15.12.2014

Tarifeinheit oder -pluralität?

Das Tarifeinheitsgesetz könnte die Karten neu mischen

Tarifeinheit oder -pluralität?

Das Tarifeinheitsgesetz könnte die Karten neu mischen

Tarifeinheit oder -pluralität? | © snyggg.de - Fotolia
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Das Tarifeinheitsgesetz als Reform des Tarifrechts? Diese Frage ist hoch umstritten und angesichts der jüngsten Arbeitskämpfe – insbesondere bei der Bahn mit der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) einschließlich des Konflikts um die Zuständigkeit für die von der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) vertretenen Zugbegleiter – so gut wie jedem präsent.

Ein anstehendes Gesetzgebungsverfahren könnte die Karten neu mischen.

Gut Ding will Weile haben

Tarifkollisionen begegnet man auf zwei Arten:


  • Finden mehrere Tarifverträge unterschiedlicher Tarifvertragsparteien auf ein Arbeitsverhältnis Anwendung, spricht man von Tarifkonkurrenz. In diesen Fällen ist eine Auflösung zwingend, um z. B. zu klären, welche Arbeitszeit- oder Urlaubsregelung für das Arbeitsverhältnis gilt.
  • Bestehen hingegen mehrere Tarifverträge unterschiedlicher Tarifvertragsparteien innerhalb eines Betriebes für unterschiedliche Gruppen von Arbeitnehmern, spricht man von Tarifpluralität.

Um Tarifpluralität ging es in der Rechtsprechungsänderung des 4. Senats des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Urt. v. 07. 04. 2010 – Az. 4 AZR 549/08), welche den Grundsatz „ein Betrieb, ein Tarifvertrag(swerk)” aufgegeben hat. Und um diese geht es in dem Entwurf eines Gesetzes zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz), der in einer ersten Fassung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 28. 10. 2014 und in einer vor allem in der Begründung veränderten zweiten Fassung vom 04. 11. 2014 vorliegt.

Nach Aufgabe der Tarifeinheits-Rechtsprechung im Sommer 2010 gab es bereits erste positive Signale von Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Arbeitgebertag im November 2010 („Ich persönlich bin davon überzeugt, dass es eine Regelungsnotwendigkeit gibt.”). Dennoch dauerte es ganze vier Jahre, bis nun endlich ein Referentenentwurf vorliegt. Der Entwurf soll am 11. 12. 2014 im Bundeskabinett beraten werden und nach vorläufigem Zeitplan Mitte 2015 in Kraft treten.

Das wären beachtliche fünf Jahre nach der Rechtsprechungsänderung. Gut Ding will Weile haben – aber kann der Entwurf überzeugen?

Referentenentwurf – Konzeption

Als Kernvorschrift will ein neuer § 4a Tarifvertragsgesetz (TVG) Tarifkollisionen vermeiden. Nach dessen Absatz 2 Satz 1 sollen bei kollidierenden Tarifverträgen nur die Rechtsnormen des Tarifvertrages derjenigen Gewerkschaft anwendbar sein, welche zum Abschlusszeitpunkt in dem Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder vorweisen kann und insofern repräsentativer ist.

Flankierend sieht Absatz 4 einen Anspruch der Minderheitsgewerkschaft auf „Nachzeichnung” des erfolgreichen Tarifvertrages durch Anschlusstarifvertrag vor und schließlich räumt Absatz 5 Gewerkschaften generell das Recht auf Anhörung durch die Arbeitgeberseite ein.

Entsteht Streit darüber, welcher Tarifvertrag anwendbar, also welche Gewerkschaft betrieblich repräsentativer ist, soll dies durch arbeitsgerichtliches Beschlussverfahren vergleichbar demjenigen für Streitigkeiten über die Tarifzuständigkeit und -fähigkeit (§ 97 Arbeitsgerichtsgesetz – ArbGG) oder dem neuen Verfahren zur Feststellung der Wirksamkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung (§ 98 ArbGG) entschieden werden (vorgesehen für § 99 ArbGG). Die Beschlüsse in diesen Verfahren wirken erga omnes und führen somit zu einer abschließenden Klärung.

