10.09.2013

Stromnetzausbau – wofür und für wen?

Teil 2: Defizite und methodische Fehler der Netzausbauplanung

Stromnetzausbau – wofür und für wen?

Teil 2: Defizite und methodische Fehler der Netzausbauplanung

Zielsetzung der \"Energiewende\" sind mehr erneuerbare und weniger fossile Energien. | © Uwe Schlick - Fotolia
Zielsetzung der \"Energiewende\" sind mehr erneuerbare und weniger fossile Energien. | © Uwe Schlick - Fotolia

In Teil 1 unseres Beitrags (Ausgabe 2013.5, Seiten 12 ff.) wurde die aktuelle amtliche Netzausbauplanung für Deutschland skizziert und – gegenüber dem volkswirt­schaftlichen Optimum – als weit überdimensioniert dargestellt.

Diese Überdimensionierung begünstigt die Kraftwerks­betreiber, insbesondere von großen Kohlekraftwerken, und belastet die Stromverbraucher unnötig in doppelter Weise: Sie bezahlen mit dem EEG-Zuschlag von mittlerweile über 5 Cent pro kWh den Ausbau der er­neuer­baren Energien und zudem mit stark wachsenden Leitungs­entgelten für neue Leitungen, die nicht etwa für die Übertragung von erneuerbaren Energien erforderlich sind, sondern vor allem für die Übertragung von Kohlestrom zeitgleich zu Starkwindeinspeisung. Die Zielsetzung der „Energiewende“, nämlich mehr erneuerbare und weniger fossile Energien, wird damit ad absurdum geführt.

Im Folgenden sollen die grundlegenden Defizite und Fehler der Netzausbauplanung erläutert werden.


Netzausbau für die nicht erforderliche Einspeisung von Kohlestrom und für den Stromexport ausgelegt

Im Gegensatz zu den gesetzlich festgelegten energiepolitischen Zielen der Energiewende soll das Stromnetz für eine unbeschränkte Einspeisung fossil erzeugten Stroms auch bei gleichzeitig hoher Einspeisung von erneuerbarem Strom ausgebaut werden.

Bei der Netzausbauplanung bleibt nämlich weiterhin ein Herunterregeln konventioneller Kraftwerke („Redispatch“) unberücksichtigt mit der fragwürdigen Begründung: „Redispatch und Countertrading sind präventive und kurative Maßnahmen des Netzbetriebs. Diese dürfen in der Netzplanung nicht angewandt werden.“ Dies klingt nach einem gesetzlichen Verbot, doch ein solches Verbot existiert mitnichten. Die Verweigerung von „Redispatch“ bei der Netzausbauplanung widerspricht grundlegend der Energiewende, die mehr erneuerbare Energien und weniger Kohlestrom als Ziel hat. Bei ausreichend erneuerbarem Energieangebot muss demnach zwingend die Kohlestromproduktion heruntergefahren werden. Der nun vorgesehene Netzausbau für den Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken auch bei Starkwindeinspeisung ist deshalb extrem kontraproduktiv für die Energiewende. Sobald die Öffentlichkeit dieses Doppelspiel zu ihren Lasten durchschaut hat, ist dadurch auch die derzeitige breite gesellschaftliche Akzeptanz der Energiewende in Frage gestellt.

Der zusätzliche Netzausbaubedarf wird im Netzentwicklungsplan (NEP) auch mit steigenden Stromexporten begründet: „Ein Vergleich der Handelsbilanzen zeigt, dass Deutschland im Szenario B 2023 des NEP 2013 ein höheres Exportverhalten aufweist. Es werden im Mittel rund 8 GW mehr exportiert als im Leitszenario B 2022 des NEP 2012. Während Deutschland im Szenario B 2022 in knapp 60 % der Jahresstunden Leistung ins Ausland exportiert, sind es im Szenario B 2023 75 %. Dies bedeutet, dass aufgrund gestiegener Erzeugung in Deutschland die Exporte ansteigen. Die Folge ist tendenziell ein höherer Netzausbaubedarf.“ Diese höheren Exporte resultieren u. a. aus der Kohlestromproduktion auch bei Starkwindlagen, wie im aktuellen Netzentwicklungsplan 2013 ausgeführt wird: „… Da Kohlekraftwerke zumeist zu den Erzeugungseinheiten mit geringeren Erzeugungskosten gehören, sind eine gleichzeitige hohe (regionale) Windeinspeisung und eine hohe Einspeisung aus Kohlekraftwerken durchaus möglich. Sind im Ausland teurere Kraftwerke im Einsatz, werden diese bis zur vollständigen Ausnutzung der Handelsmöglichkeiten ebenfalls reduziert.“

Im Klartext: Der deutsche Stromverbraucher bezahlt zusätzliche Leitungen, angeblich zur Integration erneuerbarer Energien, in Wirklichkeit aber, damit die deutschen Kohlekraftwerke auch bei Starkwindeinspeisung weiterlaufen und ihren Kohlestrom ins Ausland exportieren können.

