14.03.2025

Systemische Familienberatung in einer Pflegefamilie

Aus dem Leben mit einem traumatisierten Kind

Systemische Familienberatung in einer Pflegefamilie

Aus dem Leben mit einem traumatisierten Kind

Ein Beitrags aus »Zeitschrift für das Fürsorgewesen (ZfF)« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrags aus »Zeitschrift für das Fürsorgewesen (ZfF)« | © emmi - Fotolia / RBV

Das Leben als Pflegefamilie ist ein Leben voller Besonderheiten. Kinder, die von ihrem Zuhause getrennt werden, haben eine außergewöhnliche Geschichte im Gepäck und nehmen diese in die neue Umgebung mit. Die Erfahrungen des Kindes stellen Pflegeeltern oft vor große persönliche und erzieherische Herausforderungen. Um zu verstehen, mit welchen Aufgaben und Veränderungen Pflegeeltern, Pflegekinder und deren Familien konfrontiert sind, ist es wichtig, sich ein Bild davon zu machen, was durch die Entscheidung, ein Pflegekind in die Familie aufzunehmen, alles in Bewegung gesetzt wird.

Damit diese verantwortungsvolle Aufgabe leistbar wird, Pflegekinder wirkliche Hilfe erfahren und die Beteiligten nicht in Überforderung geraten, benötigt das System Pflegefamilie einen ermutigenden, unterstützenden und gestaltbaren Rahmen – sowohl in ihrem direkten persönlichen als auch im institutionellen und fachlichen Netzwerk. Einen nicht unwesentlichen Teil des fachlichen Netzwerkes kann eine beständige Unterstützung in Form einer Systemischen Familienberatung darstellen.

Der folgende „Aufsatz“ veranschaulicht, welche Bedeutung dem kleinen Wort „systemisch“ zukommen kann, wenn es gelingen soll, den vielen Teilen des Systems Pflegefamilie gerecht zu werden: Der vergangenen und neugewonnenen Lebenswelt eines Pflegekindes, den nicht selten versteckten „Schätzen“ im mitgebrachten Rucksack, den Veränderungen, denen sich eine Familie mit Aufnahme eines Kindes ausgesetzt sieht und den oft nicht wenigen Menschen im Umkreis der Familie, die für das unterstützende Aufwachsen des Kindes eine nicht unwesentliche Rolle spielen.


Der Aufsatz betrachtet das Thema bewusst aus einer sehr fallorientierten Perspektive. Er beschreibt schlicht und einfach den Fallverlauf einer systemischen Beratung, ergänzt diesen durch fachliche Erklärungen und berücksichtigt dabei die unterschiedlichen Perspektiven und Blickwinkel. In Textfeldern aufgegriffen werden Problemfelder und Sichtweisen der Beteiligten ebenso wie Betrachtungen des Prozesses und der Beratung aus der Metaebene.

Der Leser erfährt anhand eines authentischen Beratungsprozesses, wie Familienberatung auch ohne formalen psychologischen Rahmen funktionieren kann. Er bekommt eine Vorstellung, mit welcher Haltung, mit welchem Selbstverständnis und Menschenbild diese Aufgabe gelingen kann, welches Rollenverständnis hilfreich ist und wie Berater-Klienten-Beziehungen funktionieren können. Er erhält ein Verständnis über familiäre Systeme, Lernprozesse auf unterschiedlichen Ebenen, die Persönlichkeit von „besonderen“ Kindern und den hilfreichen Umgang mit ihnen. Er lernt Kinder kennen, die auf die Hilfe ihrer Umwelt besonders angewiesen sind. Er lernt Erwachsene kennen, die sich schwierigen Aufgaben stellen. Er erfährt, wie es gelingen kann, komplizierte Verstrickungen zu verstehen und angemessene Hilfeleistungen zu entwickeln. Und er wird konfrontiert mit einer einfachen und gleichzeitig herausfordernden Grundlage zur Hilfeleistung: Dem Arbeiten im und mit dem System. Wie kann es gelingen Familien zu helfen, wenn doch so viele Menschen und Erwartungen im Leben der Familie eine Rolle spielen und jeder Beteiligte eine eigene Vorstellung davon in sich trägt, was gerade geschieht, was hilfreich sein könnte – oder auch nicht?

Angesprochen werden Menschen, die sich aufgrund ihres Berufs oder ihrer Rolle mit Familiensystemen befassen: Die Sozialpädagogen in der Familienberatung, die Erzieherinnen in der Kita und die Lehrerin des Kindes eben-so wie die Sozialarbeiterin im Jugendamt, die Pflegemutter eines Kindes und nicht zuletzt – Eltern und andere Menschen in familiären Netzwerken. Angesprochen fühlen sich hoffentlich auch jene, die sich durch Ausbildung und Studium auf den Weg ins anspruchsvolle pädagogische „Arbeitsleben“ machen.

