15.10.2024

Organstreitverfahren um Parteienrechte

Bundestag darf Ablehnung von Ausschussvorsitzen fortsetzen

Organstreitverfahren um Parteienrechte

Bundestag darf Ablehnung von Ausschussvorsitzen fortsetzen

In Deutschland wird man sich auf ein langes Austesten der Resilienz rechtsstaatlicher Prinzipien einstellen müssen. © Mirko - stock.adobe.com
In Deutschland wird man sich auf ein langes Austesten der Resilienz rechtsstaatlicher Prinzipien einstellen müssen. © Mirko - stock.adobe.com

Traditionell verlief die Verteilung bundestagsinterner Funktionen, von der Vergabe der Vizepräsidentenposten des Bundestages bis zur Übernahme von Vorsitzen in den diversen Ausschüssen, über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg geräuschlos.

Jeder schien sich unausgesprochen an das Prozedere halten zu wollen, das auf einem stillschweigend geübten Konsens beruhte. Jedenfalls galt das, bis die AfD in den Bundestag einzog. Eine ganze Legislaturperiode lang versuchte die AfD einen ihrer Kandidaten als Vizepräsident des Bundestages zu platzieren. Sie scheiterte mit den Vorhaben in jeder Abstimmung. Der AfD-Abgeordnete Brandner wurde vom Vorsitz des Justizausschusses abgewählt. Die AfD-Fraktion strengte dagegen ein Organstreitverfahren beim BVerfG an und suchte die Abwahl im Zuge einer einsteiligen Anordnung zu kippen (2 BvE 1/20 und 2BvE 10/21). Verletzt seien das Recht auf Gleichbehandlung der AfD-Fraktion sowie das Recht auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, Art. 38 I GG. Verletzt sei auch das Rechtsstaatsprinzip mit dem daraus folgenden Recht auf effektive Opposition, Art. 20 II, III GG durch die mehrheitliche Abwahl des Abgeordneten Brandner als Ausschussvorsitzendem des Justizausschusses. Am 4.Mai 2020 lehnte das BVerfG den Erlass einer einstweiligen Anordnung ab, weil deren Dringlichkeitsvoraussetzungen nicht gegeben waren, und verwies auf die Klärung der Rechtsfragen im Hauptsacheverfahren.

Die AfD und die Ausschussvorsitze

Mittlerweile hat sich die Situation dahingehend konkretisiert, dass auch sämtliche AfD-Kandidaten für Ausschussvorsitze, die der Partei nach der Geschäftsordnung zustehen würden, bei entsprechenden Wahlen durchfielen.


Tatsächlich widerspricht es der parlamentarischen Tradition und dem Stellenschlüssel des    § 12 Geschäftsordnung des Bundestages, GO-BT, die Personalvorschläge der AfD-Fraktion dauerhaft abzulehnen. Proportional nach Fraktionsstärke stünden demnach jeder Fraktion Ausschussvorsitze und mindestens eine Vizepräsidentenstelle zu, §§ 2 I Satz 2 und 12 GO-BT. Andererseits bezieht sich die GO-BT auf ‚die Wahl‘ der entsprechenden Personen und das ‚Bestimmungsrecht‘ der Ausschüsse in Bezug auf ihre Vorsitzenden.

In früheren Zeiten wurde dieses der Geschäftsordnung immanente Spannungsverhältnis dadurch aufgelöst, dass unter Wahrung des Proporzes die von den Fraktionen vorgeschlagenen Kandidaten klaglos akzeptiert wurden.

Problematisch ist, ob die Nichtakzeptanz von AfD-Kandidaten mit Hilfe von Wahlvorgängen, deren Recht auf vollständige Teilnahme an der parlamentarischen Willensbildung in verfassungswidriger Weise tangiert ist. Zwar werden Rede- und Stimmrechte, Frage- und Informationsrechte und parlamentarische Initiativrechte nicht beschnitten aber de facto wird durch das Fernhalten der AfD an entscheidenden Stellen der Parlamentsorganisation durch eine orchestrierte Verweigerungshaltung aller übrigen Fraktionen bei Abstimmungen die berechtigte Frage aufgeworfen, ob die GO-BT zur Verwirklichung einer Boykotthaltung fair und loyal angewandt wird oder ob demokratische Regeln in ihrer Ausübung eine realistische Chance zu einer effektiven Opposition bieten müssen.

