18.04.2024

„Sozialrecht gehört in die juristische Ausbildung“

Interview mit Dr. Robert Horn und Julia Pfeffer

„Sozialrecht gehört in die juristische Ausbildung“

Interview mit Dr. Robert Horn und Julia Pfeffer

Das Verfahrensrecht ist in der Praxis naturgemäß von großer Bedeutung. | ©fotomowo - stock.adobe.com
Das Verfahrensrecht ist in der Praxis naturgemäß von großer Bedeutung. | ©fotomowo - stock.adobe.com

Das Sozialrechtsverfahren und gewisse „Spezialitäten“ sollen nachfolgend in den Blick genommen werden. PUBLICUS hat dazu ein Interview mit zwei erfahrenen Sozialrichtern geführt, nämlich mit Dr. Robert Horn, Ständiger Vertreter des Direktors des Sozialgerichts Gießen, und Julia Pfeffer, Richterin am Sozialgericht Gießen; Interviewer war das Redaktionsmitglied Franz Königsperger.

PUBLICUS: In der juristischen Ausbildung fristet das Sozialrecht einschließlich Verfahrensrecht ein Nischendasein. Das wird der Bedeutung des Sozialrechts nicht gerecht – oder?

Dr. Horn, Pfeffer: Die Bedeutung des Sozialrechts ist lange Zeit von der Lehre aber auch von den praktizierenden Juristen – z. B. Rechtsanwälten – bei Weitem unterschätzt worden, obwohl das Sozialrecht jeden angeht und enorme volkswirtschaftliche Relevanz aufweist. 2022 wurden knapp 1,2 Billionen Euro für soziale Leistungen ausgegeben. Es darf nicht übersehen werden, dass die einzelnen Streitigkeiten vor den Sozialgerichten für den jeweils Betroffenen von erheblicher Bedeutung für den gesamten weiteren Lebensweg sein können. Häufig geht es darum, ob jemand bereits im Alter von 40 oder 45 Jahren eine sog. Erwerbsminderungsrente erhalten kann oder nicht. Bekommt er die Rente zugesprochen, bedeutet dies für ihn in den meisten Fällen die Sicherung des bisher erworbenen Lebensstandards. Geht das Verfahren zu seinen Ungunsten aus, ist er aber gleichwohl nicht mehr im Arbeitsprozess, so bedeutet dies gerade in der derzeitigen Situation häufig genug den Rückfall auf Grundsicherung oder Sozialhilfe. Ähnlich ist es natürlich auch für die Hinterbliebenen von überragender, manchmal geradezu existenzieller Bedeutung, ob ihnen ein Rentenanspruch zusteht oder nicht. Ganz abgesehen von der materiellen Versorgung genießt der Bezug einer Rente ein ganz anderes Sozialprestige als der Bezug von Sozialhilfe. Stellen Sie sich weiter die Bedeutung einer Unfallversicherungsstreitsache eines vielleicht 20-jährigen Arbeitnehmers vor, in der streitig ist, ob er sich bei dem schweren, zu stärksten Gesundheitsschäden führenden Verkehrsunfall auf dem Weg zur Arbeit befunden hat oder nicht.


Zwar sind in der Öffentlichkeit immer wieder Schlagworte aufgetaucht, wie die von der „sozialen Hängematte“, aber wer durch die Maschen des sozialen Netzes, das durch die Sozialversicherung geknüpft ist, hindurchfällt, muss schon einen hohen Grad an Bescheidenheit aufbringen, wenn er sich damit zufriedengibt, in Zukunft von der Sozialhilfe zu leben. In diesem Zusammenhang wollen wir auch nur ganz kurz erwähnen, dass bei manchen Beitragsstreitigkeiten, wenn es z. B. darum geht, ob eine Firma Arbeitnehmer nicht bei der Sozialversicherung gemeldet hat, der Streitwert leicht in die 100.000,- Euro und mehr gehen kann. Ohne die Bedeutung anderer Gerichtsbarkeiten herabsetzen zu wollen – und auch nicht alle Streitigkeiten der Sozialgerichtsbarkeit sind so bedeutend wie soeben erwähnt –, so erscheint in Relation hierzu eine Mietstreitigkeit oder ein Streit um den Ersatz eines von einer Reinigung verdorbenen Sakkos doch als Kleinigkeit. Wir unterstützen die Forderung der Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der Landessozialgerichte vom Mai 2018, wonach die existenzielle Risikoabsicherung durch das Sozialrecht zum Grundwissen von Juristinnen und Juristen gehören muss. Um der überragenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung des Sozialrechts gerecht zu werden und qualifizierten Nachwuchs für Sozialgerichte, Anwaltschaft und Sozialverwaltung zu gewinnen, ist es – so die Konferenz – unerlässlich, den Stellenwert dieses Fachgebietes in der juristischen Ausbildung zu stärken; Sozialrecht gehört in die juristische Ausbildung.

