15.09.2015

Mit Fakten gegen Vorurteile

Ein Beitrag der Justiz zur Versachlichung der Flüchtlings-Debatte

Mit Fakten gegen Vorurteile

Ein Beitrag der Justiz zur Versachlichung der Flüchtlings-Debatte

Es sind die vermeintlich „kleinen Dinge”, die Großes in Bewegung setzen. | © nasared - Fotolia
Es sind die vermeintlich „kleinen Dinge”, die Großes in Bewegung setzen. | © nasared - Fotolia

Das Sächsische Oberverwaltungsgericht hat von Ende 2014 bis Anfang 2015, teilweise zusammen mit dem Landgericht Görlitz, dem Sozialgericht Dresden und der Staatsanwaltschaft Görlitz, Informationsveranstaltungen zum Thema Asyl durchgeführt. Die Begegnungen zwischen Juristen und Bürgern waren für beide Seiten lehrreich.

Im Jahr 2014 gab es in Deutschland mehr als 200 000 Anträge von Asylbewerbern und Flüchtlingen. Parallel dazu entwickelten sich in vielen Städten und Gemeinden mitunter heftige Diskussionen und die Ablehnung der als Bedrohung empfundenen Fremden. Pegida in Dresden verdoppelte wöchentlich die Teilnehmerzahl und wollte unter dem Ruf „Wir sind das Volk” deutlich machen, dass „das Volk” auf Asylbewerber und Flüchtlinge nicht gut zu sprechen sei. In den Gemeinden fanden seltsame und bedrohliche Geschichten rasend schnell Verbreitung: Die „Fremden” bekämen – im Unterschied zu deutschen Hartz-IV-Empfängern – bei ihrer Ankunft in Deutschland ein „üppiges Begrüßungsgeld”. Geschichten über Straftaten von Asylbewerbern taten das Ihrige, um die Stimmung anzuheizen.

Soll die Justiz sich einmischen?

Die aktuelle Situation war für die Präsidenten der Gerichte und den Leitenden Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Görlitz Anlass darüber nachzudenken, was die Justiz zu einer Versachlichung der Situation beitragen könnte. Allerdings war zunächst die Frage zu beantworten, ob die Justiz überhaupt irgendetwas tun sollte: Die Aufgabe der Justiz ist die Bearbeitung der Justizverfahren nach den dafür vom Gesetzgeber vorgesehenen Regelungen. Mitunter schreiben Juristen außerdem Aufsätze zu juristischen Fragestellungen, die von anderen Juristen gelesen werden, und kommen bei Fortbildungsveranstaltungen zusammen, um ihr juristisches Wissen zu verbessern. Juristen bewegen sich untereinander üblicherweise in den geregelten justiziellen Bahnen. Warum also abseits dieser vertrauten Pfade tätig werden?


Wo bleiben die für ein Gemeinwesen Verantwortlichen?

Wir waren uns sehr schnell einig, dass es an der Zeit wäre, sich jenseits dieser vertrauten Pfade einzumischen, um unserer Verantwortung gerecht zu werden. In der aufgeladenen Asylstimmung war augenfällig, dass sich allenfalls Einzelne derjenigen, die für ein Gemeinwesen Verantwortung haben (ein Oberbürgermeister, ein Pfarrer o. a.) bei Asylveranstaltungen zeigten, mit den Bürgern sprachen und oft genug „den Kopf hinhielten”. Viel öfter – so jedenfalls unser Eindruck – sah man dort keinen von denjenigen, die aufgrund ihrer Tätigkeit dem Gemeinwesen verpflichtet sind. Das betraf nicht nur Politiker – es betraf Mitarbeiter von Justizstellen und Verwaltungen ebenso wie Geschäftsführer, Unternehmer, Wissenschaftler, Lehrer und viele andere mehr. Gelegentlich meldete sich zwar der eine oder andere zu Wort, wie etwa Verbandsvertreter der Wirtschaft, die mit Hinweis auf den Fachkräftemangel die Notwendigkeit des Zuzugs ausländischer Arbeitskräfte thematisierten. Über ein solches Eigeninteresse hinaus war aber jedenfalls nicht deutlich zu spüren, dass die Wirtschaft oder andere in ihrer Funktion als verantwortlicher Teil der Gesellschaft im Gemeininteresse sich geäußert oder gar eingemischt hätten.

