08.04.2024

Nachverdichtung schlägt Nachbarrechte

Änderung der Landesbauordnung Baden-Württemberg

Nachverdichtung schlägt Nachbarrechte

Änderung der Landesbauordnung Baden-Württemberg

Ein Beitrag aus »Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV

Der Beitrag befasst sich mit dem Anfang 2023 eingeführten § 5 Abs. 5 Satz 2 LBO, der eine „nachträgliche“ Gebäudeerhöhung um zwei Geschosse ohne zusätzlichen Abstand ermöglicht. Aufgrund seiner Unbestimmtheit und des verursachten Eingriffs in Nachbarrechte markiert er einen radikalen und missglückten Einschnitt in das Abstandsflächenrecht. Bis zur erforderlichen Überarbeitung sollte seine Anwendung nur vorsichtig erfolgen.

I. Einführung

Am 01.02.2023 verabschiedete der Landtag von Baden-Württemberg als Art. 3 des „Gesetzes zum Erlass eines Klimaschutz- und Klimawandelanpassungsgesetzes und der Verankerung des Klimabelangs in weiteren Rechtsvorschriften“1GBl. 2023, S. 26 ff. eine Änderung der baden-württembergischen Landesbauordnung (LBO) in §§ 3, 5, 29, 51, 74 LBO und des Anhangs zu den verfahrensfreien Vorhaben. Sie trat am 11.02.2023 in Kraft. Hervor sticht die „abstandsflächenrechtliche Freistellung“ für Bestandsbauten um bis zu zwei Geschosse in § 5 Abs. 5 Satz 2 LBO. Für die baurechtliche Praxis hat diese Ergänzung große Bedeutung und führt zu erheblichen Anwendungsproblemen. Sie stellt einen radikalen Einschnitt im Abstandsflächenrecht dar. Angefügt wurde an § 5 Abs. 5 LBO folgender Satz 2:

„Eine Aufstockung um bis zu zwei Geschosse wird auf die Wandhöhe nicht angerechnet, wenn die Baugenehmigung oder die Kenntnisgabe für die Errichtung des Gebäudes mindestens fünf Jahre zurückliegt.“


Flankiert wird dies durch § 29 Abs. 2 Satz 3 LBO n. F., der eine Abweichung von der Pflicht zum Einbau von Aufzugsanlagen bei Überschreitung der Gebäudehöhe von 13 m durch Aufstockung vorsieht. Parallel regelt § 35 Abs. 1 Satz 4 LBO n. F. eine Ausnahme von den Anforderungen der Barrierefreiheit. Insgesamt soll das Nachverdichten im Bestand durch Gebäudeerhöhungen erleichtert werden. Begründet wird die Gesetzesänderung mit den Zielen der Flächeneinsparung, des Klimaschutzes und der Schaffung zusätzlichen Wohnraums:2Landtags-Drucksache (LT-Drs.) 17/3741 vom 13.12.2022, https://www. landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP17/Drucksachen/ 3000/17_3741_D.pdf, S. 93 f.

„Die damit verbundene begrenzte Einschränkung des Nachbarschutzes ist angesichts des hohen öffentlichen Interesses an den Zielen der Flächeneinsparung und damit des Klimaschutzes, aber auch der Schaffung zusätzlichen Wohnraums, wozu Aufstockungen wirksam beitragen können, verhältnismäßig.“

Die Privilegierung der Gebäudeerhöhung ist nicht auf Wohnnutzung beschränkt.3Die DeSH (Deutsche Säge- und Holzindustrie) hatte im Gesetzgebungsverfahren eine Beschränkung der Privilegierung auf „Aufstockungen mit klimafreundlichen Baustoffen“ gefordert, LT-Drs. 17/3741, S. 324. Allerdings bleiben planungsrechtliche Vorschriften unberührt, z. B. die festgesetzte Zahl der Vollgeschosse oder Gebäudehöhen bzw. die Anforderung des Einfügens im unbeplanten Innenbereich. Eine Gebäudeerhöhung scheidet also zumindest dann aus, wenn bauplanungsrechtliche Vorgaben nicht eingehalten werden. Die Neuregelung verursacht einerseits aufgrund ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit (II.), andererseits aufgrund ihres Widerspruchs zu nachbarlichen Eigentumsrechten (III.) einen schroffen Gegensatz zu den bisherigen abstandsflächenrechtlichen Regelungen (IV.). Dies spiegelt sich in einer ersten gerichtlichen Entscheidung wider (V.). § 5 Abs. 5 Satz 2 LBO ist damit missglückt (VI.):

II. Verfassungswidrige Unbestimmtheit der Norm

§ 5 Abs. 5 Satz 2 LBO verstößt gegen das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot:

