29.04.2024

Kommunale Wahlbeamte

Zwischen politischem Meinungskampf und dienstrechtlicher Zähmung

Kommunale Wahlbeamte

Zwischen politischem Meinungskampf und dienstrechtlicher Zähmung

Ein Beitrag aus »Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV

Mit der hohen repräsentativen Stellung von Kommunalwahlbeamten1Zu den kommunalen Wahlbeamten, die dienstrechtlich differenziert zu betrachten sind, gehören in Baden-Württemberg Landräte, Oberbürgermeister, Bürgermeister, Beigeordnete und Amtsverweser (Kees, in: Brinktrine/Hug, BeckOK Beamtenrecht Baden-Württemberg, 26. Edition, Stand: 01.11.2022, § 92 LBG BW Rn. 4; allgemein Sandkuhl, in: Herrmann/Sandkuhl, Beamtendisziplinarrecht, Beamtenstrafrecht, 2. Aufl. 2021, § 2 Rn. 52). gehen oft scharfe politische Auseinandersetzungen einher. Kommunale Wahlbeamte agieren im „Schnittpunkt politischer Willensbildung und fachlicher Verwaltung“.2BVerwG, DÖV 1979, 220, 223. Als Zeitbeamte, die in einem besonderen Dienst- und Treueverhältnis stehen, unterliegen sie den allgemeinen Dienstpflichten, die ihnen u. a. politische Mäßigung und Zurückhaltung sowie inner- und außerdienstliches Wohlverhalten abverlangen. Hitzige politische Debatten und dienstrechtliche Bindungen können Kommunalwahlbeamte in eine Spannungslage führen, in der die Grenzen ihrer Redefreiheit nur im Einzelfall unter Berücksichtigung der Gesamtumstände bestimmbar sind. „Ihr beurteilt Menschen anhand von einem einzelnen Wort. (…) Das ist nichts anderes als der Judenstern.“3Die Authentizität des Zitats ist nicht nur durch im Kern übereinstimmende Medienberichte, sondern vor allem durch ein Video der Frankfurter Rundschau gesichert, welches in einer Fernsehsendung am 31.08.2023 in Anwesenheit des die Echtheit nicht anzweifelnden Kommunalwahlbeamten Palmer ausgestrahlt wurde (abrufbar unter: https://www.zdf.de/ gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-31-august-2023-100.html). Diese öffentliche Äußerung des Oberbürgermeisters von Tübingen gegenüber Protestierenden auf einer Tagung Ende April 2023 in Frankfurt sorgte für viel Aufmerksamkeit und Empörung. Die sich im Anschluss daran aufdrängende Frage, wie das Recht zu einer derartigen Aussage eines kommunalen Wahlbeamten steht, untersucht der vorliegende Beitrag.

A. Wahlbeamte zwischen konfliktreicher Politik und nüchternen Dienstpflichten

Kommunale Wahlbeamte sind regelmäßig Beamte auf Zeit, die – den politischen Beamten ähnlich – „an der Nahtstelle zwischen Politik und Verwaltung“ agieren.4Zitat nach Wichmann, in: Wichmann/Langer, Öffentliches Dienstrecht, 7. Aufl. 2017, Rn. 73. Innerhalb der Zeitbeamten nehmen kommunale Wahlbeamte, insbesondere hauptamtliche Bürgermeister,5BVerfG, ZBR 2018, 304, 309. eine besondere Stellung ein, die auf ihrer Grenzposition zwischen Beamtenrecht und Kommunalrecht beruht („Zwitterstellung“6So zu Wahlbeamten Kutting unter: https://verfassungsblog.de/ kommunale-wahlprufung-als-trumpf-der-demokratie.).7BVerfGE 7, 155, 164; Spitzlei, ZBR 2020, 19, 21; näher zu dieser Sonderstellung Tenostendarp, Zur Äußerungsfreiheit kommunaler Wahlbeamter, 1. Aufl. 2021, S. 14 ff. Als Beamte auf Zeit unterliegen sie den allgemeinen beamtenrechtlichen Dienstpflichten (vgl. § 6 BeamtStG),8Hermann, LKV 2012, 537, 541; Wichmann, in: Wichmann/Langer, Öffentliches Dienstrecht, 7. Aufl. 2017, Rn. 73 m. w. N. die insbesondere in §§ 33 ff. BeamtStG9Auf die Zitierung von Parallelvorschriften für Bundesbeamte (§§ 60 ff. BBG) wird nachfolgend verzichtet. normiert sind. Dazu gehören etwa die Pflicht zur politischen Mäßigung (§ 33 Abs. 2 BeamtStG) sowie die Wohlverhaltenspflicht (§ 34 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG). Beide Dienstpflichten strahlen auch auf das Privatleben aus.10Näher dazu Förster, PersV 2019, 4, 7.