15 Bürgerversammlungen und Schülerveranstaltungen

In der Folgezeit haben wir fünfzehn Veranstaltungen – Bürgerversammlungen und Schülerveranstaltungen – in Gerichtsgebäuden in Bautzen, Görlitz und Hoyerswerda durchgeführt. Zu Beginn jeder Veranstaltung haben Richter eine Asylverhandlung – in gekürzter Form – nachgespielt. Danach wurden Informationen zum Asylverwaltungsrecht, Sozialrecht, Strafrecht gegeben und Fragen des Publikums beantwortet. Die meisten der angeschriebenen Schulen – Mittel-/Oberschulen, Gymnasien – nahmen unser Angebot an; ein paar meldeten sich jedoch nicht. Über die Gründe kann man spekulieren. Wir stellten die Termine – Tag, Zeit – den Schulen frei, gingen in ein Gericht am Ort der Schule, sodass keine langen Anfahrten von den Schulen organisiert werden mussten; auch ansonsten gab es keine Bedingungen oder sonstigen Voraussetzungen für die Teilnahme.

Informationen zu den Fakten führen zum Überdenken der Vorurteile …

Zu den Veranstaltungen sind jeweils zwischen 40 und 100 Teilnehmer gekommen. Mitunter ergaben sich nach der Veranstaltung weitere Gespräche, bei denen in nicht wenigen Fällen deutlich wurde, dass hinter dem geäußerten Unbehagen gegen Asylbewerber ganz andere Probleme standen. Vielfach waren es berufliche Probleme – vergebliche Arbeitssuche, niedrige Entlohnung; auf den vielfach betonten Fachkräftemangel reagierten nicht wenige mit Kopfschütteln. Die erlebte Wirklichkeit war eine andere. Gelegentlich wurde auch beklagt, dass man das Gefühl habe, keinen wirklichen staatlichen Schutz bei Wohnungseinbrüchen und Diebstählen zu erhalten; strafrechtliche Verfahren würden nach kurzer Zeit eingestellt werden, ohne dass man den Eindruck habe, dass tatsächlich ermittelt worden sei.

Während der Veranstaltung kamen aber auch andere Dinge zur Sprache. Manch einer, der etwa der Auffassung war, dass im Landkreis Bautzen – mit über 300 000 Einwohnern – inzwischen abertausende Asylbewerber seien, und es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis sie die Mehrheit stellten, reagierte sichtlich überrascht, wenn er erfuhr, dass zu Beginn des Jahres 2015 im Landkreis 1 200 Asylbewerber und Flüchtlinge lebten (in Sachsen mit etwa 4 Mio. Einwohnern waren es 14 000).

… etwa des Vorurteils von den „arbeitsscheuen Fremden”

Weit verbreitet war ferner die Schlussfolgerung aus der geringen Asylanerkennungsquote, dass fast alle Antragsteller ohnehin nicht politisch verfolgt würden. Dass die Anzahl der Asylanerkennungen schon wegen des Systems der sicheren Drittstaaten, die Deutschland umgeben, weshalb jeder auf dem Landweg eingereiste Flüchtling – auch der politisch Verfolgte – von vornherein vom Asyl ausgeschlossen ist, nur sehr gering sein kann, war für viele neu. Nahezu unbekannt war, dass zu Beginn des Jahres 2015 etwa 45 % der Antragsteller einen Schutzstatus – Asyl, Flüchtlingsschutz und/oder Abschiebungsschutz – erhalten hatten. Dass Antragsteller kein Begrüßungsgeld bekommen, sondern 15 Monate lang Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (352 € / mtl.) und dann Hartz-IV Leistungen, hat oftmals die Gegenfrage ausgelöst, warum die Antragsteller nicht arbeiten und „dem Steuerzahler” auf der Tasche liegen würden.

