10.07.2017

Standpunkt: Der Gastkommentar

Warum das EuGH-Urteil zum belgischen Kopftuchfall ein Fehlurteil ist

Standpunkt: Der Gastkommentar

Warum das EuGH-Urteil zum belgischen Kopftuchfall ein Fehlurteil ist

Die Suche nach dem Recht geht manchmal verschlungene Wege. | © bluedesign - Fotolia
Die Suche nach dem Recht geht manchmal verschlungene Wege. | © bluedesign - Fotolia

Am 14. März 2017 gab der Europäische Gerichtshof seine Entscheidungen zu den Rechtssachen C-157/15 und C-188/15) als Antworten auf zwei (Vorab-)Anfragen aus Belgien und Frankreich bekannt. Über die Schlussplädoyers der deutschen und britischen Generalanwältinnen wurde in PUBLICUS bereits berichtet und kontrovers diskutiert.

Wie hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden?

Der Gerichtshof hat im Wesentlichen so geurteilt, wie es die beiden Generalanwältinnen vorgeschlagen haben – und genau darin liegt das Problem. Denn im belgischen Vorlagefall hat der Gerichtshof –  getreu dem Vorschlag der deutschen Generalanwältin, Juliane Kokott  – eine Möglichkeit eröffnet, mit der das »islamische Kopftuch« und andere »sichtbare« Zeichen einer religiösen, weltan­schaulichen oder politischen Überzeugung für Beschäftigte in privaten Unternehmen pauschal verboten werden können. Das ist rechtlich und gesellschaftspolitisch problematisch, bislang galt eine Abwägung der widerstreitenden Rechte und Interessen als unerlässlich und Kopftuchtragen als in der Regel zulässig.

Die jetzt vom EuGH abgesegnete Möglichkeit, sichtbare Zeichen eines religiösen Bekenntnisses –  mit gewissen Einschränkungen  – zu verbieten und damit faktisch vor allem das Kopftuchtragen von Musliminnen am Arbeitsplatz weitgehend zu unterbinden, kommt den Ab- und Ausgrenzungsbedürfnissen mancher Zeitgenoss/inn/en und auch dem Selbstdarstellungswunsch mancher Unternehmen als Akteure im vermeintlich »neutralen« Main­stream des jeweiligen nationalen Wirtschaftsverkehrs entgegen.


Schon seit längerer Zeit versucht z.B. eine Drogeriemarktkette mit Filialen vornehmlich in Süddeutschland, ihren Verkäuferinnen das Tragen des Kopftuchs, aber auch von Kettenanhängern mit christlichem Kreuz oder anderen Symbolen zu untersagen. Solche Bestrebungen erhalten nun öffentliche Rückendeckung durch den EuGH, obwohl die deutsche Rechtsprechung der Arbeitsgerichte den Schutz für höchstpersönliche Aspekte der religiösen Bekenntnisfreiheit am Arbeitsplatz grundsätzlich als vorrangig einschätzt, soweit die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer nicht den Betriebsablauf stört oder gehindert ist, die eingegangenen ver­traglichen Verpflichtungen zu erfüllen.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat durch seinen Beschluss vom Januar  2015 (BVerfG vom 27. 01. 2015, 1  BvR  471/10, 1  BvR  1181/10) das Urteil des Zweiten Senats vom 24.  09.  2003 ( 2  BvR  1436/02 ) zurechtgerückt, wonach pauschale Kopftuchverbote für Lehrerinnen in öffentlichen Schulen durch die Bundesländer eingeführt werden durften; und im privaten Arbeitsrecht ist ohnehin nach ständiger Rechtsprechung eine Abwägung im Einzelfall und im obigen Sinne erforderlich ( z.B. BAG vom 10.  10.  2002, 2  AZR  472/01 ). Somit hat sich – nicht nur – in Deutschland gerade die gegenteilige Ansicht zu der nun vom EuGH im belgischen Fall vertretenen durchgesetzt, dass nämlich keine pauschalen Verbote des Kopftuchs und anderer sichtbarer Zeichen religiöser Bindung zulässig seien ( Überblick vgl. Berghahn in: »Vorgänge« Nr.  217/ H. 1/ 2017). Aus deutscher Sicht irritiert die neue Linie des EuGHs umso mehr, als gerade die deutsche Generalanwältin im belgischen Vorlagefall das Tor zur pauschalen Verbotsmöglichkeit aufgestoßen hat!

