15.09.2015

Bayerischer Städtetag 2015

Demografischer Wandel in Stadt und Land

Bayerischer Städtetag 2015

Demografischer Wandel in Stadt und Land

Schrumpfen ebenso wie Wachsen sind Auswirkungen des demografischen Wandels. | © Gerhard Seybert - Fotolia
Schrumpfen ebenso wie Wachsen sind Auswirkungen des demografischen Wandels. | © Gerhard Seybert - Fotolia

Der BAYERISCHE STÄDTETAG 2015 vom 22. und 23.07.2015 in Passau befasste sich mit dem Thema des demografischen Wandels. Im Fokus standen die Auswirkungen der demografischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen auf die kommunale Aufgabenerfüllung. Wesentliche Erkenntnisse wurden in einem Diskussionspapier zusammengestellt, das im Internetauftritt des Bayerischen Städtetags unter www.bay-staedtetag.de abrufbar ist. Einige Eckpunkte der Diskussionen und Standpunkte werden im Folgenden dargestellt.

Bayern schrumpft – Bayern wächst. Dies erscheint auf den ersten Blick widersinnig zu sein, aber dennoch passt die Aussage. Denn demografischer Wandel lässt sich nicht allein am Schrumpfen ablesen. Beides – Schrumpfen ebenso wie Wachsen – sind Auswirkungen des demografischen Wandels. Es gibt schrumpfende Regionen ebenso wie wachsende Regionen in Bayern. Der Blick sollte sich – so drängend die Probleme auch sind – nicht allein auf schrumpfende Regionen konzentrieren. Vor über einem Jahrzehnt – um die Jahrtausendwende – wurden die Alarmglocken immer schriller und lauter geschlagen. Und es tönte der Warnschrei: Die Deutschen überaltern, sie werden weniger. Der Rollator wurde zum Symbol einer überalternden Gesellschaft. Deutschland schien am Rollator daher zu schleichen und apokalyptische Propheten warnten vor dem Aussterben der Deutschen. Die Erkenntnisse zur gewandelten Altersstruktur und zu den Verschiebungen der Alterspyramide waren wichtig – aber inzwischen ist der Blick differenzierter, denn: Der Alarmruf „weniger und älter“ schallt nicht in allen Regionen. Der demografische Wandel bedeutet nicht nur Schrumpfung und Älterwerden. Daher hieß es im Tagungsmotto nicht nur „gesund schrumpfen“, sondern auch: „über sich hinaus wachsen“.

Bayerische Städte und Gemeinden wachsen über sich hinaus – wir erleben das in der Metropolregion München ebenso wie in der Metropolregion Nürnberg, in größeren Städten ebenso wie in kleineren Orten. Wir erleben Wachstum nicht nur in Städten wie etwa in Regensburg oder Ingolstadt – das umfasst jede Ortsgröße. Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Bürgerinnen und Bürger wachsen über sich hinaus. Sie meistern neue Herausforderungen, die der demografische, der soziale und der wirtschaftliche Wandel für das Zusammenleben in der Stadt und in der Gemeinde mit sich bringen. Dieser Strukturwandel kommt nicht auf einen Schlag, er kommt schleichend. Das ist kein Umbruch, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Nichts ist so dauerhaft wie der Wandel.


Wachstum ist aber nur die eine Seite Bayerns: Bayerische Städte und Gemeinden schrumpfen „gesund“, weil sich Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Bürgerinnen und Bürger mit den Veränderungen auseinandersetzen und alle kommunalen Hebel bedienen, um ihre Stadt und ihre Gemeinde attraktiv und leistungsfähig zu gestalten. Das Begriffspaar „Gesund schrumpfen – über sich hinauswachsen“ ist nur auf den ersten Blick ein Gegensatz, wenn man es allzu wörtlich nimmt.

Schrumpfen muss nicht gleich negativ sein, Wachstum bringt nicht automatisch Positives mit sich. Beides zieht Probleme nach sich. Beides muss gestaltet werden. Der BAYERISCHE STÄDTETAG 2015 befasste sich mit den Auswirkungen dieser Entwicklungen auf das Zusammenleben in der Kommune, auf die kommunale Aufgabenerfüllung und auf die Rolle des Freistaats.

