10.09.2013

Aus dem Hut gezaubert

Bundestagswahl: Mehr Listenplätze, aber nicht mehr Zweitstimmen

Aus dem Hut gezaubert

Bundestagswahl: Mehr Listenplätze, aber nicht mehr Zweitstimmen

Mandate werden aus dem Hut gezaubert wie Kaninchen. | © Uros Petrovic - Fotolia
Mandate werden aus dem Hut gezaubert wie Kaninchen. | © Uros Petrovic - Fotolia

Die Deutschen sind stolz auf ihre „Patentlösung“ einer kombinierten Doppelwahl, deren Ergebnisse aufeinander angerechnet werden. Die Erststimme gilt den Kandidaten in 299 Wahlkreisen des Bundesgebietes. Die Zweitstimme gilt den Parteien mit ihren Landeslisten in 16 Bundesländern. Nun ist seit langem bekannt, dass die Direkt- oder Personenwahl zu anderen Wahlergebnissen führt als die Parteien- oder Listenwahl, die auch als Verhältniswahl bezeichnet wird.

Beide Wahlsysteme sind also keineswegs deckungsgleich. Und das kann dazu führen, dass eine Partei mehr Direktmandate erzielt als Listenplätze. Es entstehen die sog. Überhangmandate. Nach neuem Wahlrecht werden diese durch Ausgleichsmandate neutralisiert. Dadurch verschiebt sich der Länderproporz, der durch weitere Ausgleichsmandate wiederhergestellt wird (doppelter Mandatsausgleich).

Weil die Zahl der Listenplätze hinter der Zahl der errungenen Direktmandate zurückblieb, kam es bei 13 von insgesamt 17 Bundestagswahlen zu Mandatüberhängen. So entstanden z. B. 2009 in 10 Bundesländern 24 Überhangmandate, alle bei den beiden Unionsparteien, acht davon bei der CDU in Baden-Württemberg und 3 davon bei der CSU in Bayern, der Rest in anderen Ländern.


Nach dem spektakulären Urteil der Verfassungsrichter in Karlsruhe (BVerfG, E. v. 25. 07. 2012, BVerfGE 121, 266) ist eine Wahl, bei der mehr als 15 Überhänge entstehen, ungültig, weil verfassungswidrig. Demnach gab es im 17. Deutschen Bundestag 9 Abgeordnete mit Sitz und Stimme, die im Parlament gar nichts zu suchen hatten. Die Verfassungswidrigkeit lag klar zu Tage. Auch war die vom Verfassungsgericht eingeräumte Übergangsfrist längst abgelaufen. Doch wo kein Kläger, da kein Richter.

Wohlgemerkt: Zwei Stimmen sind zwei Wahlen. Und wenn man zwei Stimmen hat, kann man sie auch gegeneinander richten. Man kann also mit der einen „ja“ und mit der anderen „nein“ sagen. Durch das Stimmensplitting verliert die Wahlentscheidung also an Klarheit, an Bestimmtheit und an Eindeutigkeit. Das geltende Wahlrecht hat demnach von Anfang an „einen Sprung in der Schüssel“ (vgl auch Hettlage, FAS v. 25. 08. 2013.).

Schlimmer noch wird im BWahlG das geltende Wahlsystem als eine „mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl“ definiert. Mit der Erststimme soll die Person, mit der Zweitstimme die Mannschaftsstärke seiner Partei bestimmt werden (personalisierte Verhältniswahl). Und genau das schließt die unverbundene Stimmabgabe (Stimmensplitting) zwingend aus. Doch niemand kümmert sich darum. Schon deshalb steht die Wahl am 22.9. verfassungsrechtlich auf „tönernen Füßen“. (vgl. dazu auch PUBLICUS 2010.2, S. 26; 2011.2, S. 24 und 2011.3, S. 13.)

Wer mit zwei Stimmen wählt, holt sich den Teufel ins Haus. Das zeigt sich schon bei den Wahlprognosen. Die sog. Sonntagsfrage: „Welcher Partei würden Sie ihre Stimme geben, wenn am nächsten Sonntag gewählt würde?“ – zielt allein auf die Zweitstimme ab, die ja den Parteien gilt. Das ZDF-Politbarometer, wie die meisten anderen Umfrage-Institute, ignorieren die Erststimmen, die den Kandidaten in den 299 Wahlkreisen gilt, und begnügen sich mit der halben Wahrheit. Doch die Erststimme kann für Sieg oder Niederlage sehr wohl ausschlaggebend sein.

So gab es z. B. bei der jüngsten Landtagswahl in Niedersachsen am 20. 01. 2013 ein Überhangmandat auf der Seite der CDU. Das entsprechende Ausgleichsmandat fiel der SPD des Landes in den Schoß. So und nicht anders konnte sie, zusammen mit den Grünen, die Mehrheit im Landtag von Hannover erringen. Zudem sorgte ein für die Wahlforscher überraschendes Stimmensplitting dafür, dass die CDU gegenüber der Prognose von 41 % der Zweitstimmen tatsächlich auf 36,0 % abstürzte und die FDP – statt unter 5 % zu bleiben, wie vorhergesagt – am Ende auf 9,5 % der Zweitstimmen emporschnellte. Eine Ohrfeige für die Wahlforscher, die sich „gewaschen“ hatte.