In beiden Vorlagefällen: Kopftuchverbot und Entlassung

Beide Klägerinnen des belgischen und des französischen Ausgangsfalls wehrten sich gegen ein Kopftuchverbot am Arbeitsplatz bzw. bei Kundenterminen und gegen die schließlich ausgesprochene Kündigung durch den Arbeitgeber. Aus Sicht der beiden Musliminnen ist dies eine »weniger günstige Behandlung« wegen der Religion, also eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG ( Art.  2 Abs.  2 Buchst. A )!

Bei der Vorgeschichte gab es indes einen Unterschied: Im französischen Ausgangsfall durfte die Muslima ( Asma Bougnaoui, EuGH Rs. C-188/15 ) das Kopftuch in der IT-Firma zunächst unbeanstandet tragen; erst nach dem ultimativen Wunsch eines Kunden, in Zukunft nicht mehr von einer Mitarbeiterin mit Hijab beraten zu werden, forderte der Arbeitgeber Frau Bougnaoui zum Ablegen des Stücks Stoff bei Terminen mit Kunden auf, was diese aber ablehnte. Die zuständige britische Generalanwältin, Eleanor Sharpston, bewertete dies als unzulässige unmittelbare Benachteiligung wegen der Religion: An diese Bewertung schloss sich der Gerichtshof an.

Im belgischen Ausgangsfall widersetzte sich Samira Achbita ( EuGH Rs. C -157/15 ), die als Rezeptionistin in einer Sicherheitsfirma arbeitete und nach Jahren ohne Kopftuch dieses fortan tragen wollte, der internen, an alle Beschäftigten gerichteten »Neutralitätsregelung« und wurde daraufhin entlassen. Keine »sichtbaren« Zeichen des Glaubens oder anderer Überzeugungen zu tragen und keine derartigen Riten am Arbeitsplatz zu befolgen, war den Beschäftigten zunächst ungeschrieben auferlegt worden, dann aber mit Billigung des Betriebsrats schriftlich fixiert worden.

Die deutsche Generalanwältin prüfte die Recht- und Verhältnismäßigkeit der von ihr allenfalls als mittelbar eingestuften Diskriminierung und bejahte beides auch im Hinblick auf die Entlassung. Ein milderes Mittel, wie etwa die Versetzung an einen weniger oder gar nicht mit Kundenkontakt ausgestatteten Arbeitsplatz, sei nicht in Betracht gekommen, weil es dem Unternehmen sonst nicht möglich wäre, die Neutralitätsanordnung als generelle, d.h. an alle gerichtete Regelung durchzusetzen. Dies aber sei das Recht des Unternehmers.

Der sachverhaltliche Unterschied zwischen beiden Fällen besteht also im Vorhandensein einer »generellen Regelung« im belgischen Vorlagefall, was der Gerichtshof in leichter Abwandlung des Sprachgebrauchs der Generalanwältin als »interne Regel« bezeichnet. Das Vorhandensein dieses generellen bzw. internen Verbots »sichtbarer« Zeichen führt aber im Rechtsverständnis der deutschen Generalanwältin und des EuGH zu weitreichenden Konsequenzen in der Beurteilung der Vereinbarkeit des Kopftuchverbots und der Entlassung mit der europäischen Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie in Beschäftigung und Beruf ( RL  2000/78/EG ). Auch der Gerichtshof interpretiert das ( pauschale ) Verbot wegen des ( vermeintlich ) »neutralen« Kriteriums der Sichtbarkeit nicht als »unmittelbare« Benachteiligung wegen der Religion; als solche könnte es nicht gerechtfertigt werden, wohl aber als mittelbare. Der Gerichtshof stellt dahin, ob es sich überhaupt um benachteiligende Ungleichbehandlungen handelt. Er gesteht den nationalen Gerichten zu, dass sie derartige Verbote sichtbarer Zeichen als mittelbare Diskriminierungen einstufen können ( Art. 2 Abs.  2 Buchst.  b der RL ), über deren Rechtfertigung sie dann auch selbst befinden sollen (EuGH, C-157/15, Rn.  44).

