15.09.2016

Schreckgespenst oder eher Hirngespinst?

VW-Skandal und Produkthaftung: Ein Gastbeitrag von Rechtsanwalt Thier

Schreckgespenst oder eher Hirngespinst?

VW-Skandal und Produkthaftung: Ein Gastbeitrag von Rechtsanwalt Thier

Schreckgespenst oder eher Hirngespinst?
Erfolgreiche Produkthaftungsklagen mit Schadensersatz in Millionenhöhe sind auch in Amerika Einzelfälle. | © Syda Productions - Fotolia

Ein millionenschwerer Schadensersatz, weil sich eine Frau mit heißem Kaffee verbrannte und auf diese Gefahr nicht hingewiesen wurde? Viele meiner deutschen und amerikanischen Mandanten sprechen mich im Zusammenhang mit US-amerikanischer Produkthaftung auf diesen berühmten Fall um die Klage gegen den Fast-Food-Giganten McDonald’s an. Seit geraumer Zeit sorgt auch der Abgas-Skandal um die Volkswagen AG für viel Gesprächsstoff. Letzterer verdeutlicht einmal mehr, welches Ausmaß – finanziell und bezogen auf das Unternehmensimage – derartige Vorwürfe annehmen können. Aus Angst vor ähnlichen Klagen und damit einhergehenden exorbitanten Schadenszahlungen zögern immer mehr deutsche exportwillige Unternehmen, den Vertrieb ihrer Waren über den Großen Teich auszuweiten. Doch wie hoch ist dieses Risiko tatsächlich? Anhand der „Dieselgate”-Affäre möchte ich aufzeigen, ob diese Scheu gerechtfertigt ist.

Zentrale Fragen im VW-Skandal

Nachdem bekannt geworden war, dass die Volkswagen-Gruppe eine Software zur unerlaubten Herabsetzung der Schadstoff-Emissionen bei Fahrzeugen im Testlauf verbaute, überschlugen sich die Ereignisse um die Abgas-Affäre. Im Zentrum des Skandals stand der Vorwurf der US-amerikanischen Umweltschutzbehörde EPA, VW habe bewusst gegen den Clean Air Act verstoßen. Hierbei handelt es sich um ein Gesetz, das unter anderem die Fahrzeug-Emissionen in den USA begrenzt. In einer Stellungnahme vom 22. September 2015 räumte Volkswagen selbst den Einsatz einer Software ein, die die Stickoxid-Emissionen bestimmter Dieselaggregate nur auf dem Prüfstand unter den erlaubten Höchstwert drückt. Darin gab der Konzern an, dass die Werte im normalen Fahrbetrieb bis auf das Vierzigfache ansteigen. Weiterhin belief sich die Zahl betroffener Fahrzeuge auf 11 Millionen weltweit, darunter mehr als 2 Millionen allein in Deutschland. Laut späterer Aussage des Konzerns wurden auch Fabrikate der Töchter Audi, Škoda und Seat mit der manipulierenden Software ausgestattet. Das Bekanntwerden der Abgas-Affäre setzte eine regelrechte Klagewelle in Gang. Zunächst leitete das US-Bundesjustizministerium aufgrund des Verstoßes gegen den Clean Air Act die Rechtsverfolgung gegen die deutschen Unternehmen Volkswagen AG, Audi AG und Porsche AG sowie die US-Gesellschaften von Volkswagen und Porsche ein. Die Klageanträge lauteten auf einstweilige Verfügung und Schadensersatz. Auch die US-amerikanische Verbraucherschutzbehörde FTC (Federal Trade Commission) ging wegen unfairer Handelspraktiken gerichtlich gegen den Konzern vor. Wie ZEIT ONLINE berichtete, fordern zudem das Bundesland Bayern sowie Dutzende Aktionäre in Deutschland und den USA Entschädigungen in Milliardenhöhe für die Kursverluste nach Bekanntwerden der manipulierten Schadstoffwerte.

Außerdem versuchen laut ZEIT ONLINE Käufer von Fahrzeugen, in denen die betreffende Software zum Einsatz kam, auch eigene zivilrechtliche Ansprüche geltend zu machen. Wie das Medium weiter angab, müssen sich in Deutschland darüber hinaus 21 derzeitige und ehemalige Mitarbeiter des VW-Konzerns wegen bewusster Täuschung der Behörden vor Gericht persönlich verantworten. Ermittelt werde unter anderem gegen den früheren Volkswagen-Chef Martin Winterkorn und den amtierenden VW-Markenchef Herbert Diess wegen möglicher Marktmanipulation. Laut Angaben des Wall Street Journals glaubt die US-amerikanische Staatsanwaltschaft Beweise für kriminelles Fehlverhalten im Zusammenhang mit manipulierten Abgaswerten gefunden zu haben. Ob es hier zu einer Strafanzeige kommt und sich womöglich Mitarbeiter des Konzerns vor Gericht verantworten müssen, wird sich noch zeigen. In dem Fall wären entsprechende strafrechtliche Folgen nicht auszuschließen.