Das Problem ist also das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten in den Gremien. Andererseits können Abgeordnete nicht gezwungen werden, einen vorgeschlagenen Kandidaten auch zu wählen. Hier wäre die Freiheit ihres Mandats, Art. 38 I GG, betroffen, wenn jeder Personalvorschlag der AfD zwingend akzeptiert werden müsste.

Es scheint ein unlösbarer Wertungswiderspruch vorzuliegen, den eigentlich der Bundestag in Ausübung seiner Geschäftsordnungsautonomie gemäß Art. 40 I Satz 2 GG zu lösen hätte. Allerdings scheinen die gegensätzlichen Positionen verhärtet zu sein, so dass auf ein klärendes Signal des BVerfG in Form eines Hinweises gewartet wurde, um die Pattsituation zu überwinden. Würde das BVerfG im Hauptsacheverfahren zu dem Ergebnis kommen, dass das Recht auf parlamentarische Teilhabe auch solche Gremien und Stellen erfasst, die dazu dienen, die Arbeit des Parlaments zu organisieren?

Das BVerfG trifft eine Grundsatzentscheidung

Am 18. September 2024 urteilte der Zweite Senat des BVerfG, dass die Organklagen der AfD-Fraktion keinen Erfolg haben.

Die Antragstellerin habe zwar das Recht auf Gleichbehandlung und Teilhabe bei der Besetzung von Ausschussvorsitzen aber die Wahlvorgänge zur Besetzung dieser geschäftsleitenden Funktionen bewegten sich im Rahmen der dem Bundestag zustehenden Geschäftsordnungsautonomie, Art. 40 I Satz 2 GG. Bei der Besetzung organisatorischer und repräsentativer Funktionen gehe es gerade nicht um grundlegende Statusrechte von Abgeordneten und Fraktionen, sondern um nachgelagerte, durch die jeweilige Geschäftsordnung eingeräumte Rechtspositionen. Der verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab für ein unzulässiges Eingreifen in solche Rechtspositionen sei das Willkürverbot.

§ 58 GO-BT legt fest, dass die Ausschüsse ihre Vorsitzenden und die jeweiligen Stellvertreter ‚bestimmen‘. Es entsprach der Üblichkeit, in konsensualen Prozessen die Zugriffsreihenfolge auf derartige Positionen festzulegen. Stieß ein personeller Besetzungsvorschlag einer Partei auf Zustimmung, war der Vorschlag durch Akklamation bestätigt. Bei Widerspruch wurde auch in der Vergangenheit gegebenenfalls eine Wahl durchgeführt.

Das BVerfG betont, dass Art. 38 I Satz 2 GG Mandatsträgern die gleichberechtigte Mitwirkung an der Willensbildung und Entscheidungsfindung des Bundestages zusichert. So müssen Ausschüsse ein verkleinertes, spiegelbildliches Abbild des Plenums sein, um in ihrer Besetzung eine gleichberechtigte Mitwirkung zu garantieren. Der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit gelte hingegen nicht für Gremien und Funktionen, die lediglich organisatorischer Natur sind.

Allerdings sei auch bei den Organisationsentscheidungen des Bundestages, ausgewiesen durch die jeweils geltende Geschäftsordnung, der Gleichheitsgrundsatz zu beachten. Der Zugang zu Leitungsämtern sei ein Teilhabeanspruch. Ob dieser im Rahmen einer fairen und loyalen Auslegung und Anwendung der GO-BT gewährleistet worden sei, sei an dem Grundsatz zu messen, ob der formale Status der Gleichheit der Abgeordneten in Form der Teilhabe an Rechtspositionen, die erst die GO-BT einräumt, evident sachwidrig und damit willkürlich verletzt worden sei.