PUBLICUS: Was macht für Sie den Reiz des Sozialrechts aus, so dass Sie sich letztlich beruflich für die Sozialgerichtsbarkeit entschieden haben?

Dr. Horn, Pfeffer: Für uns war und ist die Bedeutung der Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit in ihren sozialpolitischen Auswirkungen auf die Gesamtheit nicht zu unterschätzen, was nicht nur den Stellenwert, sondern auch den Reiz dieses Fachgebietes beschreibt. Einzelne Entscheidungen können leicht Folgekosten in Millionenhöhe nach sich ziehen. So hat z. B. eine Änderung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in der Rentenversicherung zur Frage der Berufsunfähigkeit für die Rentenversicherungsträger Folgekosten sogar in Milliardenhöhe verursacht. Auch die Entscheidung, ob bestimmte Mittel, wie z. B. der Blindenhund, Medikamente, aber auch andere Hilfsmittel wie Hörgeräte oder Rollstühle als Leistungen von der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragen sind, betrifft ja nicht nur den einzelnen entschiedenen Fall, sondern bedeutet, dass die Krankenversicherungen in ähnlichen Fällen ebenfalls diese Leistungen zu gewähren haben. Im Übrigen hat der Gesetzgeber, wenn auch nicht in ganz so starkem Maße wie im Arbeitsrecht, durch Generalklauseln oder die Einführung von unbestimmten Rechtsbegriffen einen großen Teil an Regelungskompetenz praktisch den Gerichten übertragen, sodass wir im Sozialrecht häufig auch auf sog. Richterrecht stoßen. Vor diesem Hintergrund bietet sich der Richterin/dem Richter am Sozialgericht eine hervorragende Gelegenheit, sich mit seinen Ideen aktiv in die Rechtsfindung einzubringen. Hierbei hilft auch die Prozessordnung, die im Sozialrecht dem materiellen Recht dient, sodass die sozialrichterliche Tätigkeit z.B. im Gegensatz zu Rechtsgebieten, in denen der Beibringungsgrundsatz gilt, weitereichende Ermittlungsmöglichkeiten bietet, die der Vorbereitung gerechter Entscheidungen dienen. Im Endeffekt sind es also die Gestaltungsmöglichkeiten, die für uns den Reiz des Sozialrechts ausmachen.

PUBLICUS: Wie waren Ihre ersten Erfahrungen am Sozialgericht? Was hat sich wesentlich geändert im Laufe Ihres Berufslebens? Wie beurteilen Sie die zunehmende Digitalisierung?

Dr. Horn: Begonnen habe ich vor fast 30 Jahren mit einem Schwerpunktdezernat aus der Arbeitslosenversicherung, die nicht in der RVO, sondern im AFG geregelt war, und einem kleinen Dezernat aus der Angestelltenversicherung. Im Bereich der Arbeitslosenversicherung ging es vor allem um Leistungen nach diesem Gesetz, wenn ein Erwerbstätiger arbeitslos geworden war. Da es sich letztlich auch hier um eine Versicherungsleistung handelte, für die zuvor Beiträge entrichtet worden sein mussten, war häufig streitig, ob die Voraussetzungen für eine Leistung nach dem Arbeitsförderungsgesetz (Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Konkursausfallgeld usw.) erfüllt waren. Ein Großteil der Streitigkeiten in der Arbeitslosenversicherung drehte sich um die Frage der sog. Sperrzeiten. Dies waren Zeiten, für die die Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz gesperrt wurden, weil der Arbeitslose die Beendigung des letzten Beschäftigungsverhältnisses selbst verschuldet hatte. Hier wurde häufig der privatrechtliche Arbeitsgerichtsprozess auf der öffentlich-rechtlichen Ebene weitergeführt. Als Berufsanfänger ist es mir damals gelungen, einen für Sozialrechtsdezernate ungewöhnlich hohen Anteil der Streitsachen zu vergleichen.