Rechtslage in Deutschland verglichen mit der in den USA

Die Produkthaftungsgesetze in Deutschland und den USA unterscheiden sich gar nicht so sehr voneinander. Grundsätzlich können Produkthaftungsklagen aufgrund von zwei Punkten veranlasst werden: wenn ein Schaden unmittelbar aus einem Produktionsfehler resultiert oder eine Ware ein unvorhersehbares Gefahrenpotenzial birgt, auf das nicht hingewiesen wurde. Einer der offensichtlichsten Unterschiede zwischen deutscher und US-amerikanischer Produkthaftung ist aber die im US-amerikanischen Gesetz verankerte Idee von der Erziehung von Marktteilnehmern durch Zahlung einer zivilrechtlichen Strafe. Danach zahlt der Verursacher dem Geschädigten als Bestrafung für besonders rücksichtsloses und schädigendes Verhalten eine Summe, die deutlich höher liegen kann als der eigentliche Schaden. Auf diese Weise sollen Schädiger und vor allem auch andere potenzielle Verursacher vor derartigem Verhalten abgeschreckt werden. Anhand der „Dieselgate”-Affäre lassen sich jedoch nicht nur die länderspezifischen Produkthaftungsgesetze aufzeigen. In Deutschland und möglicherweise den USA müssen sich ebenso einzelne für das Unternehmen tätige Manager vor Gericht verantworten. In beiden Ländern sieht die Gesetzeslage vor, dass auch Angestellte eines Unternehmens strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie sich einer gesetzwidrigen Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht haben. In den USA besteht zudem die Möglichkeit, dass das Unternehmen selbst wegen Fehlverhaltens strafrechtlich zur Verantwortung gezogen und gegebenenfalls zu einer Geldstrafe verurteilt wird. Da US-amerikanische Unternehmen bei fehlender Aufsicht selbst finanzielle Konsequenzen zu tragen haben, steigert sich natürlich auch deren Interesse am Wohlverhalten ihrer Angestellten und Manager.

Betrachten wir nun die Gesetzeslage für die vielen Endverbraucher, die gerichtlich gegen den Konzern vorgehen. Abgesehen von den fraglichen Erfolgsaussichten solcher Klagen US-amerikanischer Autobesitzer gegen die VW-Gruppe in den USA versprechen Klagen von deutschen VW-Besitzern in den USA auch aus anderen Gründen nicht mehr Erfolg. Denn amerikanische Gerichte sind in den letzten Jahren von der früher oft zu lockeren Bereitschaft abgewichen, auch Klagen mit nur beiläufigem US-Bezug anzunehmen. Ein deutscher VW-Besitzer müsste somit gegen eine der US-Gesellschaften der Gruppe klagen. Da das Fahrzeug des deutschen Kunden aller Wahrscheinlichkeit nach aber von der deutschen VW-Gesellschaft in den Verkehr gebracht worden ist, lässt sich wohl wahrscheinlich kein ausreichender Zusammenhang zwischen deutschem Autofahrer und den USA erkennen. Zudem gilt in den USA die Regel, dass US-Gerichte Klagen abweisen können, die andernorts besser verhandelt werden können, etwa wegen stärkerem Bezug zu einer anderen Gerichtsbarkeit und einfacherem Zugang zu Beweismitteln. Auch davon müsste man in so einem Fall ausgehen.

Risikoeinschätzung für Produkthaftungsklagen

Vom Imageschaden des Konzerns ganz abgesehen, kommt auch aus rechtlicher Sicht einiges auf die Volkswagen-Gruppe zu. Gemäß den Regelungen des Clean Air Acts waren Strafen bis zu 37.000 Dollar für jedes betroffene Fahrzeug im Gespräch. Bei knapp 600.000 betroffenen Pkw in den USA, wie auf tagesschau.de veröffentlicht, hätten sich allein hieraus Strafen bis zu 19,4 Milliarden Dollar ergeben. Bezogen auf die Klage der US-amerikanischen Umweltschutzbehörde liegt allerdings kein Fall der Produkthaftung im klassischen Sinn vor. Hier verklagt der amerikanische Staat ein Unternehmen wegen Verstoßes gegen ein Gesetz, das Strafzahlungen bei Verstößen in definierter Höhe vorsieht. Im deutschen Prozess der Großinvestoren lag die zu erwartende Summe laut SZ.de deutlich höher, nämlich im dreistelligen Milliarden-Bereich. Käufer, die in den USA zivilrechtlich gegen VW und die verwandten Unternehmen vorgehen und sich dabei auf die Regeln der Produkthaftung berufen, sollten sich allerdings keine zu großen Hoffnungen auf erfolgreichen Klageausgang durch ein Urteil machen. Schließlich handelt es sich hier weder um einen Produktionsfehler, noch geht von der Datenmanipulation ein unvorhersehbares Risiko für den Endverbraucher aus. Zudem ist dem einzelnen Verbraucher kaum ein eigener, individueller Schaden entstanden. Ob hier trotzdem Raum für einen Strafschadensersatz, also ‚punitive damages’ besteht, wird die Zukunft zeigen.