Der Gerichtshof folgt der vorgeschlagenen rechtsdogmatischen Unterscheidung: »interne Regel« zum Verbot »sichtbarer« Zeichen zulässig – aber mit Einschränkungen!

Anders als die deutsche Generalanwältin nahm der Gerichtshof nicht an, dass die Rezeptionistin Sa­mira Achbita zwangsläufig entlassen werden durfte oder musste. Vielmehr gab der Gerichtshof dem nationalen Gericht, dem belgischen Kassationshof, der in der Sache abschließend entscheidet, zu prüfen auf, ob es »unter Berücksichtigung unternehmensinterner Zwänge und ohne zusätzliche Belastung tragen zu müssen, möglich gewesen wäre«, Frau Achbita einen Arbeitsplatz ohne Sichtkontakt mit Kunden anzubieten, statt sie zu entlassen (  Rn.  41, 43 ). Eine weitere Einschränkung durch den Gerichtshof besteht in einem strengeren Kundenbezug für den Erlass und die Begründung der internen Regel (Rn.  38). Auch der Gerichtshof betonte –  wie schon die Generalanwältin  – die Notwendigkeit der konsequenten Durchführung (Rn.  40). Schließlich räumte er den nationalen Gerichten für die Feststellung einer mittelbaren Diskriminierung und die Beurteilung, ob diese recht- und verhältnismäßig ist, einen weiten Beurteilungsspielraum ein (Rn.  34, 42, 44).

An der rechtsdogmatischen Unterscheidung für die Praxis, die die deutsche Generalanwältin vorgeschlagen hatte, hielt der Gerichtshof jedoch fest: Existiert eine »interne Regel« ( Gerichtshof ) bzw. eine »generelle betriebliche Regelung« (Generalanwältin Kokott), die es Beschäftigten pauschal verbietet, sichtbare Zeichen (oder Kleidungsstücke) ihrer religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugungen zu tragen, so soll damit das Tragen sichtbarer Zeichen im Einklang mit dem Unionsrecht auch verboten werden können, sofern diese »Neutralitätspolitik« in »kohärenter und systematischer Weise verfolgt« wird (Rn.  40). Ob letzteres der Fall ist, sollten ebenfalls die vorlegenden Gerichte feststellen (Rn.  41). Ergeben sich hingegen Indizien dafür, dass ein solches Verbot eine mittelbare Diskriminierung darstellt, indem es für manche Personen eine »besondere« Benachteiligung darstellt, dann müssten auch die nationalen Gerichte entscheiden, ob sich die mittelbare Benachteiligung bezüglich des Ziels sowie am Maßstab der Verhältnismäßigkeit rechtfertigen lässt oder nicht. Dafür billigt der Gerichtshof den nationalen Gerichten einen weiten Beurteilungsspielraum zu und weist ihnen die ausschließliche Entscheidungskompetenz zu (Rn.  44).

Die Rolle des Kundenbezugs …

Rechtsdogmatisch hat der Gerichtshof nur entschieden, dass das Verbot sichtbarer Zeichen einer religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung keine unmittelbare Diskriminierung sei. Ob eine mittelbare Diskriminierung im belgischen Fall vorlag und ob sie rechtfertigungsfähig bzw. gerechtfertigt ist, muss nun der belgische Kassationshof als vorlegendes Gericht entscheiden. Die Vereinbarkeit der »internen Regel«, mit der sichtbare religiöse, weltanschauliche oder politische Zeichen verboten werden können, mit europäischem Richtlinienrecht soll indes nach Ansicht des Gerichtshofs wesentlich von der Stärke der Kundenbezogenheit abhängig sein. Der Kundenbezug spielt für den Gerichtshof eine größere Rolle als für die Generalanwältin in deren Schlussanträgen. Für die Generalanwältin reichte es aus, dass sich der Unternehmer für ein »Neutralitätskonzept« ent­schieden hat, dieses als »generelle Regel« fixiert hat und konsequent durchführt. Nach Ansicht beider gehört ein Verbot sichtbarer Zeichen von u.a. religiösen Überzeugungen zum sog. Direktionsrecht des Arbeitgebers. Dass er es durchsetzen kann, ergebe sich aus Art.  16 der EU-Grundrechte-Charta: »Die unter­nehmerische Freiheit wird nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt.«