Die Besetzung organisatorischer und repräsentativer Ämter an Wahlen zu knüpfen halte sich an die Befugnisse, die die Geschäftsordnungsautonomie des Deutschen Bundestages verleiht und verstoße nicht gegen das Willkürverbot. Eine Pflicht zur Wahl bestimmter Kandidaten gebe es nicht, auch wenn mehrere Kandidaten einer Partei nicht gewählt werden.

Auch die Abwahl eines Ausschussvorsitzenden durch die Mehrheit der Ausschussmitglieder ist als ‚actus contrarius‘ zur Wahl möglich, sofern die Abwahl das Willkürverbot beachtet. Die Abwahl des Abgeordneten Brandner als Vorsitzendem des Rechtsausschusses sei nicht willkürlich erfolgt, da dieser öffentlichkeitswirksam mit umstrittenen Bemerkungen erhebliche Zweifel an seiner Geeignetheit zur Leitung des Rechtsausschusses hat aufkommen lassen. Das Recht auf eine effektive Opposition sei durch die Abwahl nicht berührt.

Ausblick

Es ist zu erwarten, dass auch nach der einstimmigen Entscheidung des BVerfG keine Ruhe eintritt, was die verfassungsrechtlichen Positionen von Parteien und Abgeordneten anbetrifft.

Das zeigt sich deutlich an dem Beschluss des thüringischen Verfassungsgerichtshofs vom 27. September 2024 (VerfGH 36/24) in einem einstweiligen Anordnungsverfahren, betreffend die Konstituierung des neu gewählten Thüringer Landtags.

In der konstituierenden Sitzung des Landtags, geleitet durch den Alterspräsidenten und AfD-Abgeordneten Treutler, weigerte sich dieser, die Beschlussfähigkeit des Parlaments festzustellen und die vorläufige Tagesordnung zur Abstimmung zu stellen. Mit seiner Weigerung wollte der Sitzungsleiter erreichen, dass die Geschäftsordnung nicht dahingehend geändert werden konnte, dass bereits beim ersten Wahlgang zur Wahl des Landtagspräsidenten alle Fraktionen Kandidaten zur Abstimmung stellen können. Treutler vertrat die Ansicht, zunächst müsse die Wahl des Landtagspräsidenten erfolgen und die AfD als stärkste Fraktion habe das alleinig Vorschlagsrecht für einen Kandidaten. Nur dieses Vorgehen entspräche den bisherigen Gepflogenheiten und dem verfassungsrechtlichen Gewohnheitsrecht. Die Anträge an den Verfassungsgerichtshof, ihn zu verpflichten, die Beschlussfähigkeit des Parlaments festzustellen und eine Abstimmung über die Geschäftsordnung zuzulassen, sei rechtsmißbräuchlich, da genau diese Punkte nach der Abstimmung über die AfD-Kandidatin für die Position der Landtagspräsidentin erfolgen würden.

Der Verfassungsgerichtshof widersprach dieser Ansicht vollumfänglich, da ein rein protokollarisch agierender und mit keinerlei demokratisch legitimierten Machtbefugnissen ausgestatteter Alterspräsident hier in verfassungswidriger Weise in die grundlegenden Rechte von Parlament, Abgeordneten und Fraktionen und deren Geschäftsordnungsautonomie eingegriffen habe. Treutler entsprach den genauen Vorgaben des Gerichts zur Sitzungsleitung schließlich am 28. September 2024.

Die AfD beklagte auch in diesem Fall eine politische Justiz, die Diskriminierung einer unliebsamen Partei und die Notwendigkeit des Umbaus staatlicher Institutionen hin zu einer echten ‚Volksdemokratie‘. Mit ähnlichen Tönen hatte die Erosion des Rechtsstaates in Polen und Ungarn angefangen.

In Deutschland wird man sich auf ein langes Austesten der Resilienz rechtsstaatlicher Prinzipien einstellen müssen.

 

Professor Achim Albrecht

Westfälische Hochschule, Gelsenkirchen
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