Was sich aus juristischer Sicht wesentlich geändert hat im Laufe der Jahrzehnte, ist die praktisch abgeschlossene Vereinheitlichung der sozialrechtlichen Bestimmungen im einem Sozialgesetzbuch. Mittlerweile kommt es zwischen Krankenhausträgern und Krankenkassen auch immer häufiger zu Streitigkeiten im Hinblick auf die Vergütung. In diesen komplizierten Streitigkeiten rund um die Abrechnungsprüfung geht es regelmäßig um die Frage der korrekten Anwendung und Auslegung von Kodierregelungen und der Prüfungsverfahrensvorschriften sowie um das Dreiecksverhältnis von Krankenhaus, Krankenkasse und Medizinischem Dienst der Krankenversicherung. Dieser Komplex und natürlich auch die „Hartz IV Gesetzgebung“ stellen einschneidende Veränderungen im Laufe der letzten Jahre dar.

Der elektronische Rechtsverkehr und der vermehrte Einsatz von Videoverhandlungen sind die sichtbarsten Zeichen des digitalen Wandels in der Justiz. Für viele ist dieser Wandel lange überfällig. Gleichzeitig verändert er den Zugang der Bürgerinnen und Bürger zum Recht. Das sozialgerichtliche Verfahren mit seinem klägerfreundlichen Verfahrensrecht steht hier vor besonderen Herausforderungen. Bei allen digitalen Interaktionsprozessen müssen für nicht vertretene Klagende rechtliches Gehör und ein effizienter Rechtsschutz gewährleistet bleiben. Der allgemein gehaltene Digitalisierungsbegriff muss für das sozialgerichtliche Verfahren mit einem eigenständigen Inhalt gefüllt werden. Es stellen sich Fragen wie etwa welche analogen Verfahrensschritte überhaupt sinnvoll in eine digitale Form überführt werden können und welche Ziele sich damit erreichen lassen.

Pfeffer: Meine ersten Erfahrungen mit dem Sozialgericht fanden auf der anderen Seite des Richtertisches – zunächst als Referendarin beim Hessischen Amt für Versorgung und Soziales und dann als Rechtsanwältin statt. Schon damals herrschte bei mir der Eindruck vor, dass das Sozialrecht sehr wandelbar und aktuell ist. Bereits in der Ausbildung, in der ich glücklicherweise entgegen des Üblichen oft mit dem Sozialrecht in Berührung gekommen bin, lernt man viel Sozialrechtshistorie, was mein Kollege Dr. Horn so schön beschrieben hat. Vom Erstkontakt mit dem Sozialrecht bis zum Wechsel in die Justiz hatte sich materiell-rechtlich bereits einiges geändert, z.B. vom Arbeitslosengeld und der Arbeitslosenhilfe über „Hartz IV“ hin zum Bürgergeld. Man kann sagen, das Sozialrecht ist stets im Fluss – was es auch so spannend macht. Geändert hat sich daneben meines Erachtens vor allem die Wahrnehmung und Erwartungshaltung der Bürgerinnen und Bürger bzw. Klägerinnen und Kläger, was das Sozialrecht angeht. Die Sicherstellung der Funktions- und Tragfähigkeit unseres Sozialrechtsstaates bei gleichzeitig vermehrtem Rufen nach staatlicher Unterstützung und begrenzte Ressourcen – das wird m.E. die größte Herausforderung in den nächsten Jahrzenten sein. Man darf nicht vergessen – ein funktionierender und ausgleichender Sozialrechtsstaat ist eines der wichtigsten Bindeglieder unserer Gesellschaft.

PUBLICUS: Was würden Sie Berufsanfängern bei den Sozialgerichten mit auf den Weg geben wollen? Worin bestehen die speziellen Herausforderungen für Richterinnen und Richter am Sozialgericht?