… und das Direktionsrecht des Arbeitgebers

Obwohl diese Norm vergleichsweise unkonkret und von rechtlichen und praxisbezogenen Vorbehalten geprägt ist, hatte schon die deutsche Generalanwältin den Schluss gezogen, dass dieses Recht gegenüber dem Recht der Arbeitnehmerin auf persönliche Bekenntnisfreiheit durch Kopftuchtragen vorrangig sei. Ein Unternehmen dürfe sich selbstverständlich auf diejenigen Kundenkreise beziehen, die es ansprechen möchte. Auch die Frage des »Wie« solle der Unternehmer grundsätzlich selbst bestimmen dürfen. Im Schlussplädoyer der deutschen Generalanwältin wurde hier eine pauschale Analogie gezogen: So wie die »Politik der Vielfalt« zulässig sei, sei es eben auch eine »Politik der Neutralität«. Der Gerichtshof sieht ebenfalls den unternehmerischen Rechtsgebrauch als grundsätzlich rechtmäßig an, macht jedoch Einschränkungen:

Es müsse im Hinblick auf das jeweilige Ausgangsverfahren geprüft werden, ob sich die Verbotsmaßnahmen und Sanktionen »auf das unbedingt Erforderliche« beschränken (Rn. 42). So sei von dem vorlegenden Gericht im belgischen Fall zu prüfen, ob sich das Verbot sichtbarer Zei­chen re­ligiöser, po­litischer oder philosophischer Über­zeu­gungen »nur an die mit Kunden in Kontakt tretenden Arbeitnehmer der G4S richtet. Ist dies der Fall, ist das Verbot als für die Erreichung des verfolgten Ziels unbedingt erforderlich anzusehen« ( Rn. 42 ).

Was aber, wenn sich das Verbot nicht nur an die Beschäftigten mit Kundensichtkontakt richtet? Die Aussage des Gerichtshofs kann bedeuten, dass nicht jedes Unternehmen eine solche »interne Regel« für seine Beschäftigten aufstellen und verbindlich machen darf, sondern nur ein Unternehmen mit wesentlichem Sichtkontakt vieler Beschäftigter zu Kunden. Ob sichtbare Zeichen bestimmter Überzeugungen »eine Gefahr« für den Kundenverkehr darstellen müssen, so dass es zu Irritationen bei den Kunden kommt, blieb im Urteil und in den Schlussanträgen unerörtert. Auch offen blieb die Frage, ob das Verbot sichtbarer Zeichen nur dann als »erforderlich« ( und insoweit verhältnismäßig ) gilt, wenn es auf die Arbeitnehmer/innen mit Kundenkontakt beschränkt ist. Sollte dieser Vorbehalt gelten, so müsste die »interne Regel« eine solche Differenzierung nach dem Arbeitsplatzmerkmal »Kundenkontakt« enthalten, und Arbeitskräfte ohne Kundenkontakt brauchten sich nicht an das Verbot zu halten. Dies wird aber vom Gerichtshof nicht klargestellt.