Dass Beamte durch diese und weitere Dienstpflichten vom Gesetzgeber „auf Farblosigkeit“ verpflichtet werden,11So aber Lennartz, AöR 148 (2023), 123, 136. darf jedenfalls für direkt gewählte Wahlbeamte bezweifelt werden. Als Vertreter der Gemeinde dürfen Bürgermeister der Gemeinde „ein persönliches Gepräge geben“.12BVerfG, ZBR 2018, 304, 309. Wenn Kommunalwahlbeamte zu Blässe und Unauffälligkeit gesetzlich verpflichtet wären, müssten sie geradezu auf ihre eigene Abwahl hinarbeiten. Schließlich sorgt Farblosigkeit nicht für Wählerstimmen. Rechtstatsächlich dürfte auch öffentliche Aufmerksamkeitsversessenheit jedenfalls bei Wahlbeamten im Allgemeinen unkritisch sein, solange sie nicht in Skandalverliebtheit umschlägt. Einen wahren Kern könnte die Zuschreibung vermeintlicher „Farblosigkeit“ gleichwohl besitzen: Beamte, einschließlich kommunaler Wahlbeamter, sind vom Gesetzgeber im steten Bemühen um die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Dienstbetriebs (Art. 33 Abs. 5 GG) zu einem gemäßigten und besonnenen Auftreten gegenüber Bürgern und auch harsch agierenden Andersdenkenden verpflichtet; die Zurückhaltungspflicht verlangt Beamten keine „Abstinenz“13Bodanowitz, in: Schnellenbach/Bodanowitz, Beamtenrecht in der Praxis, 10. Aufl. 2020, § 7 Rn. 27. von politischen Redeschlachten, aber professionelle Distanz gegenüber verbalen Eskalationen ab. Einschränkungen auch außerhalb des Dienstes ergeben sich insbesondere für den Stil der politischen Betätigung und die Wortwahl politischer Meinungsäußerungen.14So explizit OLG Stuttgart, Urt. v. 18.03.2021 – DGH 2/19 –, Rn. 76 m. w. N. Diese „besonderen Verhaltensanforderungen“ sind „prägender Bestandteil hoheitlicher Entscheidungstätigkeit“ und sollen „das Vertrauen in eine neutrale und sachgerechte Amtsführung, die Akzeptanz staatlicher Entscheidungen“ sichern.15Zitate nach Schwarz, DÖV 2021, 1045, 1047.


Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass der Beruf eines (Ober-)Bürgermeisters mit politischen Auseinandersetzungen fest verwoben ist und die Grenzen des § 33 Abs. 2 BeamtStG für diese spezielle Beamtengruppe daher unter Umständen großzügiger zu ziehen sein werden als etwa für Verwaltungs- oder Steuerbeamte, deren berufliches Handeln selten mit öffentlich ausgetragenen Konflikten einhergeht.16Siehe Reimer, NVwZ 2022, 371, 377: Es ist „die inhärente Politizität des Amts des Wahlbeamten, insbesondere des Bürgermeisters, zu berücksichtigen“. Kommunalpolitisch Verantwortliche sind zusehends verschiedenen Formen von Angriffen ausgesetzt, darunter Beleidigungen, Bedrohungen und Gewalt.17Siehe dazu die Studie „Präventive Strategien zum Schutz von kommunalen Amts- und Mandatspersonen vor Einschüchterung, Hetze und Gewalt“, 1. Aufl. 2022, S. 40 ff. (abrufbar unter: https://mik.brandenburg.de/sixcms/media.php/9/Kommunalstudie%20BB_finale_Fassung_Auflage1.pdf).

Bürgermeister, die oft im Zentrum kommunalpolitischer Fehde und Kritik stehen, dürfen nicht nur nicht zimperlich sein; sie müssen auch trotz ihrer Beamteneigenschaft rechtlich befugt sein, im Meinungskampf farbig, expressiv und politisch pointiert mithalten zu können. Ein allzu striktes Verständnis der politischen Mäßigungspflicht nach § 33 Abs. 2 BeamtStG würde dem zuwiderlaufen und dürfte auch nicht zu Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, Art. 21 GG und Art. 28 Abs. 1 GG passen.18Vgl. zu Kommunalwahlbeamten im Kontext von Art. 28 Abs. 1 GG und dem in Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG verankerten Demokratieprinzip Spitzlei, ZBR 2020, 19, 21. In der Kommunalpolitik teils besonders harsch geführte Profilierungskämpfe müssen Wahlbeamte ebenso wenig meiden wie hitzige Diskussionen herunterkühlen, was ohnehin oft nicht in ihrer Macht stünde. Sie müssen aber mit ihren eigenen Aussagen den Stil wahren, den die Achtung und das Vertrauen in ihr Amt erfordert (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG), um die Funktionsfähigkeit der Verwaltung nach Art. 33 Abs. 5 GG nicht zu belasten.19Vgl. Lennartz, AöR 148 (2023), 123, 130.

Da die Frage, welche dieser widerstreitenden Rechtspositionen sich durchsetzt, nur im Einzelfall beantwortet werden kann, wird das Spannungsfeld nachfolgend anhand einer konkreten Äußerung eines Kommunalwahlbeamten veranschaulicht und exemplarisch vermessen.

B. Praxisbeispiel als Prüfstein

I. Sachverhalt und Problemaufriss

Am Abend des 28.04.2023 nahm Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer an einer Konferenz in der Goethe-Universität Frankfurt mit dem Titel „Migration steuern, Pluralität gestalten“ teil, zu der u. a. das Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam (FFGI) eingeladen hatte. Um 18:00 Uhr sollte er nach dem Tagungsprogramm20Abrufbar unter: https://www.ffgi.net/files/konferenz-230428-migration_ Programm.pdf. zum Thema „Memorandum für eine andere Migrationspolitik“ vortragen. Bereits auf dem Universitätsgelände wurde er von Demonstranten mit Transparenten (u. a. mit der Aufschrift „Rassismus ist keine Wissenschaft“) empfangen und u. a. gefragt, ob er weiterhin das N-Wort benutze – was ihr Gegenüber bejahte. Oberbürgermeister Palmer habe gegenüber Protestierenden vor dem Eingang des Universitätsgebäudes „demonstrativ und mehrfach“21https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/boris-palmer-steht-zum-n-wort-18855476.html. das N-Wort ausgesprochen. Insgesamt habe er es „fünfmal trotzig-provokativ“22Feldenkirchen, DER SPIEGEL vom 06.05.2023, S. 21 („Die Tragik des Boris P.“). in Frankfurt verwendet.