Dr. Horn: Die richterliche Tätigkeit in der Sozialgerichtsbarkeit ist anders als in der ordentlichen Gerichtsbarkeit durch einen hohen Anteil an Schreibtischtätigkeit geprägt. Verhandlungs- und Erörterungstermine sind seltener. Eine besondere Einarbeitungszeit gibt es jedenfalls in der hessischen Sozialgerichtsbarkeit nicht. Beim „Sprung ins kalte Wasser“ stehen den „Neuen“ viele erfahrene Kolleginnen und Kollegen mit Rat und Tat zur Seite. In allen Gerichten finden regelmäßig (informelle) Runden statt, die nicht zuletzt dem fachlichen Austausch dienen. Niemand sollte sich scheuen, mit Fragen auf andere Fachkolleginnen und Fachkollegen zuzugehen. Denn die elementar wichtigen Praxistipps findet niemand in Juris oder Beck Online. Keinesfalls darf der intensive Austausch mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Serviceeinheit vernachlässigt werden. Auch hier erhalten Berufsanfängerinnen und Berufsanfänger wertvolle Anregungen und Hinweise. Als besondere Herausforderung kommt auf die Berufsanfängerinnen und Berufsanfänger zu, dass die Sozialgerichte – anders als die Verwaltungsgerichte – in der Regel sog. Stuhlurteile fällen, das Urteil wird also unmittelbar im Anschluss an die mündliche Verhandlung in der Sitzung verkündet. Im Hinblick darauf empfiehlt es sich, unbedingt vor der ersten eigenen mündlichen Verhandlung möglichst viele Verhandlungen der Kolleginnen und Kollegen zu besuchen. Hier werden unterschiedliche Verhandlungsstile erkennbar und auch, welche Art des Verhandelns einem selbst am besten liegt. Soweit noch Fragen zur täglichen Arbeit in der Kammer, zur Terminierung und zur mündlichen Verhandlung bestehen, empfehlen wir folgendes Werk: Sozialgerichtsverfahren kompakt – Praxisleitfaden für Richterinnen und Richter in der Sozialgerichtsbarkeit –, erschienen im Richard Boorberg Verlag 2021.

Pfeffer: Dem kann ich mich vollumfänglich anschließen. Was ich Berufsanfängerinnen und Berufsanfängern noch gerne mit auf den Weg geben möchte, ist Mut und Entscheidungsfreude. Niemanden ist geholfen, wenn ein für den Betroffenen elementar wichtiger Streitgegenstand, z.B. eine Erwerbsminderungsrente oder eine existenzsichernde Leistung, erst viele Jahre später zugesprochen oder abgelehnt wird. Wie schon beschrieben – wir haben oft mit Richterrecht zu tun und sich wandelnden Verhältnissen, wir können also durch Rechtsprechung Vieles gestalten.

PUBLICUS: Wo liegen vor allem Besonderheiten im Sozialrechtsverfahren im Vergleich zum allgemeinen Verwaltungsrechtsverfahren?

Dr. Horn, Pfeffer: Das sozialgerichtliche Verfahren entspricht in wesentlichen Teilen tatsächlich dem Verfahren vor den Verwaltungsgerichten. Ebenso wie nach § 86 VwGO gilt das Prinzip der Amtsermittlung unter Heranziehung der Beteiligten (§§ 103, 106 SGG). Es gibt keine Beweisführungslast, bei Unaufklärbarkeit des Sachverhalts verbleibt die objektive Beweislast beim Anspruchsteller oder bei der eingreifenden Behörde. Bei den Abweichungen der Sozialgerichtsverfahren vom allgemeinen Verwaltungsprozess handelt es sich um historisch erklärbare Besonderheiten, in denen sich oft die Problematik des materiellen Sozialrechts spiegelt. Die Prozesskonstellation, die das sozialgerichtliche Verfahren historisch prägt, lässt sich in etwa so beschreiben: Ein wirtschaftlich oder gesundheitlich schwacher und rechtlich nicht bewanderter Bürger klagt gegen eine hochspezialisierte und ressourcenstarke Verwaltung, um elementare Leistungen zu erhalten, die wiederum Teil eines komplexen und unübersichtlichen Sozialsystems sind. Diese Ausgangssituation hatte der Gesetzgeber bei Schaffung des SGG vor Augen, die die Sozialgerichte bei dessen Auslegung heute noch leitet, auch wenn dies bei weitem nicht mehr für alle sozialgerichtlichen Verfahren gilt, etwa für Abrechnungsstreitigkeiten zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen und für das Vertragsarztrecht. In der Praxis fällt zunächst auf, dass Sozialgerichte ihre Ermittlungspflicht oft sehr weit interpretieren, während die Verwaltungsgerichte von den Beteiligten bei gleicher Rechtslage einen substantiierteren Sachvortrag verlangen; hier gilt, dass sich die Tatsachengerichte nicht auf „ungefragte Fehlersuche“ begeben sollen.