Die Idee zu dieser Form der fachlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Familienberatung entstand aus der Not einer innerbetrieblichen Qualifizierung, sowohl von Fachkräften in unterschiedlichsten Formen und Funktionen der Beratung als auch der Qualifizierung von Menschen in der Betreuung von Kindern und Jugend -lichen – im konkreten Fall der Qualifizierung von Pflegeeltern. Die Reaktion von Fachkräften als auch Betroffenen auf diese Form des Lernens war so eindeutig positiv, dass daraus der Gedanke entstand, derartige Betrachtungen von Familienberatungen auch anderen zugutekommen zu lassen.

Familie Beyer – auf der Suche nach sich selbst

Als ich Marie und ihre Pflegeeltern kennenlernte, war Marie 10 Jahre alt und die Pflegeeltern an den Grenzen ihrer gefühlten Leistungsfähigkeit angelangt. Marie lebte seit neun Jahren in der Familie und wurde als starkes Mädchen mit vielen Fähigkeiten beschrieben. Eine zentrale Fähigkeit schien darin zu bestehen, die Herausforderung ihres Gegenübers täglich aufs Neue zu suchen und zu testen und im Zentrum dieser Herausforderung erlebten sich – ihre Pflegeeltern. Marie wurde mit zunehmendem Alter in einem Konflikt mit sich selbst und ihrer Herkunft erlebt, konkret mit ihrer leiblichen Mutter, von der sie sich alleingelassen fühlte. Ihren eigenen Wert scheint Marie in Dauerschleifen immer wieder bei kleinsten Anlässen in Frage zu stellen. Und nun klopfte lautstark auch noch die Pubertät an die Haustür.

Schon im Kennenlerngespräch signalisierten die Pflegeeltern einen hohen Bedarf an Unterstützung. In der Kooperation mit den Institutionen fühlten sie sich überwiegend allein gelassen, vermissten die Anerkennung von Leistungen und Engagement als Pflegeeltern. Beide Pflegeeltern wirkten verunsichert in der Entscheidung, das Zusammenleben mit Marie fortzusetzen. Sicher waren sie sich nur in einem Punkt: der Notwendigkeit einer kontinuierlichen fachlichen Begleitung.

Die gefühlte Dynamik des Miteinanders zeigte sich schon im ersten gemeinsamen Gespräch mit Marie und ihren Pflegeeltern. Die Wahrnehmungen des alltäglichen Miteinanders wurden deutlich unterschiedlich bis gegensätzlich beschrieben, je nachdem, wer von den Beteiligten auf meine neugierigen Fragen antwortete. Marie und ihrer Pflegemutter wirkten beide sehr offen und emotional, der Pflegevater eher zurückhaltend.

Aussagen von Marie:

Meine Eltern1Auf Nachfrage erklärte Marie in einem späteren Gespräch: „Meine Pflegeeltern sind meine Eltern!“ Die Begrifflichkeit „Pflegeeltern“ werden sie daher besonders in den Gesprächsausschnitten vermissen. Wenn das Gespräch sich mit ihrer Herkunft beschäftigt, spricht Marie von ihrer „Mama Andrea“. machen überhaupt nichts mehr mit mir.
Wenn es Streit gibt, bin ich immer allein und sie zu zweit.
Nie kann ich etwas mitbestimmen. Meine Eltern verbieten mir das Internet.
Ganz oft muss ich in mein Zimmer gehen, weil ich die anderen störe oder angeblich was Doofes gesagt habe.

Aussagen der Pflegeeltern:

Marie zieht sich immer mehr auf ihr Zimmer zurück. Dort sorgt sie für Chaos.
Marie hält sich immer weniger an Regeln, ständig gibt es Kämpfe, ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte.
In der Schule mache sie sich auch keine Freunde, weil sie so sehr auf sich bezogen ist.
Wenn Marie mit den Familienmitgliedern2Die Eltern Beyer haben noch zwei erwachsene Töchter, die regelmäßig zu Besuch kommen. zusammen ist, zieht sie die ganze Aufmerksamkeit auf sich.
Gott sei Dank sind wir (Ehepartner) uns oft genug einig, wenn es Streit mit Marie gibt.
Es fehlt ein respektvoller Umgang im Miteinander.
Marie möchte gern Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter, aber wir kriegen einfach keinen Kontakt zu ihr.