Überraschend dürfte der unliebsame Empfang für das Stadtoberhaupt von Tübingen dabei nicht gewesen sein: Der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) an der Uni Frankfurt hatte bereits im Vorfeld die Konferenz im Allgemeinen und die Teilnahme von Boris Palmer im Besonderen öffentlich kritisiert.23Siehe „Stellungnahme zur Konferenz Migration steuern, Pluralität gestalten – Herausforderungen und Konzepte von Einwanderungspolitiken“ vom 26.04.2023, abrufbar unter: https://asta-frankfurt.de/2023-04/stellungnahme-zur-konferenz-migration-steuern-pluralitaet-gestaltenherausforderungen-und.

Die „Nazis raus“-Rufe sowie weitere Herabsetzungen der Demonstranten vor dem Universitätsgebäude erwiderte der Oberbürgermeister daraufhin wie folgt:

„Ihr beurteilt Menschen anhand von einem einzelnen Wort. Und dann wisst ihr alles über den Menschen. Das ist nichts anderes als der Judenstern.“24Siehe Videosequenz von Thomas Kaspar (Frankfurter Rundschau), abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=R2byYLY9caU.

Der Judenstern-Vergleich führte zu einem politischen Eklat, in dessen Folge Palmer aus seiner bisherigen Partei austrat. Am 02.05.2023 verkündete die Stadt Tübingen per Pressemitteilung: „Er lässt sein Amt als Tübinger Oberbürgermeister im Monat Juni ruhen, um in einer Auszeit professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. (…) Derzeit ist Boris Palmer aufgrund eines Atemweginfekts im Krankenstand, wird aber, sobald die Symptome abklingen, bis zum Beginn seiner Auszeit wieder seinen Amtsgeschäften als Oberbürgermeister nachgehen.“25Pressemitteilung abrufbar unter: https://www.tuebingen.de/1620.html#/ 39773.

Das Geschehen hat viel mediale Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Während der ebenfalls medienträchtige Fall der Bundespolizistin und Lebenszeitbeamtin Claudia Pechstein, die im maßgeblichen Zeitpunkt Mitte Juni 2023 als Polizeihauptmeisterin (Besoldungsgruppe A9) kein herausragend hohes Statusamt innehatte, jüngst mehrfach in der juristischen Literatur gewürdigt wurde,26Siehe zuletzt Bretschneider/Peter, ZBR 2023, 297 ff.; überzeugend in der Annahme einer Dienstpflichtverletzung jeweils Masuch, NVwZ 2023, 1132 ff. sowie Heinemann unter: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/pechstein-cdu-rede-polizeiuniform; a. A. aber Baßlsperger unter: https://www.rehm-verlag.de/beamtenrecht/blog-beamtenrecht/durfte-claudia-pechstein-ihre-rede-in-polizeiuniform-halten. fehlt es bislang – soweit ersichtlich – an rechtswissenschaftlichen Einschätzungen zu dem Judenstern-Vergleich des Tübinger Stadtoberhaupts (Besoldungsgruppe B8, vgl. § 2 Nr. 2 LKomBesG) von Ende April 2023.

Von dem Wagnis einer solchen Betrachtung sollte schon deshalb nicht abgesehen werden, weil die rechtliche Beurteilung derart öffentlichkeitswirksamer Fälle im Zusammenhang mit hohen Führungskräften aus der Beamtenschaft Orientierungswirkung zeitigen und die Verwaltungskultur in einer Stadt wie Tübingen sowie darüber hinaus prägen kann. Die Stadt Tübingen beschäftigt über 2000 Gemeindebedienstete,27https://www.tuebingen.de/9148.html. darunter viele Beamte, deren oberste Dienstbehörde, Dienstvorgesetzter (§ 44 Abs. 4 GemO BW) und Disziplinarbehörde (§ 5 Abs. 1 Nr. 2, § 7 Abs. 1 LDG) der Oberbürgermeister ist.28Vgl. auch Plog/Wiedow, Kommentar BBG, Band 5, Stand Juli 2016, § 92 LBG BW Rn. 6.

