30.09.2024

Rechtsprechung und Künstliche Intelligenz

Einbeziehung von KI in die Wahrnehmung gerichtlicher Aufgaben

Rechtsprechung und Künstliche Intelligenz

Einbeziehung von KI in die Wahrnehmung gerichtlicher Aufgaben

Ein Beitrag aus »Thüringer Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Thüringer Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV
A. Einleitung

Künstliche Intelligenz (KI) ist eine der bedeutsamsten technischen Entwicklungen unserer Zeit.1 Zwar lassen sich Potenziale und Risiken bislang nicht seriös abschätzen. Es wird jedoch bereits deutlich, dass KI nahezu alle Lebensbereiche durchdringen und darauf eine prägende Wirkung entfalten wird.

Dies gilt auch für die Rechtsprechung. Wenngleich die Digitalisierung der Arbeit der Gerichte in Deutschland nicht von Überbeschleunigung gekennzeichnet ist,2 schreitet sie stetig voran und greift auch neue Themen auf.3 Die Verbreitung von KI an den Gerichten ist bislang zwar noch wenig ausgeprägt. Es sind jedoch ca. 20 Pilotprojekte in Deutschland bekannt, in denen die Einbeziehung von KI in die Wahrnehmung gerichtlicher Aufgaben erprobt wird; überdies haben die Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs auf ihrer 74. Jahrestagung im Mai 2022 ein Grundlagenpapier über „Einsatz von KI und algorithmischen Systemen in der Justiz“ beraten4 und war KI drei Jahre zuvor auch bereits Gegenstand des Abschlussberichts der Länderarbeitsgruppe „Legal Tech: Herausforderungen für die Justiz“5. In Anbetracht dessen ist das Thema – bereits vor Auslösung des KI-Hypes durch die Zugänglichmachung von ChatGPT für eine breite Öffentlichkeit am 30.11.2022 – in den Überlegungen zur Zukunft der Justiz angekommen.

Diese Wahrnehmung in Deutschland fügt sich in die europäischen Entwicklungen ein.6 So findet sich in der österreichischen eJustiz-Strategie die Bezeichnung von KI als „Schlüsseltechnologie“7. Der derzeit in finaler Abstimmung befindliche Entwurf für eine KI-Verordnung der EU8 greift die Möglichkeit der Nutzung von KI durch Gerichte ebenfalls auf, ohne jedoch bereichsspezifische Regelungen zu enthalten, und qualifiziert in Art. 6 Abs. 2 i. V. m. Nr. 8 lit. a Anhang III „KI-Systeme, die bestimmungsgemäß Justizbehörden bei der Ermittlung und Auslegung von Sachverhalten und Rechtsvorschriften und bei der Anwendung des Rechts auf konkrete Sachverhalte unterstützen sollen“, als Hochrisiko-KI-Systeme, für die gesteigerte Anforderungen gelten (sollen).


In anderen Weltgegenden kommt KI im Kontext der Justiz bereits häufiger zum Einsatz. Dies gilt in nicht unerheblichem Umfang für die VR China.9 In den USA machen Gerichte in Bezug auf die Beurteilung der Rückfallwahrscheinlichkeit von Straftätern im Zuge ihrer Entscheidungsvorbereitung von KI Gebrauch („predicitive policing“) – und stoßen dabei auf deren Funktionsgrenzen.10 Aus anwaltlicher Sicht ist vor allem die dort am weitesten fortgeschrittene automatisierte Entscheidungsanalyse zur Vorhersage des Klageerfolgs („judicial outcome prediction“) von Interesse.11 Dagegen endete die Vorbereitung eines Schriftsatzes mit ChatGPT durch einen New Yorker Anwalt in dessen Sanktionierung, da die KI zitierte Fälle erfunden und damit die Grenzen juristischer Argumentation und damit zugleich zulässigen anwaltlichen Verhaltens überschritten hatte.12

Im Folgenden soll zunächst ein Überblick über die Einsatzmöglichkeiten von KI in der Justiz erfolgen (B.). Diese sind im Wesentlichen von der technischen Entwicklung abhängig. Stärker – wenn auch nicht ausschließlich – rechtlich geprägt sind die sodann in den Blick zu nehmenden Grenzen der Verwendung (C.). Der Versuch eines Fazits (D.) kann wiederum nicht über eine Momentaufnahme mit den beschränkten Potenzialen natürlicher Intelligenz hinausgehen.

