Verfassungsfragen der kleinen Bahnreform 2024
Infrastrukturreform auf dem Prüfstand
Verfassungsfragen der kleinen Bahnreform 2024
Infrastrukturreform auf dem Prüfstand

Der Zustand des öffentlichen Schienennetzes gehört zu den großen Problemfeldern in Deutschland. Erste Schritte auf dem Weg zur Verbesserung der Eisenbahninfrastruktur sind erfolgt. Der Bund will mit der Gründung des Unternehmens „DBInfraGO AG” alle Kräfte für diese Aufgabe bündeln. Das 4. Gesetz zur Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes ermöglicht Fortschritte bei der Finanzierung der Netzerhaltung und des Netzausbaus. Bund und Bahn suchen nach Kompromissen in Priorisierungsfragen der Infrastrukturplanung. Alle Schritte werfen auch verfassungsrechtliche Fragen auf.
I. Neue Wege der Infrastrukturvorsorge
Die Deutsche Bahn erfährt in diesen Tagen erhebliche Veränderungen in ihrer Organisation. Die DBInfraGO AG – eine Fusion von DB Netz und DB Station und Service – ist auf den aktienrechtlichen Weg gebracht. Damit wurde der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/DIE GRÜNEN und FDP von 2021 umgesetzt1. Die politischen Akteure haben sich offenbar darüber verständigt, dass es für diese Verschmelzung der Gesellschaften eines Ad-hoc-Gesetzes mit Zustimmung des Bundesrats nach Art. 87e Abs. 5 Satz 2 GG nicht bedarf2. Das Vierte Gesetz zur Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes (BSWAG) ist nach langwierigen Beratungen zwischen Bund und Ländern auf der Grundlage eines Vorschlags des Vermittlungsausschusses inzwischen im Bundesgesetzblatt verkündet und am 9. Juli 20243 in Kraft getreten. Bund und Bahn stehen im Meinungsaustausch zu einem „Infraplan”. Er soll als wesentliches und übergreifendes konzeptionelles Element der künftigen Steuerung des Bundes für die DBInfraGO dienen und für die Erarbeitung des Geschäftsplans durch den Vorstand der Gesellschaft maßgebend sein. Bund und Gesellschaft stellen die Konsistenz zwischen Zielen, Maßnahmen und Finanzierungsrahmen her. Alle Schritte werfen auch verfassungsrechtliche Fragen auf.
II. Die Satzung der DBInfraGO aus grundgesetzlicher Sicht
1. „Gemeinwohlorientierte Ziele” als Zweck des Unternehmens
a) Die Satzung der DBInfraGO4 bezeichnet es als Zweck des Unternehmens, Eisenbahninfrastruktur „als Wirtschaftsunternehmen unter besonderer Berücksichtigung” – einer Reihe näher bestimmter – „gemeinwohlorientierter Ziele” zu betreiben (§ 2 Abs. 1). Offenbar will der Bund seine Verantwortung für den Ausbau und den Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes nach Art. 87e Abs. 4 Satz 1 GG vor dem Hintergrund der bekannten Mängel des Eisenbahnnetzes der DB zur Geltung bringen. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 87e Abs. 3 und 4 GG sollen sich in der Arbeit der DBInfraGO zusammenfinden. Verfassungsrechtlich gesehen kann man diese Zielvorgabe durchaus als eine Art Fremdkörper im Satzungsgefüge bewerten. Nach wie vor wird die DB nach geltendem Verfassungsrecht als marktorientiertes, auf Gewinn ausgerichtetes Unternehmen tätig. Diese unternehmerische Ausrichtung hat Geltung auch, soweit die Bahn nach Art. 87e Abs. 3 Satz 3 GG für die Eisenbahninfrastruktur verantwortlich ist; auch insoweit ist sie „Wirtschaftsunternehmen” im Sinn des Art. 87e Abs. 3 Satz 1. Das Urteil des BVerfG vom 7. November 20175 hat diese verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen nicht infrage gestellt. Deren eisenbahnpolitische Prämisse war es, dass ein so aufgestelltes Unternehmen den Verkehrsbedürfnissen der Allgemeinheit eher gerecht werden kann als ein hoheitlich öffentlich-rechtlich strukturierter Betrieb6. Die Kommentierungen des Art. 87e GG, die nach dieser Entscheidung des BVerfG neu bearbeitet wurden, konnten ihre Linie aus guten Gründen beibehalten7. Das BVerfG zitiert in seiner Entscheidung die zum Zeitpunkt des Urteils ganz herrschende Meinung in der Staatsrechtswissenschaft und lässt diese herrschende Meinung verfassungsrechtlich unbeanstandet8: Herrschende Meinung war aber zum damaligen Zeitpunkt, dass der Deutschen Bahn –