Das BVerwG hat in einer umstrittenen29Tendenziell zustimmend nur Hermanns, DVBl. 2023, 248; kritisch bis ablehnend dagegen Heinemann, NVwZ 2022, 1626; Hufen, JuS 2023, 377; Kaiser, GSZ 2023, 110; Krebs, NVwZ 2023, 557; Masuch, ZBR 2023, 145; Nitschke, ZBR 2023, 154. Entscheidung jüngst ausgeführt, ein mit Disziplinarbefugnissen ausgestatteter Kommandeur der Bundeswehr könne seine „besondere erzieherische und disziplinare Funktion (…) nur glaubhaft wahrnehmen, wenn er sich selbst in dieser Hinsicht weder inner- noch außerdienstlich etwas zuschulden kommen lässt und auf seinen guten Ruf achtet. Die Stellung eines Kommandeurs ist folglich mit erhöhten Integritätsanforderungen verbunden.“30BVerwG, NVwZ 2022, 1622, 1624 Rn. 23.

Würde dieser Gedanke Bestand haben31Das BVerfG wird über eine Verfassungsbeschwerde entscheiden, die gute Erfolgsaussichten haben dürfte, siehe nur die prononcierte Prognose von Kaiser, GSZ 2023, 110, 112: „Die inzwischen eingelegte Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin wird Erfolg haben.“ und weitergeführt werden, so würde sich – falls die Aussage von Oberbürgermeister Palmer gegen Dienstpflichten verstieße – die Frage stellen, ob er als Disziplinarbehörde glaubhaft gegen Verletzungen der Mäßigungs- bzw. Wohlverhaltenspflicht seiner ihm unterstellten Beamten einschreiten könnte.

Umgekehrt lohnt eine dienstrechtliche Untersuchung auch deshalb, weil die Judenstern-Aussage des leitenden Kommunalbeamten bloß als eine von Rechtsverletzungen zu trennende Geschmacklosigkeit zu bewerten sein könnte bzw. als rechtmäßiger verbaler Gegenschlag. Aussagen dieser Kategorien sind in einer Demokratie im Lichte der dafür schlichtweg konstituierenden Meinungsfreiheit grundsätzlich auszuhalten.32Vgl. Hoven/Obert, NStZ 2022, 331, 335. „Dialogethisch“33Begriff nach Ahlf, VerwArch 2001, 405, 424. dürfte die Beurteilung der Judenstern-Aussage auf der Hand liegen. In rechtlicher Hinsicht ist sie dagegen nicht trivial.

II. Historische Einordnung und Interpretation der Äußerung

Der Judenstern war ein von Propagandaminister Joseph Goebbels entworfenes Zwangskennzeichen, das die Nazis nach Vorläufern34Dazu J. Schneider, Vom Gelben Flicken zum Judenstern?, 1. Aufl. 2004, S. 117 ff. in besetzten Gebieten ab September 1941 mit der Polizeiverordnung über die Kennzeichen der Juden35RGBl. 1941, Teil I, S. 547. für das Deutsche Reich einführten, um deren Träger u. a. für Judendeportationen in Ghettos sowie Konzentrationslager leichter identifizieren zu können.36J. Schneider, Vom Gelben Flicken zum Judenstern?, 1. Aufl. 2004, S. 106 f.; siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/Judenstern. Nach § 1 Abs. 1 jener Polizeiverordnung war es Juden, die das sechste Lebensjahr vollendet hatten, verboten, sich ohne Judenstern zu zeigen. Die Maßnahme förderte den Holocaust und wurde zu einem seiner Sinnbilder.

