15.12.2014

Der EGMR als wichtiges Korrektiv

Leitentscheidungen beeinflussen das deutsche Arbeitsrecht wesentlich

Der EGMR als wichtiges Korrektiv

Leitentscheidungen beeinflussen das deutsche Arbeitsrecht wesentlich

Führt kein Orchideendasein mehr: Der EGMR gewinnt zunehmend Einfluss auf das deutsche Arbeitsrecht. | © Unclesam - Fotolia
Führt kein Orchideendasein mehr: Der EGMR gewinnt zunehmend Einfluss auf das deutsche Arbeitsrecht. | © Unclesam - Fotolia

Zugegeben, innerstaatliche Behörden und Gerichte billigten in der Vergangenheit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Art Orchideendasein zu, eine Randexistenz als Hüter der Europäischen Menschen­rechts­konvention, EMRK, die durch das deutsche Grundgesetz weitgehend gedoppelt und überlagert schien.

Auswirkungen auf die Rechtsordnung

Praktische Bedeutung wurde dem EGMR – anders als dem EuGH – kaum zugebilligt. Der EGMR setzt in die Rechtspraxis um, was das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in der ‚Görgülü-Entscheidung’ zur Berücksichtigung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte durch innerstaatliche Organe, insbesondere deutsche Gerichte (Beschluss vom 14. 10. 2004; 2 BvR 1481/04), ausführlich thematisierte.

In dem Beschluss stellte das BVerfG fest, dass die EMRK (samt Zusatzprotokollen) als völkerrechtlicher Vertrag in Deutschland gemäß Art. 59 Abs. 2 GG im Rang eines Bundesgesetzes steht und deshalb von staatlichen Stellen wie anderes Gesetzesrecht ‚im Rahmen der methodisch vertretbaren Auslegung zu beachten sei’, auch wenn die Konvention keinen unmittelbaren Verfassungsrang bekleide.


Das heißt, dass sowohl die EMRK als auch Entscheidungen des EGMR in den Abwägungs- und Willensbildungsprozess nationaler Gerichte und Behörden einzubeziehen sind, so dass es zu einer vorsichtigen und ausbalancierten Auswirkung der EMRK auf die nationale Rechtsordnung kommt.

Mit mehreren Leitentscheidungen hat der EGMR jetzt das deutsche Arbeitsrecht als einen der Kernbereiche des Wirtschaftsrechts entscheidend beeinflusst. Zwei Themenbereiche werden nachfolgend intensiver beleuchtet, um den Einfluss des EGMR auf das deutsche Arbeitsrecht zu analysieren.

EGMR, Urteil vom 23. 09. 2010, Beschwerde-Nr. 1620/03; der Fall Schüth

Arbeitsrechtlich ausgereizt schienen Kündigungsverfahren bei Tendenzbetrieben, also vornehmlich kirchlichen Einrichtungen, wenn der Rechtsstreit darum ging, dass Angestellte gegen innerkirchliche Grundsätze verstießen. Regelmäßig urteilten die Arbeitsgerichte bis hin zum BAG in gefestigter Rechtsprechung, dass Kirchen und Glaubensgemeinschaften unter Verweis auf Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 WRV ihre Angelegenheiten selbständig ordnen und damit der kirchliche Regelkanon zu Recht zum Maßstab der Beschäftigungsverhältnisse gemacht wird. Verstöße gegen innerkirchliche Lehr- und Verkündigungssätze seien zugleich Verstöße gegen Loyalitätspflichten gegenüber dem kirchlichen Arbeitgeber und berechtigten in den meisten Fällen zur Kündigung.

Die Arbeitsgerichte beziehen sich bis heute auf eine Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 04. 06. 1985 zur Wirksamkeit von Kündigungen, die kirchliche Einrichtungen gegen in ihren Diensten stehende Arbeitnehmer wegen der Verletzung von Loyalitätsobliegenheiten ausgesprochen haben (BvR 1703/83, 1718/83 und 856/84). Das Verfassungsgericht hatte daran erinnert, dass die Garantie des Art 137 Abs. 3 WRV für alle einer Kirche zugeordneten Einrichtungen gelten müsse, wenn sie ein Stück des Auftrags der Kirche wahrnehmen, also auch Krankenhäuser, Pflegeheime und Kindergärten.