Der kommunale Einfluss ist gering

Neue Berechnungen vom Statistischen Bundesamt haben erst kürzlich bestätigt: Die Menschen in Deutschland werden langfristig weniger. In Deutschland werden in Zukunft deutlich mehr alte Menschen leben. Allein die Zuwanderung aus Europa und darüber hinaus dämpft diese Entwicklung ab. Unter dem Schlagwort des demografischen Wandels beschreibt die Wissenschaft Veränderungen der Bevölkerungsentwicklung in der Altersstruktur, dem zahlenmäßigen Verhältnis von Männern und Frauen, den Anteilen von Inländern, Ausländern und Eingebürgerten an der Bevölkerung, der Geburtenrate, der Sterbefallentwicklung, der Zuzüge und der Fortzüge. Diese Definition lässt die Richtung der Veränderung offen – weniger oder mehr, älter oder jünger, mehr Frauen oder mehr Männer:

Dennoch wird der Begriff des Demografischen Wandels in Deutschland vor allem mit der Alterung und Abnahme der Bevölkerung in Verbindung gebracht. Die nüchterne Betrachtung dieses Prozesses wird in der kommunalen Praxis mit Emotionen angereichert: Wenige Themen werden ähnlich emotional diskutiert und behandelt. Schrumpfen wird gleichgesetzt mit Attraktivitätsverlust. Dieser Verlust an Attraktivität gilt wiederum als Ursache für weitere Abwanderung. Und: Je unattraktiver eine Region ist, desto schwerer wird es, Zuwanderung zu mobilisieren. Was schrumpft, das scheitert, ist aus der Mode, ist langweilig, ist unattraktiv, ist dunkel und verdorrt. Hingegen scheinen die Großstädte zu boomen. Da wächst es, da leuchtet es. Da pulsiert das Leben. Da sind schon viele, da wollen alle anderen hin. Starkes Wachstum ist in der öffentlichen Diskussion positiv belegt. Was wächst und blüht, liegt im Trend und wird auf einer Woge immer weiter nach oben getragen. Was wächst, entfaltet Faszination und mobilisiert weiteren Zuzug. Allerdings greift eine undifferenzierte Sichtweise auf Schrumpfen und Wachsen zu kurz:

Der Bayerische Städtetag möchte diese Verknüpfung von „schrumpfen = schlecht, unattraktiv“ und „wachsen = gut, attraktiv“ lösen. Auf bestimmte Entwicklungen hat eine Kommune kaum Einfluss. Eine Bürgermeisterin oder ein Bürgermeister können sich noch so sehr bemühen: Eine unmittelbare Einflussnahme der Rathauspolitik auf die Geburtenrate oder den Alterungsprozess der Gesellschaft ist nicht möglich. Individuelle Familienplanungen und Standortentscheidungen der Menschen können Bürgermeister nur begrenzt steuern, indem sie versuchen, günstige Rahmenbedingungen zu schaffen. Wanderungsmotive sind in vielen Fällen unabhängig von der vorhandenen Infrastruktur. Häufig spielen familiäre Verbindungen, persönliche Präferenzen oder andere nicht steuerbare Entscheidungen eine Rolle bei der Suche nach einem Wohnort. Einige Wünsche und Interessen können schlichtweg nicht erfüllt werden.

Schrumpfen und Wachsen; Einflüsse flankierender gesellschaftlicher Entwicklungen

Der demografische Wandel trifft ganz Bayern, ganz Deutschland, ganz Europa. Er betrifft ganz besonders alle Städte und Gemeinden: große und kleine Kommunen der Metropolregionen München, Nürnberg oder Aschaffenburg, in den Verdichtungsräumen um Würzburg, Passau oder Regensburg und viele kleinere bayerische Städten und zentrale Orte sowie Gemeinden, die in ländlichen Räumen liegen. Die Situation in Bayern ist viel differenzierter als die Kurzformel „weniger, älter, bunter“ zum Ausdruck bringen kann. Sie ist geprägt durch Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten verschiedener Entwicklungen. Wachstums- und Schrumpfungsprozesse finden in einem engen Nebeneinander statt. Demografischer Wandel ist nicht allein Schrumpfung, Alterung und Internationalisierung. Er ist viel facettenreicher. Demografischer Wandel heißt – gerade in Bayern – auch Wachstum. Mittelfristig prognostiziert das Bayerische Landesamt für Statistik dem Freistaat Bayern stabile Bevölkerungszahlen. Wanderungsüberschüsse können das Geburtendefizit noch kompensieren. Im Einzelnen sei auf die differenzierten Erhebungen des Landesamtes verwiesen.