Eine Besonderheit des Sozialprozesses ist der sog. Meistbegünstigungsgrundsatz, wonach mit einem sozialrechtlichen Leistungsantrag grundsätzlich alle Leistungen, die ernsthaft in Betracht kommen, begehrt werden, was bei der Auslegung von Klageanträgen zu beachten ist. Eine weitere Besonderheit ist der sog. Grundsatz der Klägerfreundlichkeit, wonach der sozialgerichtliche Rechtsschutz von einer besonders niedrigen Zugangsschwelle und einer größtmöglichen Waffengleichheit geprägt sein soll. Einen weiteren Unterschied stellt die sog. Irrläuferklausel nach §§ 84, 91 SGG für Widerspruchs- und Klageverfahren dar. Widerspruch oder Klage können fristwahrend bei jeder deutschen Behörde eingereicht werden. Der aus dem Verwaltungsprozess bekannte Unterschied von Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist im SGG verwischt. Der eine Sozialleistung ablehnende Verwaltungsakt wird als belastender Verwaltungsakt angesehen, der anzufechten ist. Dass die Ablehnung eines begünstigenden Verwaltungsaktes kein belastender Verwaltungsakt ist, hat die Sozialgerichtsbarkeit noch nicht (an)erkannt, es muss also jeweils eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erhoben werden, obwohl eine Verpflichtungsklage ausreichen würde (§ 54 Abs. 4 SGG). Da über Leistungsansprüche regelmäßig durch Verwaltungsakt entschieden wird, ist jede Klage auf Leistung zugleich auch eine Anfechtungsklage.

Die Sozialgerichtsbarkeit kennt eine eigenartige Form der Untätigkeitsklage nach § 88 SGG. Ist kein Bescheid erteilt worden, so muss der Antragsteller Klage auf Erteilung eines ablehnenden Bescheides erheben; erhält er diesen, ist damit der Rechtsstreit erledigt, er muss eine neue Klage gegen den neuen Bescheid erheben. Diese Praxis widerspricht der ständigen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte, wo sich die Untätigkeitsklage als Verpflichtungsklage auf den beantragten Verwaltungsakt, nicht etwa nur auf die Bescheidung des Widerspruchs richtet. Die Untätigkeitsklage hat keinen materiell-rechtlichen Streitgegenstand, bringt kein vollstreckbares Urteil und läuft auf eine Dienstaufsicht der Sozialgerichte über die Versicherungsträger hinaus. Nach § 71 Abs. 2 SGG sind auch Minderjährige in eigenen Sachen prozessfähig, wenn sie bezüglich des Streitgegenstandes vom Gesetz als geschäftsfähig angesehen werden, nach § 36 SGB I besteht das Recht zur Antragstellung auf Sozialleistungen bereits mit Vollendung des 15. Lebensjahres. Wendet sich ein Kläger aus Irrtum über die Kompetenzen gegen einen unzuständigen Versicherungsträger, so soll das Sozialgericht von Amts wegen die Zuständigkeiten klären und den zuständigen Versicherungsträger beiladen; eine Klageabweisung allein wegen des Irrtums des Klägers über behördliche Zuständigkeit ist zu vermeiden. Hier zeigt sich die praktische Fürsorgepflicht der Sozialgerichte für ihre Kläger. Soweit die Rechtswegkompetenz gewahrt ist, kann auch ein beigeladener Versicherungsträger zur Leistung verurteilt werden.

§§ 86, 96 SGG sehen vor, dass bei Änderung des angefochtenen Verwaltungsaktes nach Widerspruchs- oder Klageerhebung der neue Verwaltungsakt automatisch Gegenstand des Verfahrens wird; der Rahmen wird in der Praxis sehr ausgedehnt, alle möglichen Verwaltungsakte, die während des Verfahrens ergehen, gelten als mitangefochten, um einerseits den Kläger vor der Versäumung erneuter Widerspruchsfristen zu bewahren und andererseits die Überprüfung des gesamten Versicherungsverhältnisses aus Gründen der Prozessökonomie zu ermöglichen. Eine Besonderheit der Beweiserhebung ist § 109 SGG. Da in vielen Gerichtsverfahren über medizinische Fragen gestritten wird, hat der Kläger das Recht, ein Gutachten von einem Gutachter seiner Wahl zu beantragen. Die Kosten für diese Begutachtung sind regelmäßig von dem Kläger zu tragen, können aber auf Antrag nach Abschluss des Verfahrens der Staatskasse auferlegt werden. Das Verfahren ist für den in § 183 Satz 1 SGG genannten Personenkreis kostenfrei. Aufwendungen der Behörden sind nicht erstattungsfähig, die beteiligten Versicherungsträger haben in jedem Fall eine Pauschgebühr an die Gerichtskasse zu entrichten. Die Vorschrift über Verschuldenskosten soll eine missbräuchliche Inanspruchnahme der Sozialgerichtsbarkeit verhindern (§ 192 SGG). Die obergerichtliche Rechtsprechung hat für eine Anwendung des § 192 SGG derart hohe Voraussetzungen aufgestellt, dass die Norm praktisch wenig Bedeutung hat.