1. Anforderungen des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebots

Das in Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 25 Abs. 2 LV verankerte Rechtsstaatsprinzip umfasst das Gebot hinreichender Bestimmtheit aller Rechtsnormen. Diese sind so zu fassen, dass die Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten daran ausrichten können. Normen müssen aus sich heraus eindeutig und verständlich sein. Dies gilt erst recht im Schutzbereich von Grundrechten.4BVerfG, Beschl. v. 09.04.2003 – BVerfGE 108, 52, 75 m. w. N. Das bloße Erfordernis einer Auslegung der Norm ist eine übliche Aufgabe für alle das Recht anwendenden Organe und führt noch nicht zur Unbestimmtheit.5BVerfG, Beschl. v. 31.05.1988 – BVerfGE 78, 214, 226; BVerfG, Beschl. v. 09.05.1989 – BVerfGE 80, 103, 108 m. w. N.

2. Nichtanrechnung der Erhöhung um zwei Geschosse auf die Wandhöhe mangels Höhenbegrenzung unbestimmt

Nach diesen Maßstäben ist § 5 Abs. 5 Satz 2 LBO n. F. aufgrund der fehlenden Regelung zur Begrenzung der zulässigen Erhöhung um bis zu zwei Geschosse unbestimmt und auch nicht durch Auslegung bestimmbar. Denn es gibt keine Begrenzung der maximalen Geschosshöhen in der LBO: § 2 Abs. 5 LBO definiert zwar den Begriff der „Geschosse“. Danach sind Geschosse oberirdische Geschosse, wenn ihre Deckenoberkante im Mittel mehr als 1,4 m über die Geländeoberfläche hinausragen. Eine Begrenzung der Geschosshöhe selbst gibt es nicht, auch nicht beim Begriff des „Vollgeschosses“ in § 2 Abs. 6 LBO. Insbesondere bei Gebäuden, die anderen als Wohnzwecken dienen (auf die § 5 Abs. 5 Satz 2 LBO nicht beschränkt ist), aber auch bei Wohngebäuden kommt es vor, dass Geschosse deutlich höher als 2,5 m ausfallen. § 5 Abs. 5 Satz 2 LBO führt zu dem Ergebnis, dass eine (unbegrenzte) Gebäudeerhöhung, solange sie formal die Anforderungen an zwei zusätzliche Geschosse einhält, ohne abstandsflächenrechtliche Konsequenzen von der Baurechtsbehörde zugelassen werden muss. Es gibt z. B. kein ausdrückliches (bauordnungsrechtliches) Verbot, etwa zwei je 4 m hohe Geschosse auf ein Bestandgebäude aufzusetzen und dieses so um 8 m zu erhöhen. Hier setzen allenfalls das Rücksichtnahmegebot und das allgemeine Verunstaltungsverbot gewisse Grenzen, deren Beurteilung von der Würdigung des Einzelfalls abhängt.

Die Gesetzesbegründung in der LT-Drucksache 17/3741 spricht zwar von „einer maximalen Ausnutzung der Erleichterung durch eine Aufstockung mit zwei Geschossen mit einer Höhe von ca. 2,5 m je Geschoss“. Das ist aber nur eine – praxisfremde – Erwartung des Gesetzgebers über die „typische“ Geschosshöhe. Denn tatsächlich gibt es viele Fälle höherer Geschosse.

Die für die Bestimmtheit der Norm erforderliche Höhenbegrenzung hatte der Städtetag bei der Anhörung zu dieser Gesetzesänderung zu Recht angeregt.6Vgl. Stellungnahme des Städtetags BW, LT-Drs. 17/3741, S. 152. Sie ist leider nicht Regelungsinhalt geworden. Damit stehen die Baurechtsbehörden vor einem schwierigen Vollzugsproblem: Es dürfte ihnen rechtssicher kaum möglich sein, allein mit dem Rücksichtnahme- oder Verunstaltungsverbot die oben als Beispiel genannte Erhöhung eines vorhandenen Gebäudes um zwei Geschosse mit je 4 m Höhe, insgesamt also um 8 m, zu verhindern. Ausweislich der Gesetzesbegründung war dies vom Gesetzgeber zwar nicht gewollt. Dies ist aber Folge des neuen § 5 Abs. 5 Satz 2 LBO. Die Vorschrift ist deswegen nicht ausreichend bestimmt und rechtswidrig.

3. „Schamfrist“ von fünf Jahren nach Verfahrensabschluss ist unbestimmt

Erheblichen Bedenken mit Blick auf die Bestimmtheit begegnet § 5 Abs. 5 Satz 2 LBO zudem mit der Formulierung, „wenn die Baugenehmigung oder die Kenntnisgabe für die Errichtung des Gebäudes mindestens fünf Jahre zurückliegt“. Zwar stellt dies klar, dass das zu erhöhende Bauwerk nicht etwa fünf Jahre vor Ort stehen muss, bis die Erhöhung in Betracht kommt. Auch ist im Wege der Auslegung zu entnehmen, dass die Antragstellung für die Erhöhung schon vor Ablauf der Frist in Betracht kommt, da nach allgemeinen Grundsätzen erst der Zeitpunkt der Behördenentscheidung maßgeblich ist.