Wie gesagt, gibt es im Bundesgebiet 299 Wahlkreise, aber 598 Plätze im Parlament. Die Hälfte der Abgeordneten kommt also nicht über die Wahlkreise, sondern allein über die 16 Landeslisten ihrer Parteien ins Parlament. Von einer durchgehend „personalisierten Verhältniswahl“ kann also überhaupt keine Rede sein. Niemand kann 598 Sitze im Parlament durch eine vorgeschobene Direktwahl „personalisieren“, wenn dafür nur 299 Wahlkreise zur Verfügung stehen. Die Idee der „personalisierten Verhältniswahl“ erleidet also schon an dieser Klippe Schiffbruch.

Etwas anderes fällt weit schwerer ins Gewicht. Durch die Überhangmandate wird die Zahl der 299 Wahlkreise und somit die der 299 gewählten Direktkandidaten nicht erhöht. Sie bleibt vielmehr unberührt. Man kann also nicht sagen, die Wähler hätten zu viele Wahlkreisbewerber gewählt. Im Gegenteil! Bei der Wahl 2009 blieben zwei Wahlkreise unbesetzt, der von Julia Klöckner und der von Karl Theodor zu Guttenberg (vgl. PUBLICUS 2011.6, S. 35). Beide sind von ihren Mandaten zurückgetreten, und ihre Wahlkreise wurden nicht mehr nachbesetzt. Es gibt derzeit also nicht 299, sondern nur 297 besetzte Wahlkreise, aber immer noch 22 Überhänge – … und woher kommen sie?

Anders als bei den Überhangmandaten verhält es sich bei den Ausgleichsmandaten. Die Zahl der Listenplätze steigt an, nicht aber die Zahl der Zweitstimmen. Sie bleibt unberührt. Sie kann gar nicht größer werden. Der Überhang wird ja erst nach der Wahl bekannt und erst danach ausgeglichen. Die Zweitstimmen, die für die zusätzlichen Listenplätze unerlässlich sind, werden also aus der Luft gegriffen. Die Träger von Ausgleichsmandaten gelangen nämlich nicht durch Wahl in das Parlament, sondern durch eine „Hintertüre“, die ihnen der Gesetzgeber geöffnet hat.

Die Abgeordneten mit Ausgleichsmandat werden nicht in allgemeiner, nicht in unmittelbarer, nicht in gleicher, nicht in geheimer und schon gar nicht in freier Wahl gewählt. Sie werden überhaupt nicht vom Wahlvolk gewählt, sondern von Wahlleitern obrigkeitlich eingesetzt. Nach dem Gesetz werden die Volksvertreter jedoch vom Volk gewählt. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus und wird in Wahlen ausgeübt. Das ist der Kern der Volkssouveränität. Daraus folgt im Umkehrschluss: Wer nicht gewählt worden ist, kann kein Abgeordneter sein. Der einschlägige Wortlaut der Verfassung ist klar und eindeutig. In Art 38 GG heißt es: „Die Abgeordneten werden (…) gewählt.“ – Punkt!

Der demokratisch vollkommen abwegigen Rechtsfigur des nicht gewählten Abgeordneten erteilt auch das Verfassungsgericht eine unmissverständliche Absage. Die Richter in Karlsruhe haben die Nachbesetzung von Wahlkreisen durch Nachrücker aus den Landeslisten verworfen und führten zur Begründung aus: „Im demokratisch verfassten Staat des Grundgesetzes können die Abgeordneten ihre Legitimation zur Repräsentation nur aus der Wahl durch das Volk beziehen.“ (BVerfG, E. v. 26. 02. 1998, BVerfGE 97, 317, 323). Jede Stimme müsse bestimmten oder bestimmbaren Wahlbewerbern angerechnet werden. Dies müssten die Wähler vor der Wahl kennen können, heißt es an anderer Stelle (a. a. O., S. 326). Und genau das ist bei Mandatsausgleich ausgeschlossen. Die Wähler sind keine Hellseher. Sie können in der Wahlhandlung die Wirkung ihrer beiden Stimmen, die sogar gesplittet werden, nicht in Bezug auf den Mandatsausgleich zwischen den Parteien und schon gar nicht in Bezug auf den nachträglich hergestellten Proporz unter den 16 Bundesländern kennen.

Kommt es bei der Wahl am 22. September 2013 tatsächlich zu Ausgleichsmandaten zwischen Parteien und auch Ländern, dann wird es wohl kein Halten mehr geben. Wer dann nach Art. 41 GG in Verbindung mit dem WahlPrüfG Wahleinspruch einlegen will, um den Abgeordneten mit Ausgleichsmandat den Zutritt zum Parlament zu verwehren, hätte dabei „gute Karten“.

Weist der Bundestag den Wahleinspruch mit Mehrheit zurück – und er hat bisher ja noch nie einem Wahleinspruch stattgegeben! – dann steht dem Einspruchsführer dagegen innerhalb einer Frist von 2 Monaten nach der Mehrheitsentscheidung des Deutschen Bundestags, Beschwerde beim Verfassungsgericht zu. Die 100 Stützunterschriften, die für den Gang nach Karlsruhe bisher notwendig waren, sind inzwischen entfallen, was die Beschwerde ganz wesentlich erleichtert.

Hinweis der Redaktion: Der Autor, rechts- und wirtschaftswissenschaftlicher Publizist, lebt in München und ist durch zahlreiche Beiträge zum Wahlrecht hervorgetreten. Z. T. sind sie auch in seinem Buch: „Wie wählen wir 2013?“ zugänglich (vgl. www.lit-Verlag.de/isbn/3-643–11585-0). Weitere Beiträge unter www.manfredhettlage.de.

 
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