15.09.2015

Betriebsbezogene Tarifeinheit

Rechtstechnische Unsauberkeit oder doch genialer Schachzug?

Betriebsbezogene Tarifeinheit

Rechtstechnische Unsauberkeit oder doch genialer Schachzug?

Beschränkt das Tarifeinheitsgesetz die Tariffreiheit? | © Wolfisch - Fotolia
Beschränkt das Tarifeinheitsgesetz die Tariffreiheit? | © Wolfisch - Fotolia

Im Juli 2015 ist das Gesetz zur Tarifeinheit vom Bundespräsidenten nach langer politischer Debatte unterzeichnet worden. Üblicherweise genießt das Tarifvertragsrecht keine große Aufmerksamkeit in den Medien. Jedoch haben die lang andauernden Arbeitskämpfe der Piloten, Lokomotivführer und Erzieher nicht nur in der Bevölkerung Wirkung gezeigt, auch der Gesetzgeber hat sich nach langer Zeit der Passivität gezwungen gesehen, einen Rechtsbereich zu regeln, der bislang allein der Kontrolle der Gerichte vorbehalten war – dem