Der Entwurf stellt – anders als vielleicht erwartet – nicht lediglich die vom 4. Senat des Bundesarbeitsgerichts für verfassungswidrig erachtete alte Rechtslage der „Tarifeinheit” wieder her. Bis zu der Rechtsprechungsänderung wurde Tarifpluralität regelmäßig dahingehend aufgelöst, dass nur der speziellere Tarifvertrag zur Anwendung kommt. Das ist der Tarifvertrag, der dem Betrieb räumlich und fachlich am nächsten steht und dadurch den Eigenarten des Betriebes und zugleich den Beschäftigten am besten gerecht wird.

Tarifpluralität ausdrücklich geregelt

Im Gegenteil wird in dem Referentenentwurf Tarifpluralität ausdrücklich als möglich angesehen (§ 4a Absatz 2 Satz 1 TVG-Entwurf). Auch sollen Tarifkollisionen nur aufgelöst werden, „soweit” sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden. Möglicherweise kann der Wortlaut hier noch präzisiert werden, da sich diese Konzeption erst in Verbindung mit der Begründung klar erschließt. Soweit ersichtlich, gehen bereits veröffentlichte Stellungnahmen auch auf diesen Aspekt ein, z. B. diejenige des Deutschen Anwaltvereins (DAV) vom 18. 11. 2014.

Dieses Grundverständnis einer möglichen Tarifpluralität findet sich seit Inkrafttreten des „Tarifautonomiestärkungsgesetzes” bereits in § 5 Abs. 4 TVG, welcher anordnet, dass auch anderweitig tarifgebundene Arbeitgeber diejenigen Tarifverträge über gemeinsame Einrichtungen (§ 4 Absatz 2 TVG) anzuwenden haben, welche nach § 5 Absatz 1a TVG für allgemeinverbindlich erklärt worden sind.

Eingriff in Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz?

Verständlicherweise haben sich unter den Gegnern einer gesetzlichen Regelung der Tarifeinheit Spartengewerkschaften wie die GDL schnell in Stellung gebracht. Besondere Kreativität ist dafür aktuell nicht mehr erforderlich, geht es doch wesentlich um die Verteidigung der o.g. Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts. Auch dieser Entscheidung ging eine breite Diskussion des Themas voraus, denn der damalige Vorsitzende Richter des 4. Senats, Prof. Klaus Bepler, gab weit vor dem Urteil entsprechende Signale und entfachte eine Auseinandersetzung mit dem Thema von ungeahnter Tiefe. Die meisten Argumente für und gegen eine gesetzliche Regelung liegen daher vor.

Allgemein ist festzustellen, dass die Verdrängung von Tarifverträgen durch den – bisher ungeschriebenen – Grundsatz der Tarifeinheit Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz berührt. Mit ausschlaggebend für die Rechtsprechungsänderung war der mögliche Eingriff in die positive Koalitionsfreiheit: Arbeitnehmer, die bei derjenigen Gewerkschaft organisiert sind, deren Tarifvertrag gegenüber einem spezielleren zurücktritt, fallen auf den Status eines Nichtorganisierten zurück, denn für sie gilt weder der verdrängte Tarifvertrag der eigenen Gewerkschaft noch – mangels Gewerkschaftsmitgliedschaft – der speziellere Tarifvertrag. Ließe sich dies zwar durch Gewerkschaftswechsel oder Doppelmitgliedschaft individuell lösen, berührte ein damit verbundener faktischer Druck die negative Koalitionsfreiheit.

Betroffen ist freilich auch die Betätigungsgarantie der Koalitionen, deren Tarifabschluss ohne Wirkung bleibt. So kommt ein Gutachten von Prof. Dr. Dr. Di Fabio im Auftrag der Ärztegewerkschaft Marburger Bund u. a. zu dem Ergebnis, dass eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit einen Eingriff in den Kernbereich der Koalitionsfreiheit darstelle, der nur durch nachweisbar schwere und konkrete Gefahren für überragend wichtige Gemeinschaftsgüter zu rechtfertigen sei. Selbst in Anbetracht jüngerer Spartenstreiks wie jene der Piloten und Lokführer dürfte diese hohe Messlatte des ehemaligen Verfassungsrichters nicht annähernd berührt sein.