Als Ergebnis werden bei Starkwindlagen von Jahr zu Jahr wachsende Mengen elektrischer Energie exportiert, der CO2-Ausstoß wird nicht verringert. Die Kosten für diesen, dem § 1 des EnWG direkt zuwider laufenden Netzausbau bezahlt der deutsche Stromverbraucher, der schon die Mehrkosten für die EEG-Vergütung trägt. Der Öffentlichkeit aber wird erklärt, der erhöhte Netzbedarf für den Export (Rekord-Nettostromexport von 22 TWh in 2012) werde durch die wachsende Einspeisung erneuerbarer Energie verursacht.

Volkswirtschaftlich gebotenes Abschneiden der seltenen Leistungsspitzen nicht eingeplant

„Der Netzausbau muss sowohl volkswirtschaftlich als auch betriebswirtschaftlich effizient sein. Dies bedeutet, dass die Netze in der Energiezukunft nicht zur Aufnahme von jeder beliebig angebotenen Strommenge ausgebaut werden sollten“, soweit die Bundesnetzagentur in einem Grundsatzpapier im Jahr 2012. Für eben diese Energiezukunft aber behauptet der Netzentwicklungsplan 2013: „Auf Basis der aktuell gültigen gesetzlichen Regelungen ist der EEG-Strom jedoch vollständig aufzunehmen und zu übertragen. Deshalb wird diese Möglichkeit des Abschneidens von Erzeugungsspitzen im Netzentwicklungsplan nicht systematisch betrachtet.“

Der resultierende Netzausbau steht damit offensichtlich im Widerspruch zu der gesetzlich gebotenen volkswirtschaftlichen Zumutbarkeit des Netzausbaus. Der Netzausbau ist bekanntlich dann optimal, wenn seine Grenzkosten gleich sind seinem Grenznutzen. Für Leitungen, deren Notwendigkeit mit der Fernübertragung von EE-Strom, insbesondere aus Windenergieanlagen, begründet wird, wurden umfangreiche Untersuchungen durchgeführt. Demnach ist der Netzausbau dann optimal, wenn über die Leitungen etwa 60 % bis 70 % der regional insgesamt installierten EE-Generatorleistung gesichert in weiter entfernte Nachfrageschwerpunkte übertragen werden kann, nicht aber die Jahresspitze von 90 % und mehr, wie in den Netzentwicklungsplänen vorgesehen.

Auch der Netzentwicklungsplan 2013 bestätigt die große Bedeutung des Abschneidens der regenerativen Erzeugungsspitzen für den Netzausbau: „Das Abschneiden der regenerativen Erzeugungsspitzen, die nur an wenigen Stunden im Jahr auftreten, kann den Netzausbau reduzieren. Die Höhe der abgeschnittenen Leistung und der daraus resultierenden nicht übertragbaren Energiemengen ist eine entscheidende Einflussgröße für den Netzausbaubedarf.“ Die Bundesnetzagentur hatte Anfang 2013 in ihrem neuen Szenariorahmen die Netzbetreiber beauftragt, Alternativberechnungen für ein Abschneiden seltener regenerativer Erzeugungsspitzen durchzuführen mit der folgenden Begründung: „Im Einzelnen ergab eine Auswertung der Daten der Übertragungsnetzbetreiber für das Wetterjahr 2007, dass die tatsächlich eingespeiste Leistung nur in 172 Stunden des Jahres 2007 über 80 % der gesamten installierten Leistung lag, und dass der Energieverlust auf Grundlage einer pauschalen, bundesweiten Beschränkung 0,4 % der gesamten Jahresarbeit von Onshore-Windenergieanlagen in der Bundesrepublik Deutschland betragen hätte.“ Der Netzentwicklungsplan 2013 schreibt hierzu: „Das Abschneiden der regenerativen Erzeugungsspitzen, die nur an wenigen Stunden im Jahr auftreten, kann den Netzausbau reduzieren. Die Höhe der abgeschnittenen Leistung und der daraus resultierenden nicht übertragbaren Energiemengen ist eine entscheidende Einflussgröße für den Netzausbaubedarf.“

Erste Ergebnisse konkreter Sensitivitätsanalysen wurden Anfang Juli 2013 von den vier Übertragungsnetzbetreibern vorgelegt:

  • Eine Reduzierung des Stromverbrauchs führt zu einer deutlichen Reduzierung des Netzausbaubedarfs.
  • Eine Kappung von Windenergiespitzen ermöglicht ebenfalls Reduzierungen des Netzausbaubedarfs, wobei dadurch nur maximal 0,3 % der erneuerbaren Energien ausgesperrt werden.
  • Die Übertragungsnetzbetreiber schlagen zu Recht vor, die Kappung von Einspeisespitzen regional zu differenzieren und eine „Berücksichtigung der zeitgleichen Auslastung des Übertragungsnetzes als Parameter für die Kappung anstelle einer bloßen Ausrichtung an der Höhe (Leistung) der Windenergieeinspeisung“. Dies würde nach unseren Abschätzungen eine weitere enorme Reduzierung des Netzausbaubedarfs ermöglichen bei gleichzeitig deutlicher Verringerung der dadurch ausgesperrten erneuerbaren Energien. Es steht zu hoffen, dass diese Vorschläge möglichst bald in die Praxis umgesetzt werden und dadurch ein weiterer unnötiger Netzausbau vermieden wird.

Bestimmung des Netzausbaus ohne Berücksichtigung eben seiner Kosten

Hier wird die bis hier dargestellte volkswirtschaftliche Unvernunft der Netzentwicklungspläne noch überboten. Als Eingangsdaten für die Netzplanung gehen nämlich auch im aktuellen Netzentwicklungsplan 2013 nur die Erzeugungskosten der Kraftwerke ein, nicht aber die Kosten des jeweils erforderlichen Netzausbaus: „Die Entscheidung, welche Kraftwerke zur Leistungserzeugung eingesetzt werden, erfolgt entsprechend den variablen Erzeugungskosten der Kraftwerke. Die so bestimmte Einsatzreihenfolge der Kraftwerke wird als Merit-Order bezeichnet.“

Es ist ein unverständlicher und unentschuldbarer methodischer Fehler, bei der Optimierung von Maßnahmen die (wahrhaft beträchtlichen) Kosten eben dieser Maßnahmen nicht miteinzubeziehen – etwa nach dem Motto: Kosten für den Netzausbau interessieren nicht, die werden ohnehin auf die Netzentgelte umgelegt und von den Stromverbrauchern bezahlt. Optimiert wird so der Ertrag der konventionellen Kraftwerke, nicht aber der volkswirtschaftliche Nutzen des gesamten Stromversorgungssystems aus Erzeugung, Übertragung und Verteilung.

Ein Beispiel: Wenn in Süddeutschland zusätzliche Leistung erforderlich ist und ein norddeutsches Kohlekraftwerk niedrigere einzelwirtschaftliche Grenzkosten hat als ein Gaskraftwerk in Süddeutschland, dann wird hierfür bei einem möglichen Übertragungsengpass eine neue Leitung in den Netzentwicklungsplan eingestellt, ohne die dadurch bedingten Netzausbaukosten dem angeblich kostengünstigeren Kohlekraftwerk zuzurechnen.

Mit anderen Worten: Es erfolgt keine simultane Optimierung von Kraftwerkseinsatz und Netzausbau. Allein der Einsatz der Kraftwerke wird optimiert und danach der dafür erforderliche Netzausbau bestimmt, ohne seine Kosten, die der Stromverbraucher trägt, in der Kosten-Nutzen-Rechnung zu berücksichtigen. Zum einen ist dies ein offensichtlicher schwerer methodischer Fehler, der die gesamte Bedarfsanalyse fragwürdig macht, zum anderen aber eine weitere Maßnahme zur Überwälzung der Kosten der Energiewende auf die Verbraucher, die den resultierenden überdimensionierten Netzausbau alleine bezahlen müssen, während die Eigentümer der Kraftwerke durch die resultierende bessere Auslastung profitieren.

Soziale Kosten des Netzausbaus bleiben unberücksichtigt

Linienförmige Infrastrukturmaßnahmen, wie vor allem Straßen, aber eben auch Freileitungen, insbesondere solche mit hohen Masten und breiten Trassen, stellen eine Landschaftsinanspruchnahme dar, die nicht nur den wirtschaftlichen Wert der durchschnittenen Flächen im gesamten Bereich ihrer Sichtbarkeit vermindert (Stichwort „Verdrahtung der Landschaft“), sondern auch je nach Landschaftstyp die Natur mehr oder weniger stark beschädigt und den Erholungswert naturnaher Landschaft beeinträchtigt; man denke nur an die Südthüringen-Freileitung, die den Rennsteig queren soll.

