13.04.2016

Umweltrecht: Gemeinsame Ziele föderal zersplittert

Die Abweichungsmöglichkeiten der Länder vom Bundesrecht

Umweltrecht: Gemeinsame Ziele föderal zersplittert

Die Abweichungsmöglichkeiten der Länder vom Bundesrecht

Föderal zersplittert: das Ziel der Bundeseinheitlichkeit im Umweltrecht mit guten Absichten verfehlt | © mhp - Fotolia
Föderal zersplittert: das Ziel der Bundeseinheitlichkeit im Umweltrecht mit guten Absichten verfehlt | © mhp - Fotolia

Nicht erst die 21. UN-Klimaschutzkonferenz in Paris Ende 2015 hat die internationale Bedeutung der Zusammenarbeit im Bereich des Umweltschutzes aufgezeigt. Bereits zuvor waren zahlreiche Zusammenkünfte unter dem Dach der UNO dafür maßgebend, dass die Umweltpolitik weltweit an neue Herausforderungen angepasst wurde.

Europäisches Engagement für den Umweltschutz

Für den europäischen Rechtskreis ist neben den Mitgliedstaaten in besonderem Maße die Europäische Union aktiv. Diese hat bereits 2007 ein Umweltprogramm aufgelegt und konkrete Klimaschutzziele formuliert. Hierzu gehört u. a. der Versuch, die Treibhausgasemissionen bis 2020 um 20 % zu senken (bzw. um 30 %, wenn andere Industrieländer gleichziehen), die Energieeffizienz bis 2020 um 20 % zu steigern und den Anteil an erneuerbaren Energien bis 2020 um 20 % zu erhöhen (Windkraft, Solarenergie, Wasserkraft, Biomasse).

Die Fortschritte werden institutionell begleitet von der Europäischen Umweltagentur (EUA) mit Sitz in Kopenhagen, die bereits 1994 ihre Arbeit aufgenommen hat. 2010 wurden diese Ziele integrierender Bestandteil der „EU-Wachstumsstrategie 2020 – Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum” (KOM (2010) 2020). Mit Art. 191 AEUV zur Gestaltung der Umweltpolitik verfügt die europäische Ebene über ein Instrumentarium zur Schaffung eines Rahmens zur Umsetzung der klima- und umweltpolitischen Vorhaben. Bekannteste Beispiel für solche Vorgaben sind die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH-RL 92/43 EWG) oder die Vogelschutzrichtlinie (79/409/EG).


Energiewende und Klimaschutz im Koalitionsprogramm

Auf bundesdeutscher Ebene wurden die Ziele in politische Leitsätze gegossen. „Deutschlands Zukunft gestalten“, der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD in der 18. Legislaturperiode des Bundestags stellt – ähnlich wie die EU – die Energiewende und den Klimaschutz in den Kontext von Wachstum, Innovation und Wohlstand. Ähnliche Vereinbarungen finden sich auch auf Länderebene. So enthält z. B. der Koalitionsvertrag zwischen den Parteien Die Linke, SPD und Bündnis 90/Die Grünen „Thüringen gemeinsam voranbringen – demokratisch, sozial, ökologisch“ für die 6. Wahlperiode des Thüringer Landtags unter Fortführung der Thüringer Nachhaltigkeitsstrategie zahlreiche politische Absichtserklärungen zu den Themenfeldern Umwelt- und Naturschutz, naturnahe Lebensräume und Klimaanpassung, Energetische Gebäudesanierung, Klimaschutz und Energiewende sowie Energie- und Klimaschutzstrategie. Entsprechende Äußerungen enthalten alle aktuellen Regierungsvereinbarungen der anderen Bundesländer. Der Klimawandel und seine umweltpolitischen Konsequenzen sind längst in der Landespolitik angekommen und verankert, soweit die Länderbefugnisse reichen.

Föderale Ordnung zeigt vor allem im Umweltrecht Wirkung

Umweltpolitik und in der Umsetzung Umweltrecht sind daher längst keine nationalen oder regionalen Herausforderungen mehr. Daher ist es zunächst verwunderlich, dass die deutsche Legislative vor dem Hintergrund politischer Kompromisse – insbesondere dem Drängen der Bundesländer nachgebend – eine föderale Ordnung konstituiert hat, die einer gemeinsamen Rechtsordnung zur Umsetzung gemeinsamer Ziele entgegensteht. Diesem vielfältigen Spannungsfeld soll der Beitrag gewidmet werden. Besonders soll hierbei auf die (noch) junge Abweichungskompetenz der Länder vom Bundesrecht eingegangen werden, die in erster Linie im Umweltrecht Wirkung zeigt.