Im Fall des katholischen Kirchenorganisten Schüth hatte die Kirchenleitung eine Kündigung ausgesprochen, als sie davon Kenntnis erhielt, dass sich Schüth von seiner Frau getrennt und eine außereheliche Beziehung eingegangen war. Die Kirche wertete das Verhalten als Ehebruch und Bigamie, also als schwerwiegenden Verstoß gegen die Grundordnung der katholischen Kirche für den kirchlichen Dienst. Vor den Arbeitsgerichten blieb eine Kündigungsschutzklage erfolglos und auch das Bundesverfassungsgericht entschied unter Berufung auf sein Grundsatzurteil vom 04.06.1985, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen.

Das Urteil des EGMR in der Rechtssache Schüth zeichnet ein wesentlich differenzierteres Abwägungsbild der gegensätzlichen Rechte und Interessen unter Einbeziehung von Art. 8 EMRK, demzufolge jede Person u. a. das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens hat. Der EGMR erinnert daran, dass der weite Begriff der ‚Privatsphäre’ alle Aspekte der persönlichen Entfaltung und der Selbstbestimmung, einschließlich der sexuellen Identität einschließt.

In einer Detailanalyse des BAG-Urteils im Fall Schüth erkennt der EGMR an, dass das Bundesarbeitsgericht (BAG) im Licht der Kriterien des BVerfG und des deutschen Grundgesetzes sowie der sonstigen arbeitsrechtlichen Normen und arbeitsvertraglichen Regelungen eine Abwägung zwischen den konkurrierenden Interessen der Parteien vorgenommen hat. Vermissen ließe die Argumentation jedoch einen wesentlichen Abwägungsaspekt innerhalb der Grundprinzipien der Rechtsordnung, nämlich die nach der EMRK zugesicherten Rechte und Grundfreiheiten und im Fall des Beschwerdeführers insbesondere das Recht auf Achtung des Privatlebens.

Es sei zu konstatieren, dass die Arbeitsgerichte ohne Detailabwägung unter Berücksichtigung des Art. 8 EMRK behaupteten, die Tätigkeit als Organist weise eine große Nähe zum Verkündigungsauftrag der Kirche auf, so dass eine Weiterbeschäftigung nach außen nicht vermittelbar gewesen sei. Zu den Abwägungsgesichtspunkten gehörten u. a. die Schwierigkeiten, die der Beschwerdeführer haben würde, eine neue Stelle zu finden, die Tatsache, dass das Familienleben des Organisten nicht von den Medien aufgegriffen worden war und Schüth auch nicht den Standpunkt der Kirche als solches angegriffen habe. Damit sei sein Verhalten vollkommen seinem Privatleben zuzuordnen.

Der EGMR kommt zu dem Ergebnis, der Arbeitsvertrag mit der Kirche sei von Seiten des Arbeitnehmers keine persönliche Verpflichtung, im Fall einer Trennung von seiner Frau abstinent zu leben, zumal die Stelle eines Organisten keinen gesteigerten Loyalitätspflichten unterworfen sei. Ein zu restriktiv gehandhabter Arbeitsvertrag verletze den Kern des Rechts auf Achtung und Selbstbestimmung des Privatlebens, da keine verhältnismäßige Einschränkung, sondern eine Aushöhlung des Menschenrechts aus Art. 8 EMRK vorgenommen werde.

Die Position des EGMR steht nach Meinung vieler Arbeitsrechtler im Widerspruch zur geübten Rechtspraxis der deutschen Arbeitsgerichte und auch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach grundsätzlich dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht der Vorrang einzuräumen ist.