Dass Antragsteller bis vor kurzem nicht arbeiten durften und erst jetzt – sobald sie nicht mehr in einer Erstaufnahmeeinrichtung sind – mit Zustimmung der Bundesagentur arbeiten können (sofern die Arbeitsstelle nicht von Bundesbürgern, EU-Ausländern oder bestimmten anderen Ausländern beansprucht wird), führte zur nächsten Gegenfrage, warum die Antragsteller nicht wenigstens gemeinnützig arbeiten würden. Die Antwort, wonach diese gemeinnützige Arbeit (nach § 5 AsylbLG 1,05 € / Std. Aufwandsentschädigung) von einer Vielzahl der Asylantragsteller zwar nachgefragt würde, aber viel zu wenig Arbeitsstellen zur Verfügung stünden und oftmals auch die ansässigen Betriebe es nicht gern sähen, wenn – etwa bei Reinigungsarbeiten – Asylantragsteller diese Arbeit übernähmen, brachte doch einige zum Überdenken der Auffassung von den „arbeitsscheuen Fremden”.

Hohes Interesse an der Beantwortung von Fragen zur Kriminalität

Hohes Interesse bestand an der Beantwortung von Fragen zur Kriminalität. Vielfach kamen (vermeintliche) Straftaten zur Rede, die tatsächlich nicht begangen wurden: etwa die lange Zeit in Bautzen kursierende Geschichte von der Verrichtung der Notdurft durch Asylbewerber im Einkaufszen-trum; oder etwa ein tätlicher Angriff auf einen Deutschen, den ein Asylbewerber begangen haben sollte (und bei dem sich dann ergab, dass sich der Deutsche die Verletzungen selbst beigebracht hatte). Besorgte Fragen gab es, wie man sich denn am „besten schütze, wenn in der Nähe einer Schule eine Unterkunft für Asylbewerber eröffnet werde”. Diese haben wir zunächst mit der Erläuterung der Kriminalitätsstatistik beantwortet: Im Landkreis Bautzen gab es danach im letzten Jahr einen schwerwiegenden Fall einer Körperverletzung; die meisten Fälle waren „Schwarzfahrten” in öffentlichen Verkehrsmitteln oder ereigneten sich – etwa Diebstahl, Beleidigung – in den Unterkünften zwischen den Asylbewerbern. Und schließlich haben wir die Frage damit beantwortet, dass die Wahrscheinlichkeit, einen Dachziegel beim Verlassen unserer Veranstaltung auf den Kopf zu bekommen, wesentlich höher sei, als Opfer eines Asylbewerbers zu werden.

Keine verlässlichen Zahlen über tatsächliche Abschiebung abgelehnter Antragsteller

Regelmäßig gefragt wurde schließlich nach der Anzahl der Abschiebungen. Während die einen die Meinung vertraten, der Staat solle auf Abschiebungen ganz verzichten, waren die anderen der Auffassung, dass der „verschwindend geringe Anteil von Abschiebungen” ein Skandal sei. Hier standen wir vor dem Problem, dass wir nicht zuverlässig sagen konnten, welcher Prozentsatz der abgelehnten Antragsteller tatsächlich abgeschoben wird. Da die Abschiebung nur denjenigen treffen kann, der nicht freiwillig ausreist, müsste es bekannt sein, wieviele der abgelehnten Antragsteller freiwillig ausreisen.

