regierungsdirektor a. D., Preetz
n/a