B. Einsatzmöglichkeiten

Die Frage nach den Einsatzmöglichkeiten von KI bei Gerichten beantwortet KI wie folgt:

– ChatGPT: „Künstliche Intelligenz kann bei Gerichten auf verschiedene Weise eingesetzt werden. Zum Beispiel können Algorithmen verwendet werden, um große Mengen von Gerichtsakten und Rechtsprechung zu analysieren und Muster zu erkennen. Dadurch können Richter und Anwälte schneller und effektiver arbeiten und bessere Entscheidungen treffen. Auch bei der Vorhersage von Urteilen und der Identifizierung von potenziellen Rechtsverletzungen kann Künstliche Intelligenz helfen. Darüber hinaus können Chatbots und virtuelle Assistenten eingesetzt werden, um den Zugang zu juristischen Informationen und Dienstleistungen zu erleichtern.“13

– Bing (ausgewogen): „Künstliche Intelligenz (KI) kann in der Justiz auf verschiedene Weise eingesetzt werden. Ein Beispiel ist die automatisierte Analyse von Gerichtsurteilen und Rechtsprechungen, um Vorhersagen über den Ausgang von Gerichtsverfahren zu treffen.14 Ein weiteres Beispiel ist die automatisierte Überprüfung von Verträgen auf ihre Rechtmäßigkeit.15 KI kann auch bei der Überwachung von Bewährungsauflagen eingesetzt werden.1617 – Bing (kreativ): „KI ist eine Schlüsseltechnologie, die in verschiedenen Bereichen des Rechtssystems eingesetzt werden kann. Zum Beispiel kann KI helfen, große Mengen von Gerichtsentscheidungen zu analysieren, Muster zu erkennen, Vorhersagen zu treffen oder Empfehlungen zu geben. KI kann auch die Sprach- und Bilderkennung verbessern, die Verwaltung von Akten und Dokumenten erleichtern oder die Kommunikation mit den Bürgern unterstützen. …“18 Diese Darstellungen treffen – wie im Folgenden aufzuzeigen ist – zweifellos zu. Entsprechend den verschiedenen Aufgaben und Tätigkeiten von Gerichten bedarf es jedoch der Konkretisierung. Dabei liegt es nahe, zwischen den generellen Einsatzmöglichkeiten (I.) und denjenigen bei der Entscheidungsfindung zu unterscheiden (II.).

I. … im Allgemeinen

Obwohl Gerichte ihre Existenz der ihnen zugewiesenen Rechtsprechungsfunktion verdanken, ist ihre Realität durch zahlreiche Verwaltungsaufgaben geprägt. Im Hinblick auf die Organisation der diesbezüglich vielfach standardisierten Abläufe kann KI als Instrument der Arbeitserleichterung zur Anwendung kommen. Dies betrifft insbesondere „Organisationshilfen“19 wie – die Nutzung von Chatbots in Rechtsantragstellen zur Unterstützung von potenziellen Klägern,20

– die Registerführung,

– die Zuordnung von Eingängen,

– die Aktenaufbereitung,21

– die Optimierung von Workflows,22

– die Protokollierung (Spracherkennung)23 und Übersetzung24

sowie

– die Entscheidungsanonymisierung25 und -verschlagwortung26.

Dabei handelt es sich um zeit- und personalaufwendige Tätigkeiten, die keine besonderen kognitiven Fähigkeiten voraussetzen. Vielmehr steht der Umgang mit Daten im Fokus, die gerade die Grundlage für die Funktionsweise von KI bilden. Vergleichbares gilt für die (Vorbereitung von) Entscheidungen, bei denen nicht die juristische Expertise ausschlaggebend ist. Dies betrifft standardisierte Abläufe, etwa in der Zwangsvollstreckung27 oder im Verbraucherinsolvenzverfahren,28 oder die Prozesskostenhilfe.29 Auch dabei kann KI die jeweils gebotene nächste Maßnahme zumindest partiell aus einem vorhandenen Datenbestand ableiten und bietet sich daher als Vereinfachungsinstrument an.