PUBLICUS: Das Recht der Sozialhilfe ist im Zuge der sog. Hartz IV-Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit weggenommen und der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesen worden. Nicht alle Vertreter der Verwaltungsgerichtsbarkeit waren davon begeistert. Wie beurteilen Sie den Wechsel der Gerichtsbarkeit?

Dr. Horn, Pfeffer: Das SGB II wurde eingeführt, um eine Gerechtigkeitslücke zu schließen. Denn bis Ende 2004 bezogen dauerarbeitslose Menschen nach Bezug des Arbeitslosengeldes I unbefristet die sog. Arbeitslosenhilfe. Sie waren gegenüber den damaligen Sozialhilfeempfängern privilegiert. Arbeitslosenhilfeleistungen orientierten sich nicht an einem einheitlichen Bedarf, sondern am früheren Einkommen des Leistungsempfängers. Vermögen wurde nicht auf die Leistung angerechnet. Angehörige wurden nicht herangezogen. Nicht zuletzt wurde bei der Erwerbsverpflichtung des Arbeitslosenhilfebeziehers noch auf den vorherigen Beruf Rücksicht genommen. Dagegen musste etwa der Sozialhilfe empfangende Ingenieur jede nur erdenkliche Arbeit oder Arbeitsgelegenheit wahrnehmen. Für diese Ungleichbehandlung von Arbeitslosenhilfebeziehern und Sozialhilfebeziehern gab es keinen vernünftigen Grund. Denn ebenso wie die Sozialhilfe wurde die Arbeitslosenhilfe nicht aus Sozialversicherungsbeiträgen, sondern aus Steuermitteln finanziert. Eigentumsähnliche Ansprüche wie etwa bei Beziehern von Arbeitslosengeld I oder Altersrente konnten bei der Arbeitslosenhilfe somit nicht entstehen. Es versteht sich fast von selbst, dass Zeiten der Arbeitslosigkeit durch die Annehmlichkeiten der Arbeitslosenhilfe künstlich verlängert wurden. In diesem System hatten es sich viele bequem eingerichtet. Dies hat der Gesetzgeber 2005 richtigerweise beendet. Hartz IV hat die Arbeitslosenhilfe abgeschafft, alle erwerbsfähigen Arbeitslosen und ihre Angehörigen ins SGB II und alle nicht Erwerbsfähigen ins SGB XII überführt. Diese rechts- und sozialpolitische Entscheidung – so umstritten sie im Einzelnen auch gewesen sein mag – halten wir im Grundsatz für richtig. Dies gilt auch für den Wechsel in der Gerichtsbarkeit. Jedem SGB III-Richter in der Sozialgerichtsbarkeit waren die §§ 190 – 202 SGB III a.F. geläufig, so dass durch die Zuweisung an die Sozialgerichte kein „fremdes Terrain“ betreten werden musste. Demgegenüber war die Sozialhilfe stets ein Fremdkörper im Zuständigkeitsbereich der Verwaltungsgerichte. Die Zuweisung an die Sozialgerichte folgt dem Grundsatz, dass Sozialrecht zu den Sozialgerichten gehört.

PUBLICUS: Wären Sie dafür, auch andere Rechtsmaterien wie z. B. das Jugendhilferecht der Sozialgerichtsbarkeit zuzuordnen? Welche Kriterien sollten ggf. gelten?

Dr. Horn, Pfeffer: Es spricht in der Tat rechtspolitisch einiges dafür, die Rechtsmaterien des SGB insgesamt der Sozialgerichtsbarkeit zuzuführen. Gerade beim SGB VIII liegt ein ausgewiesener Rechtsanwendungsschwerpunkt beim Bundesteilhabegesetz. Dieses wiederum ist den Sozialgerichten zugeordnet. Einen „Flickenteppich“ bezüglich der Zuständigkeiten halten wir rechtspolitisch und sozialpolitisch nicht für sinnvoll. Die Zuordnung zur Sozialgerichtsbarkeit hat allerdings als unabdingbare Voraussetzung, dass auch eine entsprechende personelle Ausstattung der Sozialgerichte erfolgt.

PUBLICUS: Vor dem Sozialgericht geht es ja oft um Sozialleistungsansprüche. Würden Sie der These zustimmen, dass Sozialrichter eine besondere Empathie brauchen – im Vergleich z. B. zu Zivilrichtern?