Indem der kommunale Wahlbeamte den Aktivisten in Frankfurt deren Nazivorwurf nicht allein spiegelte, sondern ihr Verhalten mit einer spezifischen und besonders grauenvollen Tat der Nazis während der Phase der systematischen Vernichtung von Juden gleichsetzte, verschärfte er den bereits zugespitzten Konflikt zusätzlich. Damit verbunden insinuiert die Judenstern-Aussage eine Trivialisierung der Ermordung an rund sechs Millionen Juden. Dass dies nicht der Absicht Palmers entsprach, wie er später deutlich machte, kann ohne Weiteres als wahr unterstellt werden. Ihm ging es sichtlich im Kern um Kritik an Sprachtabus im hyperpolarisierten Meinungskampf rund um sog. Canceln und Political Correctness.37Ebenfalls kritisch und zugleich juristisch ergiebig zu diesem Thema von Münch, Meinungsfreiheit gegen Political Correctness, 1. Aufl. 2017, S. 16 ff.; jüngst auch Volkmann, F.A.Z. vom 28.08.2023, S. 6 („Die Regeln des Redens“). Palmer fühlte sich aufgrund seiner Verwendung des N-Worts offenbar gebrandmarkt und als Opfer von Wokeness und Cancel Culture. Doch indem er diese angebliche Stigmatisierung mit dem Judenstern verglich, relativierte er nolens volens die systematische Verfolgung und Vernichtung von Juden in Nazideutschland.38Vgl. jüngst EGMR, NJW 2023, 1929, 1930; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.07.2023 – 2 K 2957/23 – juris Rn. 23.

Dass der mit außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten39Davon zeugt nicht nur sein Abitur, das Palmer mit der Note 1,0 ablegte (siehe https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/waldorfschulenoberbuergermeister-boris-palmer-aus-tuebingen-erzaehlt-a-1250913.html). ausgestattete und politisch erfahrene Oberbürgermeister diese verharmlosende Relativierung nicht erkannte, drängt sich zwar auch angesichts seines in der Vergangenheit geübten Umgangs mit Reizwörtern40Zu einer Äußerung im Zusammenhang mit dem Fußballspieler Dennis Aogo, die zu einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen Palmer führte, das später eingestellt wurde: https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Aogo-Kommentar-Staatsanwaltschaft-stellt-Verfahren-gegen-Palmer-ein-514886.html. nicht zwingend auf, erscheint aber möglich. Deshalb wird diese kaum kontrollierbare innere Tatsache auch zu seinen Gunsten zu unterstellen sein. Gleichwohl ist die Äußerung entlang den üblichen Maßstäben des Rechts zu überprüfen.41Vgl. VG Düsseldorf, Urt. v. 25.07.2023 – 2 K 2957/23 – juris Rn. 24: „Der Kläger muss sich zunächst an der Aussage so festhalten und messen lassen, wie er sie getätigt hat“. Allein für das Gewicht des möglichen Fehlverhaltens und eine etwaige disziplinare Maßnahme zur Ahndung desselben wäre von Belang, ob es sich bei der Äußerung um ein spontanes, unreflektiertes Verhalten im Sinne eines Ausrutschers handelte.42Vgl. OLG Stuttgart, Urt. v. 18.03.2021 – DGH 2/19 – juris Rn. 145; vgl. auch BayObLG, Beschl. v. 20.03.2023 – 206 StRR 1/23 – juris Rn. 22.

[…]

Den vollständigen Beitrag entnehmen Sie den Verwaltungsblättern für Baden-Württemberg Heft 1/2024, S. 1 ff.

 

Professor Dr. Klaus Krebs

Professor für öffentliches Recht an der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg
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  • 1
    Zu den kommunalen Wahlbeamten, die dienstrechtlich differenziert zu betrachten sind, gehören in Baden-Württemberg Landräte, Oberbürgermeister, Bürgermeister, Beigeordnete und Amtsverweser (Kees, in: Brinktrine/Hug, BeckOK Beamtenrecht Baden-Württemberg, 26. Edition, Stand: 01.11.2022, § 92 LBG BW Rn. 4; allgemein Sandkuhl, in: Herrmann/Sandkuhl, Beamtendisziplinarrecht, Beamtenstrafrecht, 2. Aufl. 2021, § 2 Rn. 52).
  • 2
    BVerwG, DÖV 1979, 220, 223.
  • 3
    Die Authentizität des Zitats ist nicht nur durch im Kern übereinstimmende Medienberichte, sondern vor allem durch ein Video der Frankfurter Rundschau gesichert, welches in einer Fernsehsendung am 31.08.2023 in Anwesenheit des die Echtheit nicht anzweifelnden Kommunalwahlbeamten Palmer ausgestrahlt wurde (abrufbar unter: https://www.zdf.de/ gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-31-august-2023-100.html).
  • 4
    Zitat nach Wichmann, in: Wichmann/Langer, Öffentliches Dienstrecht, 7. Aufl. 2017, Rn. 73.
  • 5
    BVerfG, ZBR 2018, 304, 309.
  • 6
    So zu Wahlbeamten Kutting unter: https://verfassungsblog.de/ kommunale-wahlprufung-als-trumpf-der-demokratie.
  • 7
    BVerfGE 7, 155, 164; Spitzlei, ZBR 2020, 19, 21; näher zu dieser Sonderstellung Tenostendarp, Zur Äußerungsfreiheit kommunaler Wahlbeamter, 1. Aufl. 2021, S. 14 ff.
  • 8
    Hermann, LKV 2012, 537, 541; Wichmann, in: Wichmann/Langer, Öffentliches Dienstrecht, 7. Aufl. 2017, Rn. 73 m. w. N.
  • 9
    Auf die Zitierung von Parallelvorschriften für Bundesbeamte (§§ 60 ff. BBG) wird nachfolgend verzichtet.
  • 10
    Näher dazu Förster, PersV 2019, 4, 7.
  • 11
    So aber Lennartz, AöR 148 (2023), 123, 136.
  • 12
    BVerfG, ZBR 2018, 304, 309.
  • 13
    Bodanowitz, in: Schnellenbach/Bodanowitz, Beamtenrecht in der Praxis, 10. Aufl. 2020, § 7 Rn. 27.
  • 14
    So explizit OLG Stuttgart, Urt. v. 18.03.2021 – DGH 2/19 –, Rn. 76 m. w. N.
  • 15
    Zitate nach Schwarz, DÖV 2021, 1045, 1047.
  • 16
    Siehe Reimer, NVwZ 2022, 371, 377: Es ist „die inhärente Politizität des Amts des Wahlbeamten, insbesondere des Bürgermeisters, zu berücksichtigen“.
  • 17
    Siehe dazu die Studie „Präventive Strategien zum Schutz von kommunalen Amts- und Mandatspersonen vor Einschüchterung, Hetze und Gewalt“, 1. Aufl. 2022, S. 40 ff. (abrufbar unter: https://mik.brandenburg.de/sixcms/media.php/9/Kommunalstudie%20BB_finale_Fassung_Auflage1.pdf).
  • 18
    Vgl. zu Kommunalwahlbeamten im Kontext von Art. 28 Abs. 1 GG und dem in Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG verankerten Demokratieprinzip Spitzlei, ZBR 2020, 19, 21.
  • 19
    Vgl. Lennartz, AöR 148 (2023), 123, 130.
  • 20
    Abrufbar unter: https://www.ffgi.net/files/konferenz-230428-migration_ Programm.pdf.
  • 21
    https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/boris-palmer-steht-zum-n-wort-18855476.html.
  • 22
    Feldenkirchen, DER SPIEGEL vom 06.05.2023, S. 21 („Die Tragik des Boris P.“).
  • 23
    Siehe „Stellungnahme zur Konferenz Migration steuern, Pluralität gestalten – Herausforderungen und Konzepte von Einwanderungspolitiken“ vom 26.04.2023, abrufbar unter: https://asta-frankfurt.de/2023-04/stellungnahme-zur-konferenz-migration-steuern-pluralitaet-gestaltenherausforderungen-und.
  • 24
    Siehe Videosequenz von Thomas Kaspar (Frankfurter Rundschau), abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=R2byYLY9caU.
  • 25
    Pressemitteilung abrufbar unter: https://www.tuebingen.de/1620.html#/ 39773.
  • 26
    Siehe zuletzt Bretschneider/Peter, ZBR 2023, 297 ff.; überzeugend in der Annahme einer Dienstpflichtverletzung jeweils Masuch, NVwZ 2023, 1132 ff. sowie Heinemann unter: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/pechstein-cdu-rede-polizeiuniform; a. A. aber Baßlsperger unter: https://www.rehm-verlag.de/beamtenrecht/blog-beamtenrecht/durfte-claudia-pechstein-ihre-rede-in-polizeiuniform-halten.
  • 27
    https://www.tuebingen.de/9148.html.
  • 28
    Vgl. auch Plog/Wiedow, Kommentar BBG, Band 5, Stand Juli 2016, § 92 LBG BW Rn. 6.
  • 29
    Tendenziell zustimmend nur Hermanns, DVBl. 2023, 248; kritisch bis ablehnend dagegen Heinemann, NVwZ 2022, 1626; Hufen, JuS 2023, 377; Kaiser, GSZ 2023, 110; Krebs, NVwZ 2023, 557; Masuch, ZBR 2023, 145; Nitschke, ZBR 2023, 154.
  • 30
    BVerwG, NVwZ 2022, 1622, 1624 Rn. 23.
  • 31
    Das BVerfG wird über eine Verfassungsbeschwerde entscheiden, die gute Erfolgsaussichten haben dürfte, siehe nur die prononcierte Prognose von Kaiser, GSZ 2023, 110, 112: „Die inzwischen eingelegte Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin wird Erfolg haben.“
  • 32
    Vgl. Hoven/Obert, NStZ 2022, 331, 335.
  • 33
    Begriff nach Ahlf, VerwArch 2001, 405, 424.
  • 34
    Dazu J. Schneider, Vom Gelben Flicken zum Judenstern?, 1. Aufl. 2004, S. 117 ff.
  • 35
    RGBl. 1941, Teil I, S. 547.
  • 36
    J. Schneider, Vom Gelben Flicken zum Judenstern?, 1. Aufl. 2004, S. 106 f.; siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/Judenstern.
  • 37
    Ebenfalls kritisch und zugleich juristisch ergiebig zu diesem Thema von Münch, Meinungsfreiheit gegen Political Correctness, 1. Aufl. 2017, S. 16 ff.; jüngst auch Volkmann, F.A.Z. vom 28.08.2023, S. 6 („Die Regeln des Redens“).
  • 38
    Vgl. jüngst EGMR, NJW 2023, 1929, 1930; VG Düsseldorf, Urt. v. 25.07.2023 – 2 K 2957/23 – juris Rn. 23.
  • 39
    Davon zeugt nicht nur sein Abitur, das Palmer mit der Note 1,0 ablegte (siehe https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/waldorfschulenoberbuergermeister-boris-palmer-aus-tuebingen-erzaehlt-a-1250913.html).
  • 40
    Zu einer Äußerung im Zusammenhang mit dem Fußballspieler Dennis Aogo, die zu einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen Palmer führte, das später eingestellt wurde: https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Aogo-Kommentar-Staatsanwaltschaft-stellt-Verfahren-gegen-Palmer-ein-514886.html.
  • 41
    Vgl. VG Düsseldorf, Urt. v. 25.07.2023 – 2 K 2957/23 – juris Rn. 24: „Der Kläger muss sich zunächst an der Aussage so festhalten und messen lassen, wie er sie getätigt hat“.
  • 42
    Vgl. OLG Stuttgart, Urt. v. 18.03.2021 – DGH 2/19 – juris Rn. 145; vgl. auch BayObLG, Beschl. v. 20.03.2023 – 206 StRR 1/23 – juris Rn. 22.
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