Zwar betrachtet das Gutachten die Fragestellung weit vor dem jetzigen Referentenentwurf. Eine gemeinsame Initiative der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) aus dem Jahr 2010 beinhaltete aber bereits einen der Kernregelung in § 4a Absatz 2 Satz 1 TVG-Entwurf sehr ähnlichen Vorschlag und lag dem Gutachten zugrunde. Nur am Rande sei angemerkt, dass sich mit Hans-Jürgen Papier bereits zuvor ein ehemaliger Verfassungsrichter mit dem Thema befasst hat und unter Hinweis auf große Beurteilungsspielräume des Gesetzgebers zu einem gegenteiligen Ergebnis gekommen ist.

Rechtfertigungsargumente der Begründung

Die Begründung des Referentenentwurfs nennt wesentliche Argumente, die für Tarifeinheit sprechen und im Rahmen der Verhältnismäßigkeit eines möglichen Eingriffs in die Koalitionsfreiheit zu gewichten sein werden:

  • Tarifpluralität beeinträchtige die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie.
  • Sie stehe einer widerspruchsfreien Ordnung der Arbeitsbeziehungen im Betrieb entgegen.
  • Die Kohärenz des Entgeltsystems („innerbetriebliche Lohngerechtigkeit”) könne in Mitleidenschaft gezogen werden und innerbetriebliche Verteilungskämpfe könnten den Betriebsfrieden stören.
  • Die Entsolidarisierung von Arbeitnehmern ohne bestimmte Schlüsselpositionen sei zu verhindern – diese seien dann selbst nicht mehr in der Lage, mit dem Arbeitgeber auf Augenhöhe zu verhandeln. Insoweit handele es sich um einen schleichenden Prozess, dessen – auch gesamtwirtschaftlichen – Auswirkungen schwer rückgängig gemacht werden könnten.
  • Ein bereits tarifgebundener Arbeitgeber könne sich jederzeit weiteren Forderungen konkurrierender Gewerkschaften gegenübersehen.
  • Schließlich könnten Tarifkollisionen in Krisenzeiten gesamtwirtschaftlichen Belangen und somit dem öffentlichen Interesse zuwiderlaufen.

Mögliche Auswirkungen

Anschaulich können die Auswirkungen des Tarifeinheitsgesetzes am Beispiel des aktuellen Tarifkonflikts bei der Bahn skizziert werden: Bezogen auf Zugbegleiter, für die sowohl GDL als auch EVG die Verhandlungshoheit beanspruchen, wären als Ergebnis zwei Tarifverträge denkbar. Während unterschiedliche Entgelte für den Arbeitgeber noch relativ einfach zu handhaben wären, könnte es bei unterschiedlichen Arbeitszeiten äußerst komplex werden. Betriebsbezogen müsste also für die Zugbegleiter nach ihrer Gewerkschaftsmitgliedschaft differenziert werden. Daran kann kein Arbeitgeber ein Interesse haben.

Nach § 4 a Absatz 2 Satz 1 TVG-Entwurf müssten – soweit die Regelungen kollidieren – diejenigen des Tarifvertrages der Mehrheitsgewerkschaft im Betrieb anzuwenden sein. Ein alternativer Vorschlag der Wissenschaft stellt übrigens stattdessen für die Repräsentativität „dynamisch” auf eine Betrachtung nur des Überschneidungsbereichs ab. Das würde Spartengewerkschaften sicherlich in stärkerem Maße als bisher begünstigen. Maßgeblich für die Repräsentativität ist der Zeitpunkt des letzten Tarifabschlusses. Daraus wird man ableiten können, dass der Referentenentwurf tatsächlich keine Eingriffe in das Streikrecht vornimmt. Denn wenn erst zum Zeitpunkt des letzten Abschlusses die Mehrheitsverhältnisse festzustellen sind, wird die Arbeitsgerichtsbarkeit einen Arbeitskampf um einen solchen Abschluss kaum mit dem Argument für rechtswidrig erachten können, der durchzusetzende Vertrag komme nach der Repräsentativität nicht zur Anwendung.