Wie ZEIT ONLINE weiter berichtete, konnte in den USA Ende Juni 2016 vorläufig eine Einigung im Rechtsstreit erzielt werden. Das zuständige Gericht gab sein Einverständnis für einen Milliarden-Vergleich mit den US-Klägern. Volkswagen erklärte sich laut Angaben von ZEIT ONLINE bereit, 14,7 Milliarden Dollar zu zahlen. Davon sollen gut 10 Milliarden als Entschädigung für Besitzer eines betroffenen Fahrzeugs dienen. Weiter hieß es, dass eine Summe im Milliardenbereich in einen Fonds für die Verringerung der Luftverschmutzung eingezahlt sowie in die Entwicklung von Infrastruktur und Werbung für emissionsfreie Fahrzeuge investiert werden soll. Wie das Medium berichtete, wurde, bezogen auf die Gesamtsumme, in der Geschichte der Automobilindustrie noch nie zuvor ein so hoher Vergleich erzielt. Geschädigte Besitzer von manipulierten Dieselautos können sich bis zum 16. September 2016 entscheiden, ob sie den Vergleich annehmen, so ZEIT ONLINE weiter. Anschließend wird das Bezirksgericht eine endgültige Entscheidung fällen. Wie die deutsche Rechtsprechung mit der „Dieselgate”-Affäre verfahren wird, ist bislang noch offen.

Tatsächlich einigen sich die Parteien in Produkthaftungsklagen meistens außergerichtlich. Es ist zudem keinesfalls die Regel, dass zivilrechtliche Produkthaftungsklagen auf horrende Schadensersatzleistungen hinauslaufen. Oft verlaufen diese aufgrund mangelnder Beweise oder fehlendem konkreten Schaden im Sande.

Das Risiko der Produkthaftung lässt sich mit guter Bezahlung und Vorsorge durchaus beherrschen. Der sicherste Weg, um die Gefahren einer Produkthaftung einzudämmen, ist offensichtlich, fehlerfreie und gefahrenlose Ware zu produzieren. Da die Fehlervermeidung bei Produktion und Gebrauch allein jedoch keinen vollen Schutz vor Haftungsklagen bietet, sorgt auch eine entsprechende Versicherung vor. Hier sollten neben dem gesetzlichen Schutz auch die Montage von Produkten ausdrücklich inbegriffen und die Versicherung langfristig abgeschlossen werden. So sind Unternehmen bei eventuell entstandenen Schäden auch nach Jahren noch abgesichert.

Es hat sich gezeigt, dass sich das Risiko, in Produkthaftungsfragen rechtlich belangt zu werden, mithilfe fachkundiger Beratung und guter Vorsorge durchaus beherrschen lässt. Deutsche Unternehmen, die den Export ihrer Produkte in die USA planen, sollten vorab fachlich qualifizierte Auskünfte über wichtige rechtliche Grundlagen einholen. Neben einem guten Konzept empfehle ich aber auch Risiko- und Gefährdungsanalysen sowie regelmäßige Qualitätskontrollen der Produkte durchzuführen, um auch auf dem US-amerikanischen Markt erfolgreich und zugleich rechtlich abgesichert zu sein. Entgegen der allgemeinen Annahme handelt es sich bei erfolgreichen Produkthaftungsklagen um Einzelfälle. Es gehen längst nicht alle US-amerikanischen Produkthaftungsklagen gegen deutsche Hersteller zugunsten des Verbrauchers aus. Daher bleibt der Ausgang der zivilrechtlichen Klagen gegen den VW-Konzern noch vollkommen offen.

Hinweise der Redaktion: Carl-Christian Thier ist seit 1997 als Rechtsanwalt zugelassen und seit 2006 Partner der Kanzlei Urban Thier & Federer P.A. Die Kanzlei vertritt deutsche Firmenmandate in Angelegenheiten des deutsch-amerikanischen Rechts. Carl-Christian Thiers Tätigkeitsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet des Internationalen Rechts, hier insbesondere des deutsch-amerikanischen Gesellschafts-, Vertrags- sowie des deutsch-amerikanischen Steuerrechts. Darüber hinaus ist er im Bereich des deutsch-amerikanischen Produkthaftungsrechtes tätig und fungiert als Rechtsanwalt mit Zulassungen in Deutschland und den USA als Vermittler zwischen den verschiedenen Rechtssystemen.

Carl-Christian Thier

Carl-Christian Thier

Rechtsanwalt, Anwaltskanzlei Urban Thier & Federer P.A., Orlando, München
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