Grundsatzfragen verfassungs- und europarechtlicher Art

Insofern drängen sich einige Grundsatzfragen verfassungs- und europarechtlicher Art auf, zu denen im Urteil nichts ausgesagt wird. Wenn Unternehmen auf ihre Kunden ein­gehen dürfen, dürfen sie dann auch auf (vermeintliche oder reale) Kundenerwartungen eingehen, die auf Vorurteilen und Abneigungen beruhen? Ist das Bemühen um äußerliche religiöse »Neu­tra­lität« nicht bloß ein anderes Wort für die Ausgrenzung erkennbar gläubiger Menschen, besonders als Angehörige religiöser Min­derheiten? Dass dies faktisch vor allem Musliminnen trifft, braucht wohl nicht eigens erläutert zu werden. Aber auch dann, wenn andere Gläubige betroffen sind, wie etwa männliche Juden mit Kippa oder Trä­ger/innen von Halsketten mit Kreuz, Davidstern oder anderen Bekenntnissymbolen, ist die Frage zu stellen, warum solche Verbote ausgerechnet mit der Antidiskriminierungsrichtlinie für Beschäftigung und Beruf vereinbar sein sollen, wo diese doch den Schutz vor Diskriminierung u.a. wegen des Glaubens erreichen soll. Oder will sich der Gerichtshof etwa von seiner bisherigen konsequenten Ablehnung der Rechtfertigung durch vorurteilsbehaftete Kundenwünsche distanzieren?

In Bezug auf Rassismus und ethnische Herkunft hat der EuGH nämlich mit seiner Entscheidung in Sachen Feryn vom 10.  07.  2008 ( RS. C-54/07 ) in deutlicher Weise zum Ausdruck gebracht, dass Kundenwünsche die ( generelle ) Nichteinstellung von Arbeitskräften einer bestimmten ethnischen Herkunft durch einen (belgischen) Arbeitgeber keine Rechtfertigung bieten können, unabhängig davon, ob es sich um unmittelbare oder mittelbare Ungleichbehandlungen handelt. Auch der Entscheidung des Gerichtshofs im aktuellen französischen Vorlagefall zum Kopftuch lässt sich entnehmen, dass ein Unternehmer ein individuelles Verbot sichtbarer Zeichen einer Religion, Weltanschauung oder politischen Meinung gegenüber Beschäftigten nicht mit einem entsprechenden Kundenwunsch legitimieren kann. Warum soll es jedoch bei einer »internen Regel«, die vielleicht ( unerkannt ) auf vermuteten Kundenressentiments beruht, anders sein?

Bei Zulassung von generellen Verboten sichtbarer religiöser Zeichen droht Missbrauch!

Wenn im (partiell) anti-muslimischen gesellschaftlichen Klima Arbeitskräfte mit islamischem Kopftuch nicht gerne gesehen sind und ein Unternehmer sie daher unter seinen Beschäftigten nicht dulden möchte, dürfte es nicht schwer sein, eine entsprechende »interne Regel« zu schaffen und möglichst für (fast) alle ausgeschriebenen Stellen einen Kundensichtkontakt vorauszusetzen, damit keine Muslima mit Kopftuch mehr eingestellt zu werden braucht. Kein Kopftuch zu tragen, lässt sich auf diese Weise allzu leicht zur »wesentlichen und entscheidenden beruflichen Anforderung« im Sinne des Art.  4 Abs.  1 der RL 2000/78/EG erklären.

Ob die interne Regel gegenüber sichtbaren Bekenntnisformen anderer Religionen im Betrieb wirklich konsequent ausgeführt wird, ob z.B. auf Weihnachtsschmuck im Betrieb und Grußkarten zu christlichen Feiertagen verzichtet wird, dürfte kaum nachprüfbar sein. Ein kleines goldenes Kreuz oder ein Fischsymbol an der Halskette lässt sich dann geflissentlich übersehen; ohnehin spielen sichtbare Zeichen oder Bedeckungsregeln in anderen Religionen in Europa heute nicht dieselbe Rolle wie für zahlreiche europäische Musliminnen und Muslime in der Diasporasituation. Somit wird die rechtliche Voraussetzung, dass eine interne unternehmerische Regel, die ein Verbot sichtbarer religiöser Zeichen ausspricht, nicht auf einem Vorurteil gegen eine bestimmte Religion beruhen oder so ausgeübt werden darf, leicht zu einem bloßen Lippenbekenntnis ohne rechtliche Bindung. Denn das Gegenteil ist für vom Verbot Betroffene zwar oft spürbar, aber meist nicht beweisbar; der Rechtsschutz ist aus normativen oder verfahrensrechtlichen Gründen oft unmöglich, z.B. wenn es wegen des Verbots gar keine Muslima mit Kopftuch im Unternehmen gibt. Allenfalls kann der Betriebsrat vielleicht etwas unternehmen, falls es ihn gibt. Im deutschen AGG – aber auch im Antidiskriminierungsrecht mancher anderen EU-Staaten – existiert keine echte Verbandsklage, mit der eine gegen Diskriminierung engagierte Organisation anstelle einer betroffenen Person oder gar präventiv klagen könnte, ohne dass überhaupt eine konkrete Person betroffen ist.