so fasst das Gericht sie selbst zusammen – vom verfassungsändernden Gesetzgeber die Rolle einer „privatwirtschaftlichen, nach Marktgesetzen ohne besondere Gemeinwohlbindung und mit dem Ziel der Gewinnerzielung betriebene Aufgabe privatrechtlicher Unternehmen” zugewiesen ist9. Das Gericht selbst spricht in diesem Zusammenhang davon, dass mit Art. 87e Abs. 2 Satz 1 GG „privatwirtschaftliche Handlungsrationalitäten im Eisenbahnsektor freigesetzt” werden sollten10. Es kann also unverändert dabei bleiben, dass der sogenannte Schienenvorbehalt des Art. 87e Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 3 GG die unternehmerische Führung der Eisenbahnstrukturgesellschaften unberührt lässt. Er modifiziert diese Ausrichtung nicht durch gemeinwohlorientierte Zielsetzungen im Sinn von Art. 87e Abs. 4 GG. Die in dieser Vorschrift enthaltene Gewährleistungspflicht hat die Funktion, mögliche verkehrspolitische Risiken aus der Privatisierungsentscheidung des Art. 87e Abs. 3 Satz 1 zu mindern11. Das BVerfG bleibt damit in seiner Entscheidung von 2017 auf der Linie seines Beschlusses vom 22. November 201112. Eröffnet wird 2017 nicht der Weg zu strukturellen oder konzeptionellen Eingriffen in die Unternehmensautonomie, die Art. 87e Abs. 1 Satz 1 GG garantiert. Das BVerfG ermöglicht nur punktuelle Eingriffe in das Unternehmen aufgrund spezieller verfassungsrechtlicher Legitimation13. Es besteht kein Grund, die Entscheidung von 2017 etatistisch zu interpretieren14. Art. 87e Abs. 3 Satz 1 GG macht unverändert den Unterschied zu anderen öffentlichen Unternehmen15.
2. Folgerung für die Verfassungskonformität der Satzung
Zweifel an der Vereinbarkeit der Satzung der DBInfraGO mit dem Grundgesetz bestehen im Ergebnis nicht. Die Bestimmungen über Zweck und Gegenstand des Unternehmens (§ 2) lassen sich ohne Mühe verfassungskonform auslegen. Sie formulieren, wie bereits zitiert, die Eisenbahnstruktur als Wirtschaftsunternehmen sei „unter besonderer Berücksichtigung der folgenden gemeinwohlorientierten Ziele” zu betreiben. Berücksichtigungspflicht heißt aber sachgerechte Abwägung, nicht weniger, aber auch nicht mehr16. Die Satzung stellt zudem noch zusätzlich klar: Die gemeinwohlorientierten Ziele sind im Rahmen des geltenden Rechts, insbesondere der Vorgaben des Art. 87e Abs. 1 Satz 1 GG („Führung als Wirtschaftsunternehmen”) zu verfolgen17. Strukturelle Probleme für die Arbeit der Gesellschaft werden aus deren Satzung nicht erwachsen. Dies gilt umso mehr, als die Infrastrukturverantwortung der Deutschen Bahn – anders als der Betrieb von Eisenbahnen – nicht im Wettbewerb mit anderen Eisenbahnverkehrsunternehmen wahrgenommen wird18. Die Deutsche Bahn wird sich auf eine konstruktive Auseinandersetzung mit den konkreten Gemeinvorstellungen des Bundes einstellen.
III. Priorisierungsfragen der Netzverantwortung
1. Präferenz Deutsche Bahn: Bestand vor Bedarf
Schwerpunkt im Geschäftsplan des Vorstandes der DBInfraGO sind derzeit Investitionen in den Bestand des Schienennetzes. Sie sollen planerischen, baulichen und finanziellen Vorrang haben vor Investitionen in den Netzausbau. Verfassungsrechtlich lässt sich diese Priorisierung durch das Staatsziel Klimaschutz (Art. 20a GG) rechtfertigen. Der Umstieg von der Straße auf die Schiene ist bekanntlich essenziell für die Einsparung von CO2-Emissionen im Verkehrsbereich. Im Klimabeschluss des BVerfG vom 24. März 2021 ist die sogenannte Verkehrswende eigens angesprochen19. Gesetzgeber und Deutsche Bahn können in diesem Zusammenhang glaubwürdig argumentieren, die Sanierung des Bestandsnetzes stabilisiere die Kundenbindung und gewinne Kunden zurück. Dieses Ziel – Erhaltung und Steigerung der Fahrgastzahlen – sei ökonomisch und ökologisch ertragreicher als der Aus- und Neubau von Strecken, habe also einen messbaren Nutzen für die Klimabilanz. Dies habe seinen Grund auch darin, dass die Verfügbarkeit dieser Projekte wegen des bekanntlich langen Planungsverlaufs und eines hohen Zeitbedarfs für den Bau und die Abnahme neuer Strecken aus unternehmerischer Sicht an zweiter Stelle steht. Jede planerische und finanzielle Zurücksetzung von Maßnahmen des Netzausbaus stellt allerdings ein anderes wichtiges gesetzliches Ziel infrage: den sogenannten Deutschlandtakt. Es geht dabei um ein Konzept für den Personen- und Güterverkehr auf Basis eines integralen Taktfahrplans und bildet die Planungsgrundlage für einen bedarfsgerechten Ausbau und eine optimale Nutzung der Eisenbahnanlagen (§ 1 Abs. 2 ERegG)20.