Kampf um Mitglieder

Abgesehen von Fragen des Betriebsbegriffs, der hier wegen sich abzeichnender Änderungen in dem Gesetzgebungsverfahren außer Betracht bleiben soll, kann dies in der Praxis zu einem Wettlauf um die Mitgliedschaft führen. Schließt z. B. die EVG zuerst ab, könnte die GDL versuchen, mit einer besonders harten Verhandlung Mitglieder zu gewinnen und das Rennen um die Repräsentativität betriebsbezogen noch für sich zu entscheiden.

Streit im Tatsächlichen zeichnet sich bei knappen Mehrheitsverhältnissen ab. Die vorgesehene Ergänzung in § 58 Absatz 3 ArbGG zum Beweis über die Zahl der Mitglieder im Betrieb durch öffentliche Urkunde (§ 415 Zivilprozessordnung) – also hier durch notarielle Erklärung – wird sich erst als praktikabel erweisen müssen, zumal die Feststellungen betriebsbezogen erfolgen müssen und die Nachprüfbarkeit an der Verschwiegenheitspflicht über die Identität von Gewerkschaftsmitgliedern leiden könnte. Die doppelte Gewerkschaftsmitgliedschaft mag eher nicht praxisrelevant sein, sie könnte aber die Plausibilitätskontrolle der Gesamtzahl der Mitglieder gemessen an der Arbeitnehmerzahl im Betrieb erschweren. Ob ruhende Arbeitsverhältnisse oder AT-Angestellte mitzählen, wird die Rechtsprechung wägen müssen.

Bei der Bahn dürfte ein weiteres Problem darin bestehen, dass die Mehrheitsverhältnisse in den ca. 300 Betrieben durchaus unterschiedlich sein könnten. Unter anderem von Prof. Dr. Dr. h. c. Ulrich Preis wurde daher angeregt, auf den Unternehmens- oder Konzernbegriff statt auf den Betriebsbegriff abzustellen.

Nehmen wir an, die EVG setzt sich im Beispiel durch und ein mit der GDL geschlossener Tarifvertrag bleibt auf der Strecke. Dann ist der Zug für die Lokführer noch nicht abgefahren – um im Bild zu bleiben –, sondern der insoweit tariflose Zustand kann durch Nachzeichnung per Anschlusstarifvertrag vermieden werden. Dann läge im Ergebnis kein Eingriff in die positive oder negative Koalitionsfreiheit (mehr) vor und auch die Betätigungsfreiheit wäre am Ende gewahrt. Bezogen auf EVG und GDL erscheint kaum realistisch, dass es zu diesem Ergebnis kommt. Eher dürften Mitglieder der Minderheitsgewerkschaft durch arbeitsvertragliche Inbezugnahme oder „faktisch” mit den Kollegen der Mehrheitsgewerkschaft gleichgestellt werden.

Fazit

Bei näherer Prüfung erweist sich der Referentenentwurf als ein Tarifpluralitätsgesetz, dem ein bemerkenswertes Konzept zugrunde liegt: Um Tarifeinheit nur im Betrieb geht es lediglich für den kleinsten unumgänglichen Bereich einer Überschneidung. Der Entwurf korrigiert nicht die BAG-Rechtsprechung, er entwickelt sie weiter. Die Ansätze für eine Auflösung nach dem Mehrheitsprinzip erscheinen schlüssig und dürften sich – mit Hans-Jürgen Papier – im Bereich des Entscheidungsspielraums des Gesetzgebers bewegen. Ihre Praktikabilität wird sich noch erweisen müssen. Sich abzeichnende Anwendungsschwierigkeiten sind dem Thema immanent. Sie haben sich anders auch nach der alten Rechtsprechung für die Frage der Spezialität im Einzelfall gestellt. Der aktuelle Tarifkonflikt bei der Bahn hätte sich mit dem Tarifeinheitsgesetz kaum nennenswert anders entwickelt. Mit diesem Entwurf dürfte sich – aus Arbeitgebersicht bedauerlicherweise – am Streikrecht nichts ändern.

 

Stefan Brettschneider

Rechtsanwalt, Hauptverband der Deutschen Bauindustrie e.V., Geschäftsführer Geschäftsbereich Tarifund Sozialpolitik, Berlin
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