Demografische Prozesse werden von unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungen flankiert, mit denen sie in einem engen Wechselspiel stehen. Von zentraler Bedeutung – auch für die kommunale Ebene – ist dabei der wirtschaftliche und soziale Wandel der Gesellschaft. Insbesondere folgende Trends sind für die kommunale Praxis relevant:

1. Wirtschaftlicher Strukturwandel

  • Verschiebungen vom Sektor Industrie zu Dienstleistung, Forschung und Entwicklung;
  • Forschungs- und wissensintensive Unternehmen brauchen Standortbedingungen, die vor allem Verdichtungsräume bieten;
  • Globalisierung von Wirtschaft und Arbeitsmärkten;
  • in der Folge steigt die Nachfrage nach hochqualifizierten Beschäftigten mit langen Ausbildungszeiten; der Zugang von Nicht- und Niedrigqualifizierten in den Arbeitsmarkt wird schwieriger;
  • Mobilität und Flexibilität; Abnahme von „Normalarbeitsverhältnissen“; Entstandardisierung von Erwerbsbiografien; steigende Erwerbsbeteiligung der Frauen: Auswirkungen auf das generative Verhalten (spätere Familiengründungen; Kinderlosigkeit).

2. Sozialer Wandel

  • Soziale Polarisierung: die Kluft zwischen verschämter Armut und unverschämtem Reichtum steigt;
  • 2012 waren 14 Prozent der bayerischen Bevölkerung armutsgefährdet;
  • die Altersarmut steigt;
  • Heterogenität der Gesellschaft nimmt zu; unterschiedliche Lebensstile prägen sich aus;
  • Individualisierung der Gesellschaft: mehr Zeit für Hobbies und Freizeit;
  • Singularisierung: Einpersonenhaushalte in Bayern liegen bei über 40 Prozent;
  • Folgen: der Verbrauch an Wohnflächen steigt ebenso wie die Nachfrage nach Wohnungen;
  • familiäre Netzwerke werden seltener und dünner, damit sinkt das Potenzial für Kinderbetreuung oder häusliche Pflege für Kranke und Senioren;
  • die soziale Polarisierung bringt die Gefahr der zunehmenden Entmischung der Bevölkerung entsprechend ihres sozialen Status oder des Migrationshintergrunds.

Der demografische Wandel ist als Prozess des gesellschaftlichen Wandels zu verstehen. Erst dadurch werden die spezifischen Herausforderungen wachsender und schrumpfender Städte und Gemeinden nachvollziehbar und in der gesamten Bandbreite erfassbar. Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft müssen sich nicht nur auf Veränderungen der Bevölkerungszahl und Altersstruktur einstellen, sondern auch auf neue Formen der gesellschaftlichen Integration, unterschiedliche Lebensformen und Lebensstile oder auf neue Formen der Solidarität zwischen den Generationen. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, reichen kurzfristige und reaktive Strategien nicht aus.

Demografischer Wandel bringt neue Aufgaben

Die demografischen Entwicklungen, der soziale und wirtschaftliche Umschwung stellen Kommunen vor Herausforderungen. Diese Herausforderungen treffen wir in allen Bereichen, die Städte und Gemeinden täglich zu bewältigen haben, sei es die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Bildungsstruktur, der Versorgung mit geeignetem und bezahlbarem Wohnraum, die Integration neuer kultureller Einflüsse, die Mobilisierung des Ehrenamts, die bürgernahe Versorgung mit sozialen, medizinischen Einrichtungen und Versorgungseinrichtungen. Kommunen und Kommunalpolitik müssen über sich hinaus wachsen.

Bei der Aufgabenerfüllung müssen Kommunen vielerlei Interessen bedienen: In erster Linie die der Bürgerinnen und Bürger. Für Mütter und Väter, für Senioren oder für behinderte Menschen müssen Kommunen bei der Stadtentwicklung auf kurze Wege achten, Barrieren beseitigen oder verringern. Städte und Gemeinden müssen attraktiv gestaltet werden als Orte für Arbeit, Wohnen und Erholung.