Dr. Horn, Pfeffer: Wir können selbstverständlich die Frage beantworten, weshalb wir persönlich die Tätigkeit als Richter in der Sozialgerichtbarkeit interessant finden: Als Richter in der Sozialgerichtsbarkeit steht man immer wieder vor Situationen, in denen es abzuwägen gilt zwischen dem Interesse des Einzelnen am Bezug einer bestimmten sozialen Leistung und dem Interesse der Gemeinschaft, die diese Leistung ja bezahlen muss. Die starken Veränderungen auf dem Gebiet des Sozialrechts führen immer wieder dazu, dass neue Streitfragen auftauchen, mit denen wir uns sozusagen an vorderster Front auseinandersetzen müssen. Nicht immer hilft der Blick in Kommentare oder auf die vorhandene Rechtsprechung, häufig genug bedarf es einer gewissen – wir wollen es nicht zu hoch hängen – schöpferischen eigenen Leistung. Gleichzeitig vermittelt die Beschäftigung mit den verschiedenen Materien des Sozialrechts Einblicke in viele Zusammenhänge des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, mit denen man selbst üblicherweise nicht in Berührung kommt. Diese Einblicke sind für unsere Begriffe auch geeignet, das soziale Verständnis für die sozial Schwachen und weniger Privilegierten zu fördern, wie wir insgesamt meinen, dass ohne ein bestimmtes Interesse an sozialen Zusammenhängen und ein gewisses soziales Engagement eine Tätigkeit im Gebiet des Sozialrechts und insbesondere auch in der Sozialgerichtsbarkeit schnell frustrierend sein kann. Nennen Sie dies in der Tat eine gewisse Empathie. Unterstreichen müssen wir aber, dass die Empathie selbstverständlich die Rechtsanwendung nicht überdecken darf; besteht der Anspruch nicht, können wir als Richter auch nicht zusprechen. In diesen Fällen hilft ein gewisses Maß an Geduld und Empathie enorm. Oft fällt es leichter, das Nichtbestehen eines Anspruchs zu akzeptieren, wenn Sinn und Zweck der einschlägigen Regelungen einmal unjuristisch erklärt und dem Betroffenen Gelegenheit zur Darstellung der eigenen Lage gewährt werden.

PUBLICUS: Herr Dr. Horn, Frau Pfeffer, Sie haben kürzlich mit Prof. Dr. Müller, Direktor des Sozialgerichts Darmstadt, beim Richard Boorberg Verlag ein knapp 300-seitiges Werk zum Sozialgerichtsverfahren herausgebracht. Was war Ihre Motivation? Gibt es nicht schon genug Literatur dazu?

Dr. Horn, Pfeffer: Wir erleben gerade eine Umbruchphase. Die geburtenstarken Jahrgänge sind in Ruhestand gegangen oder gehen bald. Viele dieser Kolleginnen und Kollegen hatten vor dem Wechsel in die Sozialgerichtsbarkeit bereits mehrjährige Berufserfahrung bei Rentenversicherungsträgern, Berufsgenossenschaften, der Versorgungsverwaltung oder der Bundesanstalt (jetzt: Bundesagentur) für Arbeit gesammelt und konnten „nahtlos“ ohne Anlaufzeit als Richterin oder Richter am Sozialgericht starten. Das ist mittlerweile grundsätzlich anders geworden. Die „neuen“ Kolleginnen und Kollegen kommen unmittelbar vom 2. Staatsexamen und werden vom Justizministerium dem Geschäftsbereich des Landessozialgerichts zugewiesen, ohne dass sie über einschlägige sozialrechtliche Kenntnisse verfügen, eben wegen der bereits angesprochenen fehlenden Verankerung der Grundzüge des Sozialrechts als Pflichtstoff in den Justizausbildungsgesetzen. Weder das Mentoring noch Dienstjüngerentagungen gleichen dieses Defizit aus. An dieser Stelle setzt unser Werk an. Lassen Sie uns an dieser Stelle noch ergänzen: Ein Kollege, Vorsitzender Richter am Hessischen Landessozialgericht und zuständig für die Bibliotheksverwaltung, sagte uns gegenüber im Rahmen eines Gesprächs über das Werk: „So etwas hätten wir uns früher als Anfänger in der Sozialgerichtsbarkeit sehr gewünscht“. Des Weiteren eröffnet Sozialrecht ja vielfältigste Beschäftigungsmöglichkeiten, auch jenseits klassisch-juristischer Arbeitsfelder. Kenntnisse im Sozialrecht und Sozialverfahrensrecht ermöglichen neue berufliche Perspektiven. Eine Tätigkeit z. B. bei einem der zahlreichen Sozialverbände bietet dem Absolventen hervorragende Gelegenheiten; die Tatsache, dass die Leistungserbringer im Sozialrecht (Wohlfahrtsverbände, Träger von Kranken- und Pflegeeinrichtungen, Weiterbildungsträger) zu den größten deutschen Arbeitgebern zählen, eröffnet äußerst attraktive Tätigkeitsfelder in einem Umfeld mit spannenden Aufgaben für den Rechtsanwender im Sozialrecht. Auch hier bietet unser Werk eine Arbeitsgrundlage sowie eine Informationsquelle und schließt eine vorhandene Lücke.