Ausgangspunkt der föderalen Ausgangssituation war die Föderalismusreform 2006 (siehe den Beitrag des Autors „Umweltrechtliche Einheit in Vielfalt? Föderalismusreform nach 10 Jahren – Gebot der Klarheit konterkariert”, in: PUBLICUS 2016.3, S. 7 f.). Die Neuordnung der Bund-Länder-Kompetenzen bewirkte im Kern eine Abschaffung der Rahmengesetzgebung des Bundes (Art. 75 GG a.F.) zugunsten einer erweiterten konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz der Bundesebene. Sie schaffte eine völlig neue Systematik der Bund-Länderkompetenzen auf dem Gebiet des Umweltrechts. Der Bund hat danach im Bereich der konkurrierenden Befugnisse die Zuständigkeit. Solange und soweit er davon Gebrauch macht, ist den Bundesländern ein Tätigwerden verwehrt (Art. 72 Abs. 1 GG). Art. 72 Abs. 2 und 3 formulieren davon zwei bedeutende Einschränkungen, die auf Drängen der Ländervertreter aufgenommen wurden.

Die Problematik des Abweichungsrechts

Zum einen kann bei bestimmten Themenfeldern aus dem Katalog des Art. 74 Abs. 1 GG der Bund nur gesetzgeberisch tätig werden, wenn eine einheitliche Regelung zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich ist.

Zum anderen können nach Art. 72 Abs. 3 GG die Bundesländer auf bestimmten Gebieten abweichende Regelungen treffen – mit der Konsequenz, dass 16 verschieden Ländergesetze neben den Bundesvorschriften stehen. Es ist daher durchaus anzunehmen, dass eine solche Rechtszersplitterung im Umweltrecht vom Verfassungsgeber billigend in Kauf genommen wurde, die der einheitlichen Umsetzung von übergeordneten Vorgaben widerspricht. Das Bild wird noch weiter getrübt, wenn man berücksichtigt, dass die Stärkung der Bundeszuständigkeiten nicht nur den Weg zu einem (Bundes-) Umweltgesetzbuch (UGB) freimachen sollte, sondern auch das von sehr großem Legislativeifer der EU geplagte Umweltrecht europarechtstauglicher machen soll. Letzteres erscheint umso einfacher, je einheitlicher und transparenter die Strukturen zur Anpassung von nationalem Recht an EU-Richtlinien sind. Zwar wurde im Zuge der Föderalismusreform eine Rechtgrundlage für das (mittlerweile wohl endgültig gescheiterte) UGB geschaffen. Die strukturellen Gegebenheiten für die Anpassung des Umweltrechts wurden durch die Abweichungsmöglichkeit aber nachhaltig und kontraproduktiv entschleunigt und verkompliziert, was am Beispiel des Umweltrechts dargestellt werden soll.

Die Möglichkeit der Abweichung vom Bundesrecht ist auf einzelne, enumerativ aufgeführte Themenbereiche beschränkt: Das Jagdwesen, der Naturschutz und die Landschaftspflege, die Bodenverteilung, die Raumordnung, der Wasserhaushalt sowie die Hochschulzulassung und die Hochschulabschlüsse. Mit Ausnahme des „exotisch“ anmutenden Teilgebiets des Hochschulrechts betrifft die Abweichungsgesetzgebung als absolute Neuerung in der Verfassungsordnung daher weit überwiegend das Umweltrecht.

Eingeschränkt werden die Länder in ihrem Abweichungsdrang durch bestimmte, aufgezählte „abweichungsfeste Kerne“. Für das Jagdrecht bedeutet dies, dass eine umfassende Andersregelung möglich ist, soweit nicht das abweichungsresistente Recht der Jagdscheine betroffen ist. Was zum Recht der Jagdscheine gehört, ist dabei wiederum bundesrechtlich einheitlich zu beurteilen. Mit dem Verweis, dass dies dem Wortlaut nach sowohl formelle (z. B. das Verfahren zur Erteilung eines Jagdscheins) als auch materielle Voraussetzungen sein können, wird die Problematik der Reichweite der Befugnisse deutlich.