Anspruchsvoller, aber technisch ebenfalls grundsätzlich möglich ist die Recherche von Vorschriften, Rechtsprechung und Literatur unter Nutzung von Datenbanken mit dem Ziel einer Gewichtung und gegebenenfalls Zusammenfassung von Ergebnissen.30 Die Beschleunigungswirkung von Datenbanken und der digitalen Verfügbarkeit von Norm- und Entscheidungstexten sowie wissenschaftlichen Beiträgen in der Rechtswissenschaft steht außer Frage. Allerdings sind die bestehenden juristischen Datenbanken jeweils unvollständig (insbesondere im Bereich der Literatur) und nicht vernetzt. Da die Qualität der Aussagen von KI unmittelbar von derjenigen der zugrunde liegenden Daten abhängt, folgt hieraus eine gewisse Schieflage: Während Rechtsstand und Rechtsprechung in den gängigen Datenbanken31 regelmäßig nachgewiesen sind32 und daher eine algorithmengesteuerte Suche mit Ergebnisgewichtung in Anlehnung an die Funktionsweise von Internetsuchmaschinen grundsätzlich möglich erscheint, gilt dies für rechtswissenschaftliche Literatur – zumal in Anbetracht ihrer zahlreichen Ausprägungen von der Entscheidungsanmerkung bis zur Monografie – noch nicht.33 Neben der Zugänglichkeit der Daten stellt sich insoweit überdies ein Gewichtungsproblem:34 Ist der bahnbrechende Gedanke einer Berufsanfängerin in einer Kurzanmerkung geringer zu gewichten als ein gedanklich überholten Entwicklungsständen des Rechts verhafteter, prominent erschienener Text einer juristischen Koryphäe oder wäre es sinnvollerweise nicht gerade andersherum? Woran aber entscheidet sich, ob der Gedanke neuartig-genial oder neuartig-unsinnig ist? Formale Kriterien, welche die Funktionsweise von KI bislang prägen (und auch menschliche Entscheidungsfindung nicht sel ten leiten), stoßen hier an ihre Grenzen. Dies ist bei der Nutzung von KI im Rahmen der juristischen Recherche zu berücksichtigen. Im Vergleich zur überkommenen Datenbanksuche kann eine sichere Erkennung der „Relevanz“ von Texten (nicht nur ihrer Überschriften) und der Aufzeigung von Argumentationslinien und ihren Konfliktlinien für die zu beantwortende juristische Fragestellung gleichwohl hilfreich sein.

II. … bei der Entscheidung

Prägend für die gerichtliche Tätigkeit ist freilich die Entscheidung eines Rechtsstreits. Jenseits der Erkenntnis des (Verständnisses des) anzuwendenden Rechts verfügt KI dabei über mehrere Anwendungspotenziale.

Als hoch werden diese in Bezug auf die Sachverhaltsermittlung eingeschätzt. Durch eine automatisierte Daten- und Schriftsatzanalyse kann der zugrunde liegende Lebenssachverhalt einschließlich relevanter Details wie Handlungen der Beteiligten sowie Dritter oder Daten automatisiert herausgearbeitet werden.35 Überdies kann – bedeutsam vor allem im Strafprozess – KI eine Analyse von großen Daten- und Dokumentenmengen36 und Videodaten (Bilderkennung einschließlich der Identifikation von Personen mittels biometrischer Merkmale)37 vornehmen, wobei Emotionen und Körpersprache der Aufgenommenen gezielt berücksichtigt werden können.38

Auch eine Analyse des schriftsätzlich vorliegenden Rechtsvortrags kann durch KI erfolgen. Dies ist insbesondere im Zivilprozess im Hinblick auf die Darlegungs- und Beweislasten von Bedeutung. Durch automatisierten Abgleich der Angaben der Parteien können eine Relation erstellt und Lücken und Widersprüche im jeweiligen Vortrag aufgedeckt werden, wodurch nicht zuletzt die Schlüssigkeitsprüfung erleichtert wird.39 Verwendungspotenziale für KI eröffnen sich auch im Bereich der Subsumtion.40 Zwar ist der Weg zum „Subsumtionsautomaten“ ohne Richter technisch noch weit (und juristisch unbeschreitbar41). Eine automatische Berücksichtigung der Darlegungs- und Beweislast erscheint jedoch ebenso wie eine AGB-Kontrolle durch KI möglich. Gleiches gilt für die Prüfung standardisierter Ansprüche, z. B. von Verbrauchern gegen ein Verkehrsunternehmen wegen Verspätungen (Durchsetzung von Zug- oder Fluggastrechten), oder beim Fehlen von Entscheidungsspielräumen, vgl. § 35a VwVfG.42