Letztlich wird durch die neue EuGH-Rechtsprechung also eine Möglichkeit geschaffen, das Diskriminierungsverbot wegen der Religion und Weltanschauung durch pauschale unternehmerische Anordnungen zu unterlaufen, obwohl der EuGH bislang alle Diskriminierungskategorien als gleichwertig angesehen und die Schutzwürdigkeit jedenfalls nicht hierarchisch interpretiert hat. Die Glaubens- und Religionsausübungsfreiheit gehört sogar zu den historisch ältesten Grundrechten in Europa, u.a. weil die verheerenden Religionskriege der frühen Neuzeit lehren, wie wichtig die Verteidigung von Toleranz und Glaubensfreiheit angesichts aufflammender gewalt­tätiger Auseinandersetzungen zwischen Gruppen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit nahezu überall auf der Welt ist.

Warum der Gerichtshof dennoch eine Aufweichung seiner ansonsten eher strikten Antidiskriminierungsrechtsprechung vollzogen hat, bleibt letztlich rätselhaft, sieht man mal von Erklärungen der Arbeitsökonomie oder der populistischen Anpassung ab. Die vorsichtigen und nicht ganz klaren Einschränkungen, die der Gerichtshof im belgischen Fall angebracht hat, deuten an, dass der Gerichtshof der nationalen Rechtsprechung ( und Gesetzgebung ) möglicherweise solche delikaten Fragen zur weiteren interpretatorischen Ausdifferenzierung und Konkretisierung allein überlassen wollte und überlassen hat, damit nationale Besonderheiten der Rechtsordnungen, insbesondere des Verfassungsrechts, aber auch der gesellschaftlichen Prägung und Stimmungslage stärker zum Ausdruck kommen können.

Wie ist diese Verschiebung »delikater« Entscheidungen zu beurteilen?

Affirmativ könnte man sagen, dass der Gerichtshof den allgemeinen europarechtlichen Subsidiaritätsgrundsatz –  die Ebenen, »die näher dran sind«, sollen entscheiden!  – für die Details dessen, was ( mittelbare ) Diskriminierung wegen der Religion, Weltanschauung oder politischen Einstellung im nationalen Kontext bedeutet, zur Anwendung bringen will. Auf diese Weise soll nicht wieder –  im Sinne einer »EU-Verdrossenheit«  – behauptet werden können, dass die Brüsseler und Luxemburger Institutionen der Union inzwischen »alles bestimmen« und die nationalen Demokratien nichts mehr zu sagen hätten! Aber war es wirklich eine gute Idee, pauschale Verbote auf Unternehmensebene zuzulassen? Hat man sich vielleicht sogar am ersten Kopftuchurteil des deutschen Verfassungsgerichts von 2003 ein Beispiel genommen? Damals war mangels Einigungsfähigkeit im Zweiten Senat des BVerfG die Entscheidung über gesetzliche Kopftuchverbote für Lehrerinnen an die Bundesländer delegiert worden.