Aber die Wirtschaft verlangt von Kommunen nicht weniger als beste Rahmenbedingungen bereit zu halten, sei es im Bereich der Bildung mit Kindergärten, Kinderbetreuung, Schulen und Volkshochschulen, des reichhaltigen Kulturlebens mit Theatern, Bibliotheken und Museen, der Verkehrsinfrastruktur, des Sport- und Vereinswesens oder der Versorgung mit schnellem Internet. Allerdings sind es oft dieselben Unternehmen, die auf der einen Seite die beste Infrastruktur am Standort begehren, sich aber auf der anderen Seite vor der Steuerpflicht oder der Gewerbesteuer am liebsten zurückziehen würden.

Folgen des demografischen Wandels als gemeinsame Aufgabe von Städten und Freistaat bewältigen

Alleine können Städte und Gemeinden diese Aufgaben nicht bewältigen. Alleine wird zum Beispiel die Landeshauptstadt München dem Wachstumsdruck nicht standhalten können. Blickt man etwa auf die Wohnraumversorgung, scheitert dies bereits im Ansatz daran, dass notwendige Grundstücke für Wachstum gar nicht erst zur Verfügung stehen. Die letzten freien Flächen in der Stadt München werden bebaut, etwa ehemalige Bahnflächen. Und wenn demnächst die Brauerei Paulaner in den Westen Münchens zieht, ergibt sich wohl eine der letzten größeren Flächen, die in der Innenstadt noch bebaut werden können. Deshalb strebt die Landeshauptstadt eine Zusammenarbeit mit dem Umland an. Dies läuft zum Nutzen von beiden Seiten, denn ohne die boomende Stadt München wäre das Umland Münchens nichts – und ohne sein Umland wäre München nichts.

Bevölkerungsrückgang lässt sich alleine nicht bewältigen. Auch hier bietet sich „Selbsthilfe“ an: Benachbarte Städte und zentrale Orte können mit ihren nächsten Nachbarn oder ihrem Umland zusammen wirken, indem sie gemeinsame Konzepte erarbeiten, um ihre Bürger mit Einrichtungen der Daseinsvorsorge, mit Kulturangeboten, mit Bildungseinrichtungen, mit technischer Infrastruktur oder mit sozialen Einrichtungen zu versorgen. Bürgermeister haben bereits Ideen entwickelt, um mit demografischen und gesellschaftlichen Veränderungen umzugehen. Im Diskussionspapier sind einige Beispiele enthalten. Die Kommunen leisten hier schon Beachtliches und haben viele kreative Ideen entwickelt.

Hohe Erwartungen richten sich an das Ehrenamt: Das Ehrenamt kann Vieles leisten, aber das Ehrenamt kann nicht alles übernehmen. Das Ehrenamt soll für viele Bereiche dienen, es soll einspringen bei der Altenpflege, es trägt die Feuerwehren, es soll in Jugendeinrichtungen mitwirken oder bei der Integration von Migranten. Das Ehrenamt wird einen wichtigen Beitrag leisten, um Zukunftsaufgaben zu meistern. Allerdings dürfen nicht zu viele Aufgaben auf das Ehrenamt geschoben werden. Ehrenamt kann staatliche und kommunale Aufgaben unterstützen und bereichern, nicht aber ersetzen. Wir können den geänderten Aufgaben nur gerecht werden, wenn der Freistaat Städte und Gemeinden unterstützt.

Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse verpflichtet den Freistaat, alle Städte und Gemeinden in den Blick zu nehmen – ländliche Räume und Verdichtungsräume.

Der Freistaat leistet diese Unterstützung nicht aus Großzügigkeit oder gar aus selbstloser Liebe zu den Kommunen. Der Freistaat steht in der Pflicht, demografische und gesellschaftliche Veränderungen mitzugestalten. Die Bayerische Verfassung gibt die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen als Maxime staatlichen Handelns vor.

Die Vollversammlung des Bayerischen Städtetags hat daher in Passau eine Resolution beschlossen, die ebenfalls unter www.bay-staedtetag.de abrufbar ist.

 

Florian Gleich

Bayerischer Städtetag, München
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