Eine der Stärken von KI aufgrund ihrer Datengetriebenheit ist ihre Fähigkeit, auf Grundlage der Verarbeitung vorhandener Informationen in großer Zahl Prognosen zu erstellen. Dies kann bereichsspezifisch auch von den Gerichten genutzt werden, sofern die zugrunde gelegten Daten keine verzerrenden Wirkungen entfalten, wie dies in den USA im Hinblick auf die Bestimmung der Rückfallwahrscheinlichkeit eines Straftäters in Abhängigkeit von seiner Hautfarbe geschah. Ungeachtet dessen kann KI neben der Bestimmung der Rückfallwahrscheinlichkeit helfen, die Wahrscheinlichkeit der Flucht eines Angeklagten zu bestimmen oder die notwendige Dauer einer Räumungsfrist festzulegen. Dabei sind typische Vergleichssituationen der Prognose zugrunde zu legen, etwa im Hinblick auf die familiäre Situation des Betroffenen und die damit in den jeweiligen Situationen regelmäßig einhergehenden Konsequenzen. Wie jede Prognose kann sich jedoch auch die von einer KI erstellte als falsch erweisen, wenn der Betroffene ein atypisches Verhalten zeigt. Dieses Risiko ist jedoch nicht höher als bei Vornahme der Prognose durch den Richter oder einen Sachverständigen. Ungeachtet der Bedeutung von Erfahrungswissen und (juristisch wenig belastbarem) „Bauchgefühl“ sind menschliche Entscheidungsträger einer KI im Hinblick auf die statistische Auswertung einer Vielzahl von Informationen im Zweifel unterlegen, was sich unmittelbar auf die Prognosequalität auswirkt.43 Schließlich werden Einsatzmöglichkeiten von KI bei der gerichtlichen Bestimmung von Rechtsfolgen gesehen. Auch hier bildet die Vielzahl von Vergleichsdaten die Entscheidungsgrundlage.

Denkbar ist die Nutzung von KI insoweit bei der Strafzumessung, sodass vergleichbare Straftaten gleichmäßig sanktioniert werden,44 sowie bei der Vornahme zahlreicher Berechnungen wie der Kostenfestsetzung in Standardverfahren, der Bestimmung von Unterhalts-/Zugewinn-/Versorgungsausgleich45 oder von Schmerzensgeld, jedenfalls soweit typische Fallgestaltungen infrage stehen.46 Insoweit kommt auch der Entwurf von Vergleichsvorschlägen in Betracht.47 Schwierigkeiten ergeben sich jedoch immer dann, wenn Spielräume bestehen und Wertungen vorzunehmen sind, bei denen sich der zu entscheidende Einzelfall von (scheinbaren) Parallelfällen unterscheidet.

C. Grenzen

Wie auch in anderen Bereichen stößt die Verwendung von KI im Kontext der Rechtsprechung an Grenzen. Diese sind tatsächlicher, rechtlicher, methodischer und schließlich ethischer  Natur.

I. Faktisch

In tatsächlicher Hinsicht stellen sich zunächst Herausforderungen im Hinblick auf die Qualität und die Fähigkeiten der verwendeten Software. Diese kann technisch ebenso anfällig oder fehlerhaft sein wie andere Computerprogramme. Problematischer sind aber Fähigkeits- und Funktionsdefizite. Da KI nicht in einem natürlichen Sinne „intelligent“ ist und Sachverhalte „versteht“, sondern Ergebnis eines Programmierungsvorgangs ist und mit statistischen Wahrscheinlichkeiten arbeitet, spiegeln die Anwendungsresultate insoweit bestehende Defizite wider. Das gilt grundsätzlich auch für „selbstlernende“ KI, hinsichtlich derer die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisgewinnung auch aus informationstechnischer Sicht teils unmöglich ist.