Da eine nicht genau bestimmbare Öffentlichkeit von diesen Beinträchtigungen betroffen ist, spricht man von „Sozialen Kosten“ oder – in Bezug auf die Verursacher – auch von „Externen Kosten“ solcher Eingriffe. Mit der Bestimmung und Monetarisierung solcher „Externer Kosten“ sowie der Möglichkeit ihrer Reinternalisierung etwa durch umweltbezogene Steuern oder die Pflicht, Verschmutzungsrechte zu erwerben, befasst sich seit Langem ein Zweig der Volkswirtschaftslehre (führende Vertreter sind z. B. A. Pigou, R. Coase und W. Kapp).

Bereits Ende der 1980er Jahre haben die Autoren dieses Beitrags die Bestimmung und Monetarisierung der „Externen Kosten“ für konkrete Leitungsprojekte durchgeführt. Eine quantitative Bestimmung dieser „Externen Kosten“, etwa in Euro pro km Leitungslänge, hängt offenbar auch von subjektiven Wertmaßstäben und Beurteilungen ab. Bei der Abwägung von Alternativen, etwa Freileitung versus Erdkabel oder Leitungsneubau versus Verstärkung bestehender Leitungen, ist eine Abschätzung der jeweiligen „Externen Kosten“ erforderlich. Dies sollte vernünftigerweise auch bei der Bundesnetzplanung geschehen, ehe die Wünsche der Kraftwerks- und Netzbetreiber zu Lasten der Allgemeinheit in nicht mehr verhandelbare Bundesgesetze umgewandelt werden.

Neue technische Möglichkeiten im Höchstspannungsbereich unzureichend berücksichtigt

„Entsprechend den Vorgaben des EnWG wird Netzoptimierungs- und Netzverstärkungsmaßnahmen der Vorzug vor Netzausbaumaßnahmen gegeben. Diesem sogenannten NOVA-Prinzip (Netzoptimierung vor -verstärkung und -ausbau) folgen die ÜNB [Übertragungsnetzbetreiber] konsequent.“, so der aktuelle Netzentwicklungsplan 2013: Das klingt gut, aber die offiziellen Netzausbauplanungen verstehen unter Netzoptimierung und Netzverstärkung i.W. nur Optimierung von Stromflüssen, Auflegung von zusätzlichen Leiterseilen auf bisher nicht voll genutzte Masten und Ersatz von bestehenden 220kV-Freileitungen durch den Neubau von 380kV-Freileitungen. Netzoptimierung mittels Leiterseiltemperaturmonitoring wird bei keiner Einzelmaßnahme auch nur erwähnt, Netzverstärkung durch den Einsatz von Hochtemperaturleiterseilen nur bei einigen wenigen Einzelmaßnahmen.

Hierfür werden keine detaillierteren Begründungen gegeben, vielmehr wird nur ganz allgemein auf Begrenzungen des maximalen Betriebsstroms verwiesen: „Die Optimierungsmöglichkeiten sind aber auf physikalische Werte zur Wahrung der Stabilität des Gesamtsystems begrenzt (beispielsweise dem max. Betriebsstrom von 3.600 A, …“. Aber dieser maximale Betriebsstrom ist doch keine absolute technisch-physikalische Obergrenze, auch wenn hierbei neben den Fragen der thermischen Belastbarkeit im stationären Betriebszustand vor allem die weit schwierigeren Probleme der möglichen dynamischen Instabilitäten etwa bei Kurzschlüssen oder Blitzschlag u.Ä. eine Rolle spielen. Bei der dynamischen Netzstabilität geht es um die Regelung sehr hoher Ströme im Millisekundentakt in einem hochgradig nichtlinearen System, in dem der Übergang vom „regulären“ zum „chaotischen“ Verhalten unbedingt verhindert werden muss.

Der vorgesehene hohe und noch wachsende Anteil an HGÜ-Gleichstromleitungen mit den phasensteuerbaren Umrichteranlagen bietet hier, wie auch bei der Lösung der Blindstromproblematik, neue Möglichkeiten, die derzeit untersucht werden. Der Netzentwicklungsplan sollte offen sein für diese rasch fortschreitenden Entwicklungen.

Ergebnis: Heute gegebene technische Alternativen werden unzureichend berücksichtigt, insbesondere kostengünstige Maßnahmen zur Erhöhung der stationären Grenzleistung, zur Blindstromerzeugung und zur Verbesserung der dynamischen Netzstabilität.

 

Prof. em. Dr. Gustav M. Obermair

Universität Regensburg
Prof. Dr. Lorenz Jarass

Prof. Dr. Lorenz Jarass

M.S. (Stanford University, USA). Hochschule RheinMain, Wiesbaden
n/a