EGMR, Urteil vom 21. 07. 2011, Beschwerde-Nr. 28274/08; der Fall Heinisch

Der EGMR entschied in einem weiteren wegweisenden Fall, dass die fristlose Kündigung der Altenpflegerin Heinisch nach erfolgter Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber, eine Firmengruppe in gewerkschaftlicher Hand, wegen Verstoßes gegen die Freiheit der Meinungsäußerung, Art. 10 EMRK, ungerechtfertigt war. Der EGMR setzte sich dabei detailliert mit der deutschen Arbeitsgerichtsrechtsprechung und einem Grundsatzurteil des BVerfG zu so genannten ‚Whistleblower – Fällen’ auseinander und spiegelte die angewandten Kriterien in einer umfassenden Abwägung gegen die Menschenrechtsgarantie der Meinungsäußerungsfreiheit des Art. 10 EMRK.

Die Altenpflegerin, angestellt beim staatlich-gewerkschaftlichen Vivantes Netzwerk in Berlin, stritt mit ihrem Arbeitgeber über die Wirksamkeit einer fristlosen, hilfsweise fristgerechten Kündigung vom 09. 02. 2003, die die Pflegeeinrichtung gegenüber der seit dem 22. 08. 2000 dort Beschäftigten u. a. wegen des Erstattens einer Strafanzeige gegen die Geschäftsleitung von Vivantes und der Verteilung eines angeblich diffamierenden Flugblattes in der Öffentlichkeit aussprach.

Heinisch und andere Mitarbeiter hatten seit Anfang 2003 regelmäßig Überlastungsanzeigen an die Geschäftsführung von Vivantes gegeben und darauf hingewiesen, dass die Pflege wegen anhaltenden Personalmangels nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden könne. Auch der medizinische Dienst stellte bei Begehungen Pflegedefizite fest, denen nach Angaben von Heinisch nicht abgeholfen wurde. Über einen Anwalt ließ Heinisch Vivantes mitteilen, dass sie strafrechtliche Folgen für sich fürchte, wenn sie an Pflegemissständen beteiligt sei. Für den Fall des weiteren Untätigbleibens von Vivantes werde Heinisch den Weg einer Strafanzeige als letztes Mittel gehen, um sich selbst zu entlasten. Vivantes wies als Reaktion sämtliche Vorwürfe zurück.

Daraufhin stellte der Anwalt Heinischs Strafanzeige gegen Vivantes und machte darin geltend, Vivantes nehme bewusst und gewollt Pflegemängel in Kauf, verschleiere die gesundheitliche Gefährdung der Heimbewohner und halte die Mitarbeiter dazu an, Leistungen fehlerhaft zu dokumentieren. Die Staatsanwaltschaft Berlin stellte ihre Ermittlungen im Mai 2005 ein, weil sich kein hinreichender Tatverdacht auf Straftaten ergab.

Vivantes kündigte der Altenpflegerin personenbedingt. Heinisch demonstrierte daraufhin mit einem öffentlichen Flugblattprotest gegen ihre Kündigung.

Insbesondere die arbeitsgerichtliche Berufungsinstanz, das LAG Berlin, konstatierte, Heinisch habe ihren Arbeitgeber mit der Flugblattaktion in der öffentlichen Meinung herabgesetzt und bewusst Unwahrheiten verbreitet. Diffamierendes Whistleblowing von vermeintlichen Missständen unter dem Deckmantel der Meinungsäußerungsfreiheit des Art. 5 GG sei von dessen verfassungsrechtlicher Garantie nicht umfasst. Vielmehr sei schon die Strafanzeige gegen Vivantes ein grober Verstoß gegen arbeitsvertragliche Loyalitäts- und Treuepflichten gewesen. Dies zeige sich durch die Tatsache, dass die Anzeige fruchtlos geblieben sei und sich die erhobenen Vorwürfe nicht erhärten ließen. Damit sei erwiesen, dass die Anzeige leichtfertig und mit Schädigungsabsicht erfolgt sei. Ein solches Verhalten verstoße in eklatanter Weise gegen arbeitsvertragliche Treue- und Rücksichtnahmepflichten.

