13.04.2016

Sozialhilfe für EU-Ausländer?

„Überraschung” für die Kommunen durch das Bundessozialgericht

Sozialhilfe für EU-Ausländer?

„Überraschung” für die Kommunen durch das Bundessozialgericht

Sozialleistungen für EU-Ausländer: Der Gesetzgeber ist gefragt! | © artjazz - Fotolia
Sozialleistungen für EU-Ausländer: Der Gesetzgeber ist gefragt! | © artjazz - Fotolia

Ende des letzten Jahres überraschte das Bundessozialgericht (BSG) die Öffentlichkeit mit Entscheidungen zum Sozialhilfeanspruch für erwerbslose EU-Ausländer in Deutschland (Urteile vom 03. 12. 2015 B 4 AS 59/13; B 4 AS 44/15 R; B 4 AS 43/15 R). Zwar können arbeitsuchende EU-Ausländer von Leistungen der Grundsicherung für Arbeit (§ ٧ SGB II) ausgeschlossen werden, spätestens nach 6 Monaten Aufenthalt in Deutschland müsse aber die Sozialhilfe (§§ 21, 23 SGB XII) einspringen. In den ersten 6 Monaten stehe die Entscheidung, ob Sozialhilfe gezahlt werde, im „pflichtgemäßen Ermessen” der Sozialämter, anschließend reduziere sich dieses auf „Null”, weil sich der Aufenthalt dann „verfestigt” habe.

Der entschiedene Fall

Konkret sprach das BSG einer 2008 aus Rumänien nach Deutschland zugezogenen Familie aufgrund ihres „verfestigten Aufenthaltes” Sozialhilfeleistungen zu. Zwei weitere Verfahren wurden zur Aufklärung des Sachverhaltes an die Vorinstanz zurückverwiesen. Der Anspruch auf Sozialhilfe ergebe sich entweder aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Existenzminimum für Flüchtlinge nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Europäischen Fürsorgeabkommens. Es sei nicht nachgewiesen, dass die Kläger ausschließlich zum Zwecke der Erlangung von Sozialleistungen nach Deutschland eingereist seien. Auch müsste schon drei Monate nach der Einreise die Ausländerbehörde prüfen, ob Antragsteller wirklich auf Arbeitsuche seien und eine begründete Aussicht auf eine Stelle hätten. Der verfestigte Aufenthalt, der zu einem Sozialhilfeanspruch führe, resultiere letztlich nach Auffassung des BSG aus einem Vollzugsproblem der kommunalen Behörden, die diese Aufenthaltsverfestigung durch eine rechtzeitige Prüfung und entsprechende ausländerrechtliche Maßnahme verhindern könnten.

Auswirkungen der BSG-Rechtsprechung

Die konkreten Auswirkungen des Urteils lassen sich zur Zeit nicht exakt beziffern. Nach Aussagen von Landessozialgerichten (LSG) könnten rund 138.000 Menschen betroffen sein. Damit könnten Mehraufwendungen von 600 Mio. bis über 1 Mrd. Euro auf die Kommunen zukommen. Das Urteil hat aber auch eine Signalwirkung. Wer aus den EU-Staaten nach Deutschland kommt, muss es schaffen, sechs Monate vor Ort auszuhalten. Dann haben sie einen verfestigten Aufenthalt und damit Anspruch auf Sozialhilfe. Durch die sozialen Netzwerke werden sich diese in Deutschland geltenden Regeln in den EU-Staaten schnell verbreiten, vor allem in den Ländern, in denen die Verdienstmöglichkeiten weit unter den deutschen Sozialleistungen liegen. Die Mehrzahl der nach Deutschland Zugewanderten stammt aus den Staaten der Europäischen Union und zuletzt stieg die Zahl der SGB II – Leistungsbezieher aus Rumänien und Bulgarien kontinuierlich.