PUBLICUS: Welche Bedeutung hat im Sozialverfahrensrecht die Rechtsprechung im Verhältnis zum kodifizierten Recht? Haben Sie Wünsche oder Vorschläge an die Politik zur Änderung des Sozialrechtsverfahrens?

Dr. Horn, Pfeffer: Das Verfahrensrecht ist in der Praxis naturgemäß von großer Bedeutung, weil der materiell-rechtlich begründete Leistungsanspruch dem Begünstigten nichts nützt, wenn er nicht in der Lage ist, den Anspruch im dafür vorgesehenen Verfahren zu realisieren. Damit tritt das Prozessrecht als spezifisches Verfahrensrecht zur Realisierung von streitigen Ansprüchen neben das materielle Recht. Angesichts dessen kommt der Rechtsprechung in diesem Bereich eine genauso wichtige Rolle zu wie im Bereich des kodifizierten Rechts. Trotz oder wegen der grundsätzlich dienenden Funktion des Prozessrechts wäre ohne die Rechtsprechung hierzu die Durchsetzung und Sicherung des materiellen Rechts in Frage gestellt. Die Verfahrensregelungen des SGG haben sich aus unserer Praktikersicht im Großen und Ganzen bewährt.

Der Gesetzgeber sollte darüber nachdenken, ob die Regelung des § 192 SGG (siehe vorher) in ihrer jetzigen Form beizubehalten ist. Geht man davon aus, es handele sich um eine Schadensersatzregelung, schließt sich unmittelbar die Frage an, an welche Tatbestände unser Rechtssystem die Rechtsfolge Schadensersatz anknüpft. Regelmäßig ist das der Fall, wenn „Verschulden“ vorliegt. Für ein Verschulden im Sinne des § 192 SGG ist jedoch konstitutiv, dass dem Klagenden die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung oder-verteidigung dargelegt und er auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des Rechtsstreites hingewiesen wird. Wenn das Gericht letztlich in Würdigung aller konkreten Umstände die Überzeugung gewinnen muss, dass individuell missbräuchliches Verhalten vorliegt, ist auch hier eine sehr hohe Hürde zu überwinden, so dass aktuell von der Anwendung der Vorschrift praktisch kaum Gebrauch gemacht wird. Hier könnte eine Übernahme des Wortlauts von § 34 Abs. 2 BVerfGG helfen, wobei die Gebühr von bis zu 2.600,- Euro selbstverständlich illusorisch ist. Auch der im August 2020 vom Land Hessen vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer besonderen Verfahrensgebühr für Vielkläger im sozialgerichtlichen Verfahren ist ein Ansatz, um sog. Vielklägern besser Herr werden zu können. Dieses Themas sollte sich der Gesetzgeber erneut annehmen.

PUBLICUS: Repräsentanten des Staates wird ja, so heißt es allgemein, zunehmend weniger Respekt entgegengebracht. Was sind Ihre Erfahrungen?

Dr. Horn, Pfeffer: Die Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten gehen im Dienst für die Gemeinschaft oft bis an ihre Grenzen und riskieren ihre eigene Gesundheit für die Sicherheit der Bürger. Häufig wird ihr Einsatz in Notsituationen durch absichtliches und rücksichtsloses Verhalten gestört oder behindert. Erfreulicherweise können wir diese Beobachtung in unserem Geschäftsbereich – jedenfalls bisher – nicht machen. Gleichwohl plädieren wir für einen sorgsamen Umgang mit allen Institutionen, die uns, so fehlbar in wenigen einzelnen Fällen ihre Amtsträger auch einmal sein mögen, viele Jahrzehnte Freiheit, sozialen Frieden und auch Wohlstand gesichert haben.

PUBLICUS: Herr Dr. Horn, Frau Pfeffer – wir danken herzlich für das Gespräch

 

Dr. Robert Horn

Ständiger Vertreter des Direktors des Sozialgerichts Gießen.
 
 

Julia Pfeffer

Richterin am Sozialgericht Gießen
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