Allerdings lehrt die Aufhebung der pauschalen Verbotsmöglichkeit durch den Beschluss des Ersten Senats von 2015 doch gerade, dass ein »fauler Kompromiss« wie der von 2003 die Konflikte nicht wirklich lösen und befrieden kann, und das Grundrecht gerade die individuelle Einzelabwägung erfordert! Kritisch ist auch anzumerken, dass es zu den gerichtlichen Kernkompetenzen gehört, unmittelbare von mittelbarer Diskriminierung zu unterscheiden, und falls –  wie hier  – Überschneidungen vorhanden sind, anhand einer klaren Konturierung der Rechtfertigungsfähigkeit zu universellen, d.h. überall in der EU geltenden Diskriminierungsverboten, auch wegen der Religion, zu gelangen. Dabei müssen die realen sozialen Auswirkungen der Diskriminierung betrachtet werden; eine formalistische Bezugnahme auf eine angebliche Mittelbarkeit des Kopftuchverbots und der Entlassung als Folge einer pauschalen Regelung, die sich jedoch in keiner Weise von den Folgen einer individuell der Kopftuchträgerin auferlegten Sanktion unterscheidet, können den Verdacht des Unterlaufens des eigenen Antidiskriminierungsrechts nicht widerlegen.

Fortschritt oder Rückschritt?

Wenn der Gerichtshof es schlicht den nationalen Gerichten überlässt, zu bestimmen was als mittelbare Diskriminierung rechtfertigungsfähig sein soll und was nicht, widerspricht dies der europäischen Rechtsdogmatik und dem Gedanken der Diskriminierungsverhinderung bzw. -beendigung! Dass nationale Gerichte auch unter dem bewährten System der vereinheitlichenden EuGH-Vorabanfrage gemäß Art.  267 AEUV letztlich nicht immer zu einer wirklich einheitlichen Anwendung des Unionsrechts kommen, mag unvermeidbar sein, dies aber ausgerechnet beim Antidiskriminierungsrecht mit einer gewissen Beliebigkeit zum Prinzip zu erheben, erscheint fahrlässig.

Bedenkt man, dass die Antidiskriminierungsrichtlinien ( 2000/43/EG, 2000/78/EG ) in ihrer Verbreiterung vom Geschlecht auf die sämtlichen sechs Kategorien (»Rasse« und ethnische Herkunft, Religion und Weltanschauung, Alter, Behinderung und sexuelle Ausrichtung) im Jahre 2000 geschaffen wurden, weil im Jahrzehnt zuvor erschreckend viel Rassismus und Fremdenfeindlichkeit bis hin zu angezündeten Asylbewerberheimen zu Tage getreten waren, so erscheint die nunmehr vom EuGH angeordnete Ausnahmemöglichkeit, insbesondere zulasten muslimischer Kopftuchträgerinnen, als deutlicher Rückschritt.

Hier lässt sich erkennen, wie wenige Gedanken der Gerichtshof auf die möglichen realen Konsequenzen in den Gesellschaften verwendet hat, die fast alle vom ideologischen Streit um das Kopftuch, die Burka, den Islam, um muslimische Gefahrenpotenziale und die Gegenmittel der »westlichen« oder christlichen Leit- und Dominanzkultur zerrissen sind. Hier liegt der Kern des Fehlurteils im belgischen Vorlagefall: zu glauben, dass sich mit dem formalistischen Kriterium der Sichtbarkeit religiöser Zugehörigkeit und der geschlechtsspezifischen Bedeckung der gesellschaftliche Konflikt beilegen lasse. Eher geschieht das Gegenteil, sofern nicht die nationalen Gerichte in die Bresche springen und tatsächlich anhand des ihnen überlassenen Spielraums die Konfrontationen im Arbeitsrecht entschärfen.

Das islamische Kopftuch ist und bleibt vorerst eine wesentliche Projektionsfläche der dem Islam von der Mehrheitsgesellschaft zugeschriebenen Gefahren, und die Idealisierung von äußerlicher »religiöser Neutralität« ist –  jedenfalls in der Privatwirtschaft, wo es ein Neutralitätsgebot wie beim Staat gar nicht gibt  – wohl eher der Versuch einer Rationalisierung von generalisierten Vorurteilen gegenüber besonders gläubigen Menschen, vor allem wenn es sich um kulturell „fremde“ Reli­gionen handelt. Schon die Annahme, dass die Sichtbarkeit eines religiösen Zeichens ein »neutrales Kriterium« sei und sich somit klar von dem wörtlichen Bezug zur Religion (verboten werden mit der unternehmerischen Regelung immerhin »sichtbare religiöse Bekenntnisse«) trennen lasse, ist eine Fehlannahme.