Im Falle der Baugenehmigung ist jedoch nicht geregelt, ob vor Beginn der Frist die Bestandskraft oder zumindest Vollzugsfähigkeit der Baugenehmigung gegeben sein muss. Wäre dies der Fall, könnten besorgte Nachbarn diesen Zeitpunkt durch Widerspruch und Anfechtungsklage bzw. durch erfolgreichen Eilrechtsschutz mit Außervollzugsetzung hinauszögern. Zudem kann ein Bauantragsteller nach dem Wortlaut des § 5 Abs. 5 Satz 2 LBO die Genehmigung für ein von vornherein unter Verletzung von Abstandsflächenvorschriften zu hoch geplantes Gebäude dadurch erreichen, dass er zunächst das Vorhaben mit niedrigerer Höhe beantragt, genehmigt erhält und die Genehmigung vor Ablauf der dreijährigen Geltungsdauer gemäß § 62 Abs. 1 LBO mehrfach verlängert. Zum Ablauf der Fünfjahresfrist beantragt der Bauantragsteller dann die Erhöhung gemäß § 5 Abs. 5 Satz 2 LBO, sodass nach fünf Jahren die ursprüngliche Baugenehmigung und die Erhöhungsgenehmigung gemeinsam vorliegen. Auf deren Grundlage kann dann das für den ordnungsgemäßen Abstand zu hohe Gebäude doch einheitlich errichtet werden. Bei sofortiger und einheitlicher Antragstellung wäre dies unzulässig gewesen. Damit hat der Gesetzgeber selbst eine Umgehungsmöglichkeit eröffnet, weil er nicht geregelt hat, dass erst einmal ein rechtmäßiges Gebäude als „Bestandsgebäude“ errichtet sein muss. Eine Umgehung wollte der Gesetzgeber eigentlich vermeiden, da er in der Gesetzesbegründung zu der Fünfjahresfrist ausgeführt hat:

„Um einer missbräuchlichen Umgehung der Abstandsvorschriften, indem ein Neubau stufenweise errichtet wird – also zunächst ein kleineres Gebäude unter Einhaltung der Mindestabstände errichtet wird, das in einem von vornherein geplanten zweiten Schritt aufgestockt wird –, entgegenzuwirken, soll die Erleichterung – wie zum Beispiel in § 37 Abs. 3 LBO – nur greifen, soweit die Baugenehmigung oder die Kenntnisgabe für das Gebäude mindestens fünf Jahre zurückliegt. Dies führt zu einer Einschränkung des Anwendungsbereichs der Neuregelung, ist jedoch zur Schließung von Umgehungsmöglichkeiten erforderlich.“7LT-Drs. 17/3741, S. 93 f.

Das Ausschließen von Umgehungsmöglichkeiten ist gescheitert. Die Stellungnahme des Städtetages im Gesetzgebungsverfahren, die Besserstellung „[lasse] sich nur in bestimmten Konstellationen erklären“8Stellungnahme des Städtetags BW, LT-Drs. 17/3741, S. 152., erhält dadurch zusätzliche Brisanz.

[…]

Den vollständigen Beitrag entnehmen Sie den Verwaltungsblättern für Baden-Württemberg Heft 1/2024, S. 8 ff.

 

Prof. Dr. Alexander Kukk

Professor für Planung und Recht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen, Rechtsanwalt
 

Günther Riehle

Dipl.-Verwaltungswirt
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  • 1
    GBl. 2023, S. 26 ff.
  • 2
    Landtags-Drucksache (LT-Drs.) 17/3741 vom 13.12.2022, https://www. landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP17/Drucksachen/ 3000/17_3741_D.pdf, S. 93 f.
  • 3
    Die DeSH (Deutsche Säge- und Holzindustrie) hatte im Gesetzgebungsverfahren eine Beschränkung der Privilegierung auf „Aufstockungen mit klimafreundlichen Baustoffen“ gefordert, LT-Drs. 17/3741, S. 324.
  • 4
    BVerfG, Beschl. v. 09.04.2003 – BVerfGE 108, 52, 75 m. w. N.
  • 5
    BVerfG, Beschl. v. 31.05.1988 – BVerfGE 78, 214, 226; BVerfG, Beschl. v. 09.05.1989 – BVerfGE 80, 103, 108 m. w. N.
  • 6
    Vgl. Stellungnahme des Städtetags BW, LT-Drs. 17/3741, S. 152.
  • 7
    LT-Drs. 17/3741, S. 93 f.
  • 8
    Stellungnahme des Städtetags BW, LT-Drs. 17/3741, S. 152.
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