15.07.2012

Preisgünstig und trotzdem seriös

EuGH legt klare Vorgehensweise für die Aufklärung von Angeboten vor

Preisgünstig und trotzdem seriös

EuGH legt klare Vorgehensweise für die Aufklärung von Angeboten vor

Billig muss nicht unredlich sein – Letzteres kann aber schon von einzelnen Leistungspositionen abhängen. | © beermedia - Fotolia
Billig muss nicht unredlich sein – Letzteres kann aber schon von einzelnen Leistungspositionen abhängen. | © beermedia - Fotolia

Sei es für den Bau einer kompletten Straße oder nur der Straßenbeleuchtung: Wollen Kommunen einen Auftrag für eine Leistung vergeben, haben sie sich an strenge Vorgaben zu halten – und natürlich auf den Preis zu achten. Was aber, wenn ein Bauunternehmen oder ein Dienstleister einen außergewöhnlich niedrigen Preis anbietet? Kann der öffentliche Auftraggeber ein verdächtig günstiges Angebot ohne weiteres annehmen?

Der Europäische Gerichtshof hat diese Frage beantwortet, in dem er ein Vorgehen bei der Aufklärung von ungewöhnlich niedrigen Preisen und anderen unklaren Angebotsinhalten entwickelt hat (EuGH, Urt. v. 29.03.2012, Rs. C-599/10).

Der Fall

Ein in der Slowakischen Republik ansässiger öffentlicher Auftraggeber führte ein nichtoffenes Verfahren zur Vergabe eines Dienstleistungsauftrags im Zusammenhang mit der Erhebung von Autobahnmaut durch. Der öffentliche Auftraggeber forderte zwei Bieter auf, ihre Angebote hinsichtlich der ungewöhnlich niedrigen Preise sowie bestimmter technischer Aspekte zu erläutern. Trotz Beantwortung der Fragen wurden beide Bieter vom Verfahren ausgeschlossen. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren legte der Oberste Gerichtshof der Slowakei letztlich dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens Auslegungsfragen im Hinblick auf die Vergabekoordinierungsrichtlinie 2004/18/EG („VKR“) vor.


Diese wurden vom EuGH dahin ausgelegt, dass sie darauf abzielen, inwieweit ein öffentlicher Auftraggeber im Hinblick auf die Bestimmungen der Art. 2 und 55 VKR von Bietern Aufklärung verlangen kann oder muss, wenn er im Rahmen eines nichtoffenen Ausschreibungsverfahrens zu der Auffassung gelangt, dass das Angebot (1) ungewöhnlich niedrig oder (2) ungenau ist oder den in den Vergabeunterlagen enthaltenen technischen Spezifikationen nicht entspricht.

Entscheidung des EuGH

Der erste Teil des Urteils befasst sich mit dem Vorliegen eines ungewöhnlich niedrigen Preisangebots. Nach Art. 55 VKR muss der öffentliche Auftraggeber vor Ablehnung eines ungewöhnlich niedrigen Angebots „schriftlich Aufklärung über die Einzelposten des Angebots verlangen, wo er dies für angezeigt hält“.

Der EuGH entschied nun, daraus gehe eindeutig hervor, dass ein öffentlicher Auftraggeber verpflichtet ist, die Einzelposten der ungewöhnlich niedrigen Angebote zu überprüfen und in diesem Zusammenhang Vorlage von Belegen für die Seriosität des Angebots zu fordern. Dazu bedürfe es zu einem zweckmäßigen Zeitpunkt einer kontradiktorischen Erörterung zwischen Auftraggeber und Bieter, damit Letzterer den geforderten Beleg erbringen könne. Hierdurch solle Willkür des öffentlichen Auftraggebers verhindert und ein gesunder Wettbewerb gewährleistet werden.

Ungenauigkeiten dürfen erläutert werden

Zum zweiten Teil der Vorlagefrage stellt der EuGH fest, dass die VKR – anders als bei ungewöhnlich niedrigen Angeboten – keine Bestimmung enthält, die ausdrücklich das Verfahren regelt, wenn das Angebot eines Bewerbers ungenau ist oder nicht den in den Vergabeunterlagen enthaltenen technischen Spezifikationen entspricht. Aus den Grundsätzen der Gleichbehandlung und Transparenz gemäß Art. 2 VKR folge zunächst, dass Angebote in einem nichtoffenen Verfahren grundsätzlich nicht mehr geändert werden können. Eine Aufklärung sei vor dem Hintergrund dieser Prinzipien zudem nicht geboten. Ein öffentlicher Auftraggeber sei daher nicht verpflichtet, in einem nichtoffenen Ausschreibungsverfahren von den Bietern zu verlangen, die Angebote vor deren Ausschluss im Hinblick auf Unklarheiten zu erläutern.