In jedem Fall wird KI mit Daten trainiert, sodass deren Qualität sich unmittelbar auf die Funktionsweise der KI ausübt. Unvollständige, falsche oder fehlende Datengrundlagen bewirken, dass KI nicht in der Lage ist, adäquate Ergebnisse zu liefern.48 So setzt ein Entscheidungsvorschlag, der die bisherige Rechtsprechung berücksichtigt, voraus, dass diese der KI als Datengrundlage zur Verfügung steht. Nur durch eine zweifelhafte Datengrundlage ist auch zu erklären, dass im Anschluss an das vorstehende Zitat aus Bing (kreativ)49 in den dort nicht abge druckten Ausführungen die nachfolgend in den Blick zu nehmende Europäische Ethik-Charta über den Einsatz von künstlicher Intelligenz in den Justizsystemen und ihrer Umgebung der EU (statt richtig dem Europarat) zugeschrieben wird.50 Als problematisch erweist sich insoweit zudem die Unterscheidung zwischen sich aus den Daten ergebenden Kausalitäten und Korrelationen. Damit verbunden sind Funktionsdefizite, welche die Nutzbarkeit von KI im Kontext der Justiz einschränken. Diese treten jenseits der Dynamik des Normbestandes51 insbesondere dann auf, wenn es der Vornahme von Bewertungen bedarf.52 So dürfte sich für einen menschlichen Betrachter die Differenzierung zwischen Kinderpornografie und familienüblichen Nacktaufnahmen von Kleinkindern regelmäßig erschließen. KI gelingt dies jedoch regelmäßig nicht.53 In Anbetracht der damit verbundenen Konsequenzen bis hin zur Strafbarkeit oder Straflosigkeit stellt diese Unfähigkeit die Verwendbarkeit von KI zur Sichtung entsprechenden Bildmaterials jedenfalls insoweit infrage, als sie zur Verwendung im Prozess bestimmte Ergebnisse erzeugen soll.

Eine Verwendung von KI durch Gerichte setzt voraus, dass derartige Defizite technisch so weit wie möglich vermieden werden. Nur dann kann sich KI als hilfreiches Instrument in der gerichtlichen Praxis bewähren. Die vom Richter nachgewiesene Befähigung zur Ausübung seines Amtes durch seine Qualifikation als Volljurist benötigt letztlich ein technisches Pendant in Bezug auf KI, welche der gerichtlichen Entscheidungsfindung zu dienen bestimmt ist.

[…]

D. Fazit

KI wird den Richter – jedenfalls unter den Rahmenbedingungen des Grundgesetzes – nicht ersetzen. Dies gilt auch bei der ebenso notwendigen wie erwartbaren technischen Perfektionierung der Systeme.

Gleichwohl kann KI perspektivisch auch im Bereich der Justiz als Hilfsmittel verwendet werden.80 Ihre potenzielle Unterstützungsfunktion kommt insbesondere bei der Entlastung von Routineaufgaben und der Beschleunigung von Arbeitsabläufen zum Tragen. Dies gilt sowohl für richterliche wie auch (und zunächst vor allem) nichtrichterliche Aufgaben von Gerichten. Dabei ist eine uneingeschränkt aufgabenorientierte Funktionsweise der KI technisch sicherzustellen.

Eine zentrale Herausforderung liegt darin, den Werkzeugcharakter von KI zu erkennen und diesem bei der Anwendung gebührend Rechnung zu tragen.81 Dies gilt insbesondere im Zusammenhang mit der richterlichen Entscheidungsfindung.

Gleichsam automatische und damit inhaltlich nicht hinterfragte Übernahmen von Falllösungsvorschlägen scheiden jedenfalls aus technischen, rechtlichen und methodischen Gründen aus;82 zur „Plausibilitätskontrolle […] oder als Denkanstoß“83 können sie jedoch wertvoll sein. Der Einsatz von KI als „Hilfsrichter“ erfordert insoweit zugleich die Entwicklung des Richters zum „Hilfsinformatiker“.84 Hierbei ist das richterliche Selbstverständnis des Einzelnen ebenso gefordert wie eine Rahmensetzung durch Rechtsetzung und juristische Ausbildung.

 

1 Zu Grundlagen und Ausprägungen im Überblick Biallaß, in: Ory, jurisPK Elektronischer Rechtsverkehr I, 2. Aufl. 2022, Kap. 8 Rn. 320 ff.; Wagner, Legal Tech und Legal Robots, 2. Aufl. 2020, S. 60 ff.; Wolff, Algorithmen als Richter, 2022, S. 66 ff.

2 Im Überblick Huber/Giesecke, in: Ebers/Heinze/Krügel/Steinrötter, Künstliche Intelligenz und Robotik, 2020, § 19 Rn. 1 ff.