2. Die Linie des Bundes
Der Bund hat diese Präferenzentscheidung bisher nicht verbindlich übernommen. Im Infraplan findet sich diese Präferenz nach dem aktuellen Stand nicht. Immerhin hat sich der Gesetzgeber des BSWAG erstmals dafür entschieden, sich an den Kosten der Unterhaltung und Instandhaltung der Schienenwege der Eisenbahnen des Bundes zu beteiligen (§ 11a Abs. 2). Dazu gehören auch die Kosten der präventiven Instandhaltung. Sie werden nicht mehr weitgehend über die Nutzungsentgelte abgedeckt21. Der Gesetzgeber hat diese Grundsatzentscheidung auch präzisiert: Die Eisenbahnen des Bundes haben die für das Bestandsnetz zur Verfügung gestellten Haushaltsmittel für Generalsanierungen der in § 11c Abs. 2 Satz 1 benannten Hochleistungskorridore – immerhin insgesamt 41 – und für die Erhaltung, Erneuerung und Digitalisierung der übrigen Schienenwege der Eisenbahnen des Bundes einzusetzen (§ 11a Abs. 7). Man muss erwarten, dass der planerische, bauliche und finanzielle Aufwand für das so definierte Bestandsnetz de facto die Investitionen in das Bedarfsnetz zurückdrängt. Zur Infrastrukturverantwortung der Bahn (Art. 87e Abs. 3 Satz 1 GG) und des Bundes (Art. 87e Abs. 4 GG) gehören aber auch Neu- und Ausbau des Schienennetzes und nicht nur die Ertüchtigung des Netzbestandes. Auch bei einer Präferenz für das Bestandsnetz wird die Deutsche Bahn relevante Kapazitäten für Projekte des Aus- und Neubaus vorhalten und einsetzen müssen. Sie hat die verfassungsrechtliche Verantwortung für das gesamte Netz, auch in Bezug auf dessen Ausbau. Der Bund muss ihr bei der Erfüllung dieser Aufgabe finanziell zur Seite stehen. Die Länder haben im Gesetzgebungsverfahren zur 4. Novelle des BSWAG 2023/2024 geltend gemacht, die Festlegung auf eine so große Zahl von Hochleistungstrassen vernachlässige die Aus- und Neubauvorhaben, den ländlichen Raum und das dort verfügbare Netz22. Dies ist auch ein verfassungsrechtlich erheblicher Aspekt. Ein Verzicht auf die Auflistung der Hochleistungskorridore hätte jedenfalls den planerischen Spielraum für Investitionen in das Netz vergrößert. Man wird zwar nicht argumentieren können, das – dem Bund nach Maßgabe der Kompetenzordnung anvertraute23 – Staatsziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet (vgl. Art. 72 Abs. 2 GG)24 schränke unmittelbar die unternehmerische Freiheit des Art. 87e Abs. 3 Satz 1 GG der Deutschen Bahn verfassungsrechtlich ein. Es könnte allerdings indirekt Relevanz als Gemeinwohlbelang im Sinn von § 2 Abs. 1 der Satzung der DBInfraGO erlangen. Verfassungsrechtliches Gewicht hat es sicher für die Infrastrukturverantwortung des Bundes nach § 87e Abs. 4 GG.
Zusammenfassung
- 1) Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat in Art. 87e Abs. 3 Satz 1 der Deutschen Bahn die Aufgabe zugewiesen, die Eisenbahnen des Bundes als marktorientierte, auf Gewinn ausgerichtete Unternehmen zu führen. Die Rechtsprechung des BVerfG hat daran nichts geändert. Die Berücksichtigung von Gemeinwohlzielen in der Satzung der DBInfraGO lässt sich verfassungskonform interpretieren.
- 2) Zur Infrastrukturverantwortung des Bundes und der Bahn gehören auch Neu- und Ausbau des Schienennetzes und nicht nur die Ertüchtigung des Netzbestandes. Damit entspricht sie dem Staatsziel „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet” (Art. 72 Abs. 2 GG). Die Präferenz für das Bestandsnetz kann sich verfassungsrechtlich auf Art. 20a GG stützen.
Entnommen aus den BayVBl. Heft 19/2024.