Sowohl nach dem deutschen Grundgesetz (Art.  4 Abs.  1 und 2 GG), als auch nach Art.  10 der EU-Grundrechte-Charta sowie nach Art.  9 EMRK sind Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit umfassend geschützt. Art.  10 Abs.  1 Satz  2 GR-Charta lautet: »Dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen.«

Diesem Schutzumfang zum Trotz nahm die deutsche Generalanwältin eine Unterscheidung bei den geschützten Merkmalen vor und erklärte das sichtbare islamische Kopftuch zu einer religiösen Äußerungsform, die nur minderen Schutz beanspruchen könne, denn das Kopftuch entspreche einem bloßen Brauch, könne vom Arbeitgeber auf die Freizeit beschränkt werden und sei nicht gleichermaßen identitätsstiftend wie die Hautfarbe oder die sexuelle Orientierung. Dieser Deutung hat die britische Generalanwältin in ihrem Schlussplädoyer heftig widersprochen. Der Gerichtshof indes äußerte sich gar nicht zu der Begründungslinie, sondern übernahm das Diktum der deutschen Generalanwältin im Ergebnis: Eine solche Rechtfertigung ist demnach möglich, müsste aber von nationalen Gerichten zu entscheiden sein. Auffällig an der Affirmation des Gerichtshofs bezüglich der Einschränkbarkeit der Religionsausübung und Bekenntnisfreiheit ist, dass sich der EuGH ausgerechnet auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bezieht. Dabei sieht Art.  9 EMRK, der wie Art. 10 der EU-GR-Charta zwar einen umfassenden Schutzbereich enthält, in Absatz  2 einen weitgehenden Gesetzesvorbehalt vor, während dies für Art. 10 EU-GR-Charta und etliche nationale Verfassungsnormen, wie etwa Art. 4 GG, nicht gilt.

Nach dem EU-Grundrecht und der deutschen Verfassung ist daher eine Abwägung im Einzelfall vorgeschrieben. Aber der EGMR hat sich konkret für arbeitsrechtliche Konflikte ebenfalls für eine Einzelabwägung der widerstreitenden Rechte und Interessen ausgesprochen. Der EuGH zieht im Urteil zum belgischen Vorlagefall (in Rn. 39) die EGMR-Entscheidung Eweida u.a. vom 15. 01. 2013 (Nadia Eweida u.a. gegen Vereintes Königreich) heran und fasst die an diesem Tag getroffenen Entscheidungen mit der lapidaren Formulierung zusammen, dass der Menschenrechtsgerichtshof die Einschränkbarkeit der Religionsfreiheit (innerhalb bestimmter Grenzen) zur Verfolgung »eines sol­chen Ziels« bestätigt habe, womit er die unternehmerische Durchsetzung von privatwirtschaftlicher »Neutralität« meint. Tatsächlich hat der Straßburger Gerichtshof jedoch zu mehreren Fällen das Menschenrecht auf Bekenntnisfreiheit gegen die entgegenstehenden Normen und Interessen abgewogen und zum Teil für die Einschränkungsmöglichkeit aus Gründen der Hygiene, der Verletzungs- oder Infektionsgefahr votiert, zum Teil aber auch dagegen: Nadia Eweida wollte ihr Kreuz an der Halskette sichtbar über der Arbeitsuniform am Schalter von British Airways tragen, was ihr von der Fluggesellschaft untersagt wurde. Der EGMR gab Frau Eweida mit der schlichten Begründung Recht, dass ihr sichtbares Kreuz niemandem schade. Daran hätte sich der EuGH ein Beispiel nehmen sollen!

Dr. Sabine Berghahn

Dr. Sabine Berghahn

Juristin, Journalistin, Politikwissenschaftlerin und Privatdozentin, Berlin
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