Allerdings verbiete Art. 2 VKR auch nicht, dass Angebote ausnahmsweise in einzelnen Punkten – zum Zwecke einer offensichtlich gebotenen bloßen Klarstellung oder zur Behebung offensichtlicher sachlicher Fehler – berichtigt oder ergänzt werden, vorausgesetzt dies führt nicht dazu, dass in Wirklichkeit ein neues Angebot eingereicht wird.

Der öffentliche Auftraggeber kann nach seinem Ermessen daher auch eine Erläuterung des Angebots fordern, ohne eine Änderung des Angebots zu verlangen oder zu akzeptieren, nachdem er von allen Angeboten Kenntnis genommen hat. Die Bieter sind dabei selbstverständlich gleich und fair zu behandeln, so dass nicht der Eindruck entstehen kann, dass die Erläuterung dazu diente, Bieter ungerechtfertigt zu begünstigen oder zu benachteiligen. Die Aufforderung hat grundsätzlich an alle Bieter, die sich in der gleichen Situation befinden, zu ergehen, wobei alle unklaren Punkte angesprochen werden müssen.

Relevanz des Urteils für die Vergabepraxis

In der vergaberechtlichen Rechtsprechung deutscher Gerichte wird die Auffassung vertreten, dass die sog. Aufgreifschwelle, d.h. der Abstand des vom Ausschluss betroffenen oder bedrohten Angebots zum nächsthöheren Angebot, deren Erreichen zur Überprüfung des Angebotspreises führen muss, zwischen 10 % (bei Bauaufträgen) und 20 % (bei Dienstleistungs- und Lieferaufträgen) liegt. Die Gerichte stellen für die Prüfung der Angemessenheit des Angebotes dabei grundsätzlich auf den Gesamtpreis und nicht auf einzelne Positionen des Leistungsverzeichnisses ab. Es bleibt abzuwarten, ob sich an dieser Praxis nach dem Spruch des EuGH etwas ändert. Denn stellt man auf die vom EuGH geforderte Seriosität des Angebots ab, so gelingt deren Nachweis möglicherweise schon nicht mehr, wenn ein ungewöhnlich niedriger Einzelposten vorliegt.

Zudem ist seit jeher umstritten, ob Konkurrenten ein Anspruch auf Ausschluss eines Unterkostenangebots zusteht. Deutsche Gerichte lehnten diesen sog. drittschützenden Charakter der Vorschriften zu Unterkostenangeboten (z.B. § 19 Abs. 6 EG VOL/A oder § 16 Abs. 6 VOL/A) zuletzt in der Regel ab. Das vorliegende Urteil mag Anlass zur Abkehr von dieser Rechtsprechung geben, da der EuGH seine Entscheidung ausdrücklich aus den Prinzipien der Gleichbehandlung und der Transparenz ableitet.

Aufklärungsregeln im Falle unklarer Angebotsinhalte

Der zweite Teil des Urteils aus Luxemburg schafft Klarheit im Umgang mit sonstigen unklaren Angebotsinhalten. Zunächst stellt der EuGH klar, dass keine Pflicht zur Angebotsaufklärung besteht. Entscheidet sich ein öffentlicher Auftraggeber aber zur Angebotsaufklärung, so hat dies unter Beachtung der Gebote der Gleichbehandlung und Transparenz zu erfolgen. Insbesondere darf die Aufklärung nicht dazu führen, dass einzelne Bieter begünstigt oder benachteiligt werden. Angebotsänderungen sind selbst in offenen und nichtoffenen Verfahren insoweit zulässig, als sie nur der Klarstellung oder zur Berichtigung offensichtlich sachlicher Fehler führen. Das Procedere bei der Aufklärung kann wie folgt zusammengefasst werden:

(1) Nach Kenntnisnahme aller Angebote (2) kann der Auftraggeber aufklären, wobei (3) alle Bieter in derselben Situation angesprochen werden müssen (es sei denn, ein objektiv nachprüfbarer Grund rechtfertigt eine unterschiedliche Behandlung) und (4) sich die Aufklärung auf alle unklaren Punkte zu erstrecken hat. Der öffentliche Auftraggeber darf ein Angebot nicht wegen „Unklarheiten“ zurückweisen, die er nicht zuvor – innerhalb der Aufforderung – schon angesprochen hat.

Um sich abzusichern, sollte der öffentliche Auftraggeber alle diese Schritte bestmöglich dokumentieren. Nur so können Verfahrensrisiken vermieden oder später auf eventuelle Rügen angemessen reagiert werden.

 

Thomas Michaelis

Rechtsanwalt Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Düsseldorf
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