In der Folge finden eine Reihe von Beratungsgesprächen zu den Themen Pubertät und Ablösung, Bedeutung der Herkunft, Formen des sozialen Miteinander, Impulsivität, Vertrauen und Selbstfürsorge von Pflegeeltern statt.

Kurze innere Beraterreflexion

Schon in den ersten Gesprächen wird deutlich, dass es hinter den Konfliktthemen eine große Verbundenheit zwischen Marie und ihrer Pflegefamilie gibt. Der Alltag ist durch viel Streit belastet, insbesondere zwischen Frau Beyer und Marie entsteht schnell Emotionalität. Gleichzeitig ist zwischen allen Beteiligten ein Interesse, eine Nähe spürbar, der Wunsch nach einer Perspektive. Es ist jedoch – ebenfalls auf beiden Seiten – auch eine große Ratlosigkeit spürbar, ob und wie das gehen kann.

Hinter der Ratlosigkeit scheint sich wiederum eine Gemeinsamkeit zu verstecken. Sowohl Marie als auch die Pflegeeltern fühlen sich alleingelassen. Marie von ihrer leiblichen Mutter, die sich als Kleinkind nicht um sie gekümmert hat und seit Jahren nicht meldet. Die sichtbaren Folgen sind nicht ungewöhnlich: Maries Suche nach Aufmerksamkeit, Übertragung von Wünschen auf die Pflegemutter, Grenzüberschreitungen, Streit und Eskalation im Alltag, ein übergroßer Wunsch, gesehen zu werden, Ansätze einer Selbstschädigung (soziales Umfeld, Vereine, Schule, Internet).

Die Pflegeeltern wiederum fühlen sich alleingelassen von den behördlichen Vertretern, trotz großer Herausforderungen im Zusammenleben mit einem starken Pflegekind. Das Gefühl von zunehmender Überforderung stellt das Miteinander nach langen Jahren in Frage.

Alle miteinander haben sie eine Entscheidung getroffen: Sie wollen sich auf einen längerfristigen Beratungsprozess einlassen – das Ergebnis scheint offen.

Gespräch mit dem Ehepaar Beyer

Nach einem längeren Beratungsprozess und regelmäßigen Gesprächen mit den Pflegeeltern, an denen wiederholt auch Marie teilgenommen hat, rief mich Frau Beyer an. Sie wollte mich auf eine Krisenentwicklung vorbereiten, die im folgenden Beratungsgespräch Thema werden würde. Nach einem steten auf und ab in den vergangenen Monaten, habe sich die häusliche Situation durch permanente Grenzüberschreitungen von Marie verschärft: Handynutzung trotz Verbot, heimliche Anmeldung auf einem Internetportal, Chaos und Hygiene im Zimmer von Marie, abnehmendes Vertrauen durch das Erzählen von Unwahrheiten, Rückzug auf das Zimmer, Weigerung der Teilnahme an Mahlzeiten, beidseitige Eskalation und Beschimpfungen bei Ansprache. Marie ist mittlerweile 12 Jahre alt.

Frau Beyer erzählt: Ich war ja schon ein wenig skeptisch, als es in den letzten Monaten eigentlich relativ entspannt war mit Marie, klar hatten wir auch Streit, aber wir haben irgendwie immer wieder zueinander gefunden. Aber was die letzten Tage hier los ist, das geht gar nicht.

Herr Beyer nickt zustimmend.

Berater: Ja, das haben Sie wirklich … viel gestritten und zueinander gefunden, nur nicht irgendwie … Sie und Ihr Mann haben sich in den letzten Monaten ganz schön auf den Weg gemacht – auf einen Weg, Marie ihre Eigenarten und Besonderheiten ein Stück weit zu lassen, sie als Eltern mehr zu begleiten und ein bisschen weniger erzie-hen zu wollen. Sie haben sich davon verabschiedet, sie verändern zu wollen.

Frau Beyer: Ja, das stimmt. Das war auch ein ziemlich guter Gedanke in unseren Gesprächen – sich davon zu verabschieden und ich bin auch ganz schön froh gewesen, dass ich das irgendwann verstanden habe, dass ich sie nicht verändern werde.

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in der ZfF Heft 9/2024.

 
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  • 1
    Auf Nachfrage erklärte Marie in einem späteren Gespräch: „Meine Pflegeeltern sind meine Eltern!“ Die Begrifflichkeit „Pflegeeltern“ werden sie daher besonders in den Gesprächsausschnitten vermissen. Wenn das Gespräch sich mit ihrer Herkunft beschäftigt, spricht Marie von ihrer „Mama Andrea“.
  • 2
    Die Eltern Beyer haben noch zwei erwachsene Töchter, die regelmäßig zu Besuch kommen.
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