Eine entsprechende Erhebung gibt es jedoch nicht; ein entsprechender Hinweis wurde von den Zuhörern mitunter ärgerlich entgegen genommen („Wieso wissen Sie das nicht? Sie werden doch auch von unseren Steuergeldern bezahlt”). Falsch ist jedenfalls die – verbreitete – Annahme, wonach im Jahr 2014 bei etwa 200 000 Anträgen und einer Erfolgsquote von damals etwa einem Drittel (Bundesamt) und noch einigen, die im gerichtlichen Verfahren erfolgreich sind, jedenfalls deutlich über 100 000 Asylbewerber abzuschieben gewesen seien und daher – bei etwa 12.000 tatsächlichen Abschiebungen bundesweit – nicht einmal 10% abgeschoben würden. Dies wäre nur dann richtig, wenn nahezu keiner der abgelehnten Antragsteller freiwillig ausreisen würde – was offensichtlich aber nicht zutrifft. Hinweise darauf, dass nicht wenige abgelehnte Antragsteller freiwillig ausreisen, ergeben sich im Übrigen auch aus der Anzahl der mit Rückkehrhilfen (REAG/Garp-Programm) ausgereisten Ausländern. Darüber hinaus wurden eine Vielzahl von anderen Fragen etwa zum „Dublin-System”, Umfang der Krankenversorgung, zur Schulpflicht, zur Anzahl von irregulären Flüchtlingen im Bundesgebiet, zu Einbürgerungen, zur Verteilung der Antragsteller auf die Bundesländer und innerhalb der Bundesländer und viele andere mehr gestellt.

Auf welcher Wertegrundlage wird die Gesellschaft reagieren?

Nach derzeitigem Stand werden es dieses Jahr deutlich mehr Asylbewerber und Flüchtlinge sein. Wird die Gesellschaft in der Lage sein, mit der zukünftigen Flüchtlingssituation umzugehen? Die Asylsituation heute ist eine andere als zu Beginn der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Damals war die Lage vor allem durch das zerfallende Jugoslawien geprägt; man konnte davon ausgehen, dass mit einer Beendigung des dortigen Krieges die Anzahl der Asylbewerber sich deutlich verringern würde. Vielleicht werden es wie damals pro Jahr wieder 400 000 Antragsteller, vielleicht werden es mehr. Angesichts der zunehmenden Anzahl von Krisengebieten in der Welt und den zugrunde liegenden Problemen können wir heute aber realistischerweise nicht davon ausgehen, dass das Problem von weit mehr als 50 Mio. Menschen, die sich derzeit weltweit auf der Flucht befinden, in absehbarer Zeit einigermaßen bewältigt werden kann. Wir werden uns darauf einzustellen haben, dass zumindest für eine erhebliche Zeit eine große Anzahl von Menschen an die westeuropäische Tür klopft und eintreten möchte. Auf welcher – christlichen, ethischen, moralischen – Wertegrundlage werden wir reagieren? Haben wir eine solche Wertegrundlage, die die Gesellschaft zusammenhält oder wird deren Schicksal mit der Durchsetzung von Partikularinteressen besiegelt werden? Pflegen wir solche Werte, so sie denn vorhanden sind, nur als abstrakte Handlungsnorm ohne praktische Konsequenz? Wir werden den auf uns zukommenden Herausforderungen – die wachsende Zahl der Flüchtlinge wird nur eine sein – nicht ausweichen können und sollten aus Angst vor dem dunklen Wald nicht die Augen schließen. Wir werden uns in vielem verändern müssen. Nur eine der Veränderungen sollte sein, dass die Verantwortlichen für ein Gemeinwesen ihre Verpflichtung für die Gesellschaft mehr als bislang wahrnehmen und sich nicht darauf beschränken, das Gespräch, die Erklärung und den Diskurs nur mit Ihresgleichen zu suchen.

Hinweis der Redaktion: Siehe auch Bericht in den Sächsischen Verwaltungsblättern, 2015, Heft 9.

 

Erich Künzler

Präsident des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, Bautzen
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