3 Im Überblick Bernhardt, jM 2022, 90 ff.

4 https://www.justiz.bayern.de/media/images/behoerden-und-gerichte/oberlandesgerichte/nuernberg/einsatz_von_ki_und_algorithmischen_systemen_in_der_justiz.pdf.

5 https://www.schleswig-holstein.de/DE/landesregierung/ministerien-behoerden/II/Minister/Justizministerkonferenz/Downloads/190605_beschluesse/TOPI_11_Abschlussbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=1.

6 Siehe darüber hinaus Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Künstliche Intelligenz in der Justiz. Internationaler Überblick, 2021, S. 7 ff. (WD 7 – 3000 – 017/21).

7 https://www.justiz.gv.at/service/digitale-justiz.955.de.html.

8 COM/2021/206 final („Gesetz über Künstliche Intelligenz“).

9 Vgl. Jiang, in: Beck/Kusche/Valerius, Digitalisierung, Automatisierung, KI und Recht, 2020, S. 557, 578.

10 Biallaß (Fn. 1), Kap. 8 Rn. 393 ff.; umfassend einschließlich der technischen Grundlagen und der Verwendung auch in Deutschland Eisele/Böhm, in: Beck/Kusche/Valerius (Fn. 9), S. 519, 520 ff.; siehe auch fallbezogen Jiang (Fn. 8), S. 557, 560 ff.

11 Frese, NJW 2015, 2090, 2092; näher Biallaß (Fn. 1), Kap. 8 Rn. 61 ff.; Rühl/Reiß, BRJ Sonderausgabe 01/2021, 18, 18 ff.

12 https://www.derstandard.de/story/3000000176164/geldstrafe-fuer-us-anwaelte-weil-sie-vor-gericht-mit-chatgpt-schummelten.

13 https://chatgpt.ch (26.06.2023).

14 Einsatz von KI und algorithmischen Systemen in der Justiz. https://www.justiz.bayern.de/media/images/behoerden-und-gerichte/oberlandesgerichte/nuernberg/einsatz_von_ki_und_algorithmischen_systemen_in_der_justiz.pdf.

15 Der Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Justiz. https://www.deutscheranwaltspiegel.de/e-justice/kuenstliche-intelligenz/der-einsatz-von-kuenstlicher-intelligenz-in-der-justiz.

16 Künstliche Intelligenz im Gerichtssaal, National Geographic. https://www.nationalgeographic.de/wissenschaft/2022/05/kuenstliche-intelligenz-im-gerichtssaal-wie-weit-darf-legal-tech-gehen.

17 Bing.com (26.06.2023, Fußnoten im Original enthalten).

18 Bing.com (26.06.2023, nachfolgend sind Beispiele aufgeführt und verlinkt).

19 Rollberg, Algorithmen in der Justiz, 2020, S. 174; im Überblick zur Justizverwaltung Köbler, in: Chibanguza/Kuß/Steege, Künstliche Intelligenz, 2022, § 8 I.

20 Neubert, DRiZ 2021, 108, 109; siehe auch weitergehend Biallaß (Fn. 1), Kap. 8 Rn. 76 ff.

21 Paar, ÖJZ 2021, 213, 216 f.

22 Paar, ÖJZ 2021, 213, 217.

23 Frese, NJW 2015, 2090, 2091; Paar, ÖJZ 2021, 213, 218; Wagner (Fn. 1), S. 58 f.

24 Huber/Giesecke (Fn. 2), § 19 Rn. 26.

25 Paar, ÖJZ 2021, 213, 217; Wagner (Fn. 1), S. 25.

26 Vogelgesang/Krüger, jM 2019, 398, 403.

27 Neubert, DRiZ 2021, 108, 109.

28 Neubert, DRiZ 2021, 108, 110.

29 Huber/Giesecke (Fn. 2), § 19 Rn. 54 ff.

30 Frese, NJW 2015, 2090, 2091; vgl. für erste Werkzeuge Jiang (Fn. 9), S. 557; Wagner (Fn. 1), S. 46 f.

31 Kritisch zu diesen als Anknüpfungspunkt Dreyer/Schmees, CR 2019, 758, 760.

32 Kritisch zur Quantität im Hinblick auf zahlreiche nicht veröffentlichte Entscheidungen Rühl/Reiß, BRJ Sonderausgabe 01/2021, 18, 19.