Bereits am 02. 07. 2001 hatte sich das BVerfG mit der Hinweisgeberproblematik in einem Grundsatzurteil beschäftigt (BvR 2049/00). Das BVerfG urteilte, als Indizien für ein unverhältnismäßiges Handeln vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Loyalitätspflicht sei zum einen die Berechtigung einer externen Anzeige und die Motivation des Anzeigenden und zum anderen ein Fehlen des Beschreitens innerbetrieblicher Wege zur Lösung des Problems in die Abwägung der gegensätzlichen Interessen einzubeziehen.

In der Berücksichtigung aller relevanten Abwägungsgesichtspunkte geht der EGMR wie im Fall Schüth über den Kriterienkatalog der deutschen Gerichte hinaus, um entscheiden zu können, ob ein Arbeitnehmer zu Loyalität, Zurückhaltung und Diskretion verpflichtet ist oder Umstände vorliegen, die ein öffentlich vollzogenes Whistleblowing rechtfertigen. Dabei sei zu untersuchen, ob mildere Reaktionsmittel, wie die Nutzung interner Beschwerdekanäle, zur Verfügung gestanden hätten, ob der Hinweisgeber die nach außen getragenen Informationen in zumutbarem Umfang auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft habe, ob er die Strafanzeige in gutem Glauben und als ultima ratio stellte, wie die Motivation des Hinweisgebers zu beurteilen sei und ob bei der Eskalation der unternommenen Schritte der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eingehalten wurde.

Mit dieser Analyse ließ es der EGMR jedoch nicht bewenden. Er führte zwei weitere Kriterien (das öffentliche Interesse und die Arbeitgeberinteressen) ein, die direkt dem Einfluss des Art. 10 EMRK geschuldet sind. In Betracht gezogen werden müsse auch das Ausmaß des öffentlichen Interesses an einer öffentlichen Bekanntmachung von Missständen, da bei einem als hoch einzustufenden öffentlichen Interesse wenige Möglichkeiten zur Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 2 EMRK verblieben. Der EGMR folgert, dass das öffentliche Interesse an Informationen über andauernde Missstände in staatlichen Pflegeheimen in einer demokratischen Gesellschaft i. S. d. Art. 10 Abs. 2 EMRK das Interesse des staatlichen Pflegeheimbetreibers an der Unversehrtheit seiner Reputation überwiegt. Eine Verletzung des Art. 10 EMRK sei gegeben.

Das Fazit

Der EGMR hat mit seinen wegweisenden Entscheidungen nicht nur die EMRK in Erinnerung gebracht, sondern zu einer besonderen Form der Richterrechtsfortbildung im Bereich des nationalen Arbeitsrechts geführt.

In den Kündigungsfällen rund um Tendenzbetriebe ist durch den EGMR die Diskussion neu entfacht worden, wie stark kirchliche Loyalitätspflichten bewertet werden müssen. Die Ausstrahlungswirkung der EMRK und der EGMR-Entscheidungen führt dazu, dass deutsche Arbeitsgerichte zukünftig differenzierter abschichten werden, welche Loyalitätspflichten verletzt wurden, wie verkündigungsnah und innerkirchlich die Stellung der betroffenen Arbeitnehmer tatsächlich ist und wie sich eine Kündigung durch einen Tendenzbetrieb auf das Leben des Gekündigten auswirkt.

Der EGMR hat mit dem Heinisch-Urteil bewirkt, dass eine Überbetonung der Treuepflichten von Arbeitnehmern abgebaut wird und sich die Arbeitsrechtsrechtsprechung in Deutschland unter dem Einfluss der EGMR-Rechtsprechung den bestehenden internationalen Schutzstandards für Hinweisgeber annähert.

 

Professor Achim Albrecht

Westfälische Hochschule, Gelsenkirchen
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