Verfahrensrechtliche Problematik

Gerade die verfahrensrechtlichen Vorgaben nehmen traditionell und verfassungsgemäß die Bundesländer für sich in Anspruch. An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Reform an dieser Stelle eine erhebliche Rechtsunsicherheit hervorgebracht hat, die sich quer durch alle Abweichungsmaterien zieht. Im Bereich des Naturschutzes und der Landschaftspflege sind ebenso Einschränkungen zu machen, namentlich bei den Grundsätzen des Naturschutzes, beim Recht des Artenschutzes und beim Meeresnaturschutz. Beim Wasserhaushalt sind stoff- oder anlagenbezogene Regelungen ausgeklammert, für die Bereiche des Hochschulrechts besteht überhaupt keine Festlegung eines solchen Kerns.

Um der anspruchsvollen Vorgabe verfahrensrechtlich Frau oder Herr zu werden, sieht das Grundgesetz eine formale Vorgehensweise vor. Beispielsweise treten bundesrechtliche Vorschriften, bei denen eine Abweichungsmöglichkeit der Länder besteht, anders als bei Art. 82 Abs. 2 GG erst sechs Monate nach deren Verkündung in Kraft, sofern mit Zustimmung des Bundesrats keine anderslautende Entscheidung zur Karenzzeit getroffen wurde. Die Zwischenzeit können die Länder für die Vorbereitung einer Abweichungsregelung nutzen. Nach Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG gilt dann das jeweilig später erlassene Gesetz vorrangig. Dies wird das Ländergesetz (eine Abweichung per Verordnung ist nicht möglich) sein, da die Abweichung ja schon begrifflich einen vorangegangenen Legislativakt des Bundes voraussetzt. Setzt ein Land eine Bundesregelung außer Kraft, so bleibt es dem Bund unbenommen, eine weitere entgegenstehende Norm zu erlassen.

Keine „gesicherte” Rechtslage im Bereich der Abweichungsgesetzgebung

Dabei ist noch nicht abschließend geklärt, was „Abweichung“ im Sinne des Art. 72 Abs. 3 GG überhaupt bedeutet. Denkbar ist, dass die Länder über eine bundesrechtliche Vorschrift hinausgehen, eine Regelung abändern oder hinter dem Schutz- oder Regelungsstandard zurückbleiben können. Abweichen impliziert wohl auch, dass die bloße Nichtgeltung von Bundesrecht angeordnet werden kann. Ob eine inhaltlich gleiche Rechtsetzung eine „Abweichung“ ist, ist ebenso fraglich, wobei auch hiergegen keine Bedenken bestehen dürften.

In jedem Fall ist festzustellen, dass im Bereich der Abweichungsgesetzgebung keinesfalls von einer „gesicherten“ Rechtslage gesprochen werden kann. Die Herausforderungen, die der Verfassungsgeber den Anwendern gestellt hat, sind nach wie vor virulent. Dies wird an den formellen wie materiellen Unsicherheiten insbesondere bei der Auslegung der abweichungsfesten Kerne deutlich. Das Ziel der Bundeseinheitlichkeit im Umweltrecht als Ergebnis der Föderalismusreform ist daher mit guten Absichten verfehlt worden. Einfacher wäre es auch nicht mit dem Erlass eines Umweltgesetzbuchs geworden. Die Abweichungsgesetzgebung kann sogar ein gefährliches Instrument werden, sollte im Kontext der politisch-thematischen Verquickung mit ökonomischen Zielen ein Wettbewerb um Standards entfacht werden. Dieser stünde absolut im Gegensatz zu den überwiegend einmütigen Vorgaben internationaler Abkommen zum Klimaschutz und der EU-Umweltpolitik, nicht zuletzt zum Paris-Abkommen der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) vom 12. Dezember 2015, die 195 Staaten unterzeichnet haben.

In einem Folgebeitrag soll am Beispiel des Naturschutzrechts aufgezeigt werden, welche Früchte die Rechtszersplitterung sowohl als Folge des formellen Abweichens als auch bei der Ausgestaltung der Abweichungsinhalte bisher getragen hat.

 

Prof. Dr. Matthias Werner Schneider

Fachhochschule Schmalkalden
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