33 Positiver Paar, ÖJZ 2021, 213, 218.

34 Siehe auch Enders, JA 2018, 721, 726.

35 Hähnchen/Schrader/Weiler/Wischmeyer, JuS 2020, 625, 627 f.; Wagner (Fn. 1), S. 43 ff.; zu weitergehenden Strukturierungen Biallaß (Fn. 1), Kap. 8 Rn. 116 ff.; zu Grenzen Nink, Justiz und Algorithmen, 2021, S. 177 ff.

36 Biallaß (Fn. 1), Kap. 8 Rn. 35 f.; Huber/Giesecke (Fn. 2), § 19 Rn. 45.

37 Biallaß (Fn. 1), Kap. 8 Rn. 38.

38 Neubert, DRiZ 2021, 108, 110.

39 Rollberg (Fn. 19), S. 199 ff.; vgl. auch Wagner (Fn. 1), S. 30; zu damit verbundenen Strukturierungserfordernissen hinsichtlich des Parteivortrags zusammenfassend Vogelgesang/Krüger, jM 2020, 90, 90 f.

40 Römermann, NJW 2020, 2678, 2681 f.

41 Dazu unten C.II.

42 Dreyer/Schmees, CR 2019, 758, 763.

43 Vgl. Neubert, DRiZ 2021, 108, 111.

44 Biallaß (Fn. 1), Kap. 8 Rn. 57; Neubert, DRiZ 2021, 108, 109.

45 Biallaß (Fn. 1), Kap. 8 Rn. 32.

46 Näher Rollberg (Fn. 19), S. 175 ff.

47 Rollberg (Fn. 19), S. 212 ff.

48 Zur Problematik im vorliegenden Kontext Biallaß (Fn. 1), Kap. 8 Rn. 364 ff.; Dreyer/Schmees, CR 2019, 758, 759 f.; zu systematischen Verzerrungen (Bias) Molavi/Erbguth, ITRB 2019, 160, 163 f.; kritisch zur Verfügbarkeit hinreichender Datengrundlagen aus der deutschen Justiz Neubert, DRiZ 2021, 108, 111; zum Umgang mit „Ausreißerentscheidungen“ und atypischen Konstellationen Huber/Giesecke (Fn. 2), § 19 Rn. 33 f.

49 Oben A.

50 Der maßgebliche Satz lautet: „Die Europäische Union hat daher eine ‚Europäische Ethik-Charta über den Einsatz von künstlicher Intelligenz in den Justizsystemen und ihrer Umgebung‘ verabschiedet, die einige Leitlinien und Prinzipien für den verantwortungsvollen Umgang mit KI in der Justiz festlegt.“ Dort verlinkt ist die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages „Künstliche Intelligenz in der Justiz Internationaler Überblick“ (https://www.bundestag.de/resource/blob/832204/6813d064fab52e9b6d54cbbf5319cea3/WD-7-017-21-pdf-data.pdf), in der allerdings eine richtige Zuordnung erfolgt (S. 4, Fn. 6).

51 Huber/Giesecke (Fn. 2), § 19 Rn. 35; Dreyer/Schmees, CR 2019, 758, 760; Rühl/Reiß, BRJ Sonderausgabe 01/2021, 18, 19.

52 Siehe auch Dreyer/Schmees, CR 2019, 758, 762; Enders, JA 2018, 721, 725 f.

53 Vgl. auch kritisch Dreyer/Schmees, CR 2019, 758, 763; positiv dagegen unter Bezugnahme auf Angaben von Microsoft (Erfolgsquote von 92 %) im Zusammenhang mit einem Pilotprojekt in Nordrhein-Westfalen Biallaß (Fn. 1), Kap. 8 Rn. 39.

[…]

80 Siehe auch grundsätzlich positiv unter Berücksichtigung des „Eigenwert[s] menschlicher Entscheidungen in der Rechtsprechung“ Wolff (Fn. 1), S. 151 ff.

81 Rollberg (Fn. 19), S. 135 f.

82 Enders, JA 2018, 721, 723.

83 Rollberg (Fn. 19), S. 124.

84 Vgl. auch Frese, NJW 2015, 2090, 2092.

 

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in Thüringer Verwaltungsblätter 2/2024, S. 29.

n/a