Abweichung von der Rechtsprechung des EuGH

Das BSG weicht aus unerklärlichen Gründen im Ergebnis von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EUGH) ab. In mehreren Entscheidungen hat der EUGH Regelungen für mit dem EU-Recht vereinbar erklärt, mit denen Mitgliedsstaaten Belastungen für die eigenen Sozialhilfesysteme abwehren wollen. Die europäische Freizügigkeit darf nicht in eine Zuwanderung in die Sozialsysteme führen. Die Mitgliedstaaten haben die Möglichkeit, nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die von dem Freizügigkeitsrecht mit dem Ziel Gebrauch machen, von höheren Leistungen der Sozialhilfe eines anderen Mitgliedstaates zu profitieren, diese Sozialhilfeleistungen zu versagen.

Andere Rechtsprechung durch Instanzgerichte …

Interessant ist, dass die Sozialgerichte in Deutschland zuvor anders geurteilt haben. Die Landessozialgerichte in Niedersachsen-Bremen und Berlin-Brandenburg hatten vor den Entscheidungen des BSG die Ansicht vertreten, wer in Deutschland keine Arbeitsstelle finde, könne keine Sozialleistungen beanspruchen, da er sich nicht in einer Notlage befinde. Das LSG Niedersachsen-Bremen urteilte mit Blick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zwar auch für ausländische Staatsbürger gelte, dies jedoch nur für Leistungen, die nach den Umständen des Einzelfalls unabweisbar seien. Bei einer zumutbaren Rückkehr und dies sei für arbeitsuchende EU-Bürger in das Heimatland der Fall, komme in der Regel nur die Übernahme der Kosten für die Rückreise und des bis dahin erforderlichen Aufenthalts in Betracht. Das LSG Berlin-Brandenburg schloss sich dieser Rechtsprechung an und ergänzte darüber hinaus, dass bei einer anderen Auslegung eine Zuwanderung unter Ausnutzung des Sozialsystems und eine Förderung des Sozialtourismus in der EU drohe (L 29 AS 1628/12 B ER).

… auch nach der neuen Rechtsprechung des BSG

Aber auch nach der Entscheidung des BSG folgen die Untergerichte diesem nicht. Erwerbsfähige Unionsbürger, die aufgrund eines gesetzlichen Ausschlusses keine Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende („Hartz IV”) erhalten, können, weil sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder sie kein Aufenthaltsrecht mehr haben, nach einer rechtskräftigen Entscheidung des 3. Senats des LSG Rheinland-Pfalz (Beschluss v. 11. 02. 2016 – L 3 AS 668/15 B ER) grundsätzlich auch dann vom Bezug von Sozialhilfe ausgeschlossen werden, wenn sie sich bereits sechs Monate im Bundesgebiet aufgehalten haben. Angesichts des gesetzlich ausdrücklich geregelten Leistungsausschlusses für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe, dem Sinn und Zweck dieser Regelung, einer „Einwanderung in die Sozialsysteme” unter Ausnutzung der Möglichkeiten, die die Freizügigkeit für EU-Bürger innerhalb des EU-Binnenmarktes bietet, entgegenzuwirken und der sich aus den Gesetzesmaterialien klar ergebenden Zielsetzung des Gesetzgebers, einen solchen Leistungsausschluss sicherzustellen, könne den Ermessensleistungen in diesem Zusammenhang allenfalls ein Ausnahmecharakter beigemessen werden. Daher bedürfe es im Einzelfall besonderer Umstände, um von dem grundsätzlich geltenden Leistungsausschluss abzuweichen. Eine Leistungsgewährung an diesen Personenkreis sei im Übrigen weder europarechtlich geboten, noch ergebe sich eine entsprechende Pflicht aus dem deutschen Grundgesetz. Denn der dem Grundgesetz verpflichtete Gesetzgeber habe keine verfassungsrechtliche Pflicht, jedem Menschen, der sich – aus welchen Gründen auch immer, also legal oder illegal – in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, voraussetzungslose Sozialleistungen zu gewähren. Noch schärfer urteilt das Sozialgericht in Berlin (Urteil v. 11. 12. 2015 S 149 AS 7 7191/13). Es wirft dem BSG vor, über den Willen des Gesetzgebers hinweg entschieden zu haben. Das BSG habe durch die Interpretation von Regelungszielen in eine Norm, die der Gesetzgeber gerade nicht verfolgt habe, die Grenze der richterlichen Gesetzesauslegung überschritten und damit das Prinzip der Gewaltenteilung durchbrochen. Anders als Asylbewerbern sei es Unionsbürgern regelmäßig möglich, ohne drohenden Gefahren für höherrangige Rechtsgüter in ihr Heimatland zurückzukehren. Ganz aktuell haben der 9. (Beschluss v. 22.2.2016 – L 9 AS 1335/15 B ER) und der 15. Senat (Beschluss vom 7.3. 2016 – L 15 AS 185/15 B ER) des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen dem BSG ausdrücklich die Gefolgschaft verweigert.

Weitere Kritik an der BSG-Rechtsprechung

Die Urteile des BSG sind neben den überzeugenden Ausführungen der Untergerichte auch aus anderen Gründen kritisch zu bewerten. Sie hebeln zum einen den Grundsatz des deutschen Sozialhilferechts aus, dass Personen ohne Aufenthaltsrecht keine Sozialleistungen beanspruchen können. Zum anderen muss auch der Bezug auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf das notwendige Existenzminimum hinterfragt werden.

Das Urteil bezog sich auf Sozialleistungen für Flüchtlinge nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Es macht aber einen Unterschied, ob Menschen aufgrund von Verfolgung ihr Heimatland verlassen müssen und in Deutschland um Asyl nachsuchen oder ob Menschen freiwillig auf Arbeitssuche oder vermeintlicher Arbeitsuche nach Deutschland kommen und Sozialleistungen beanspruchen. Sie können jederzeit in ihr Heimatland zurückkehren. Dass dies nicht möglich sein soll, weil sie nunmehr einen Anspruch auf das grundgesetzliche geschützte Existenzminimums des deutschen Sozialstaates haben sollen, erschließt sich nicht. Schließlich stellt sich die Frage, ob das BSG von einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht absehen konnte. Dies wäre schon deshalb geboten gewesen, da das Bundesverfassungsgericht, wie dargelegt, einen anderen Sachverhalt zu beurteile hatte und darüber hinaus auch dem Gesetzgeber nicht jede Befugnis zur Differenzierung abgesprochen hat.

In Konsequenz des Urteils müssen die Ausländerbehörden einen Aufenthalt vor 6 Monaten für beendet erklären, um einen „verfestigten Aufenthalt” und den daraus abgeleiteten Sozialhilfeanspruch zu vermeiden. Die Stadt Offenbach hat bereits angekündigt, bei einem Antrag auf Sozialhilfe in jedem Einzelfall automatisch das Aufenthaltsrecht zu überprüfen. Die Ausländerbehörden arbeiten aber schon aufgrund der Flüchtlingsthematik an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Auf das Problem der mangelhaften Überprüfungsmöglichkeiten von Scheinselbstständigkeiten von EU-Ausländern sei nur am Rande hingewiesen. Wenn das BSG von „Vollzugsdefiziten” spricht, würde man sich ein bißchen mehr Realitätssinn wünschen.

Klarstellung durch den Gesetzgeber vonnöten

Das Bundesarbeitsministerium und der Bundestag sind aufgerufen, vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Urteile der Sozialgerichte zum Ausschluss von Sozialhilfeleistungen für EU-Bürger eine gesetzliche Klarstellung vorzunehmen. Der EuGH hat ausdrücklich den Mitgliedstaaten das Recht eingeräumt, trotz der Freizügigkeit innerhalb der Europäische Union ihre Sozialsysteme zu schützen. Von dieser Möglichkeit muss auch der deutsche Gesetzgeber Gebrauch machen und einen vollständigen Leistungsausschluss von erwerbsfähigen, aber erwerbslosen EU-Ausländern im SGB XII normieren.

 

Uwe Lübking

Beigeordneter für Recht, Soziales, Bildung und Sport, Deutscher Städte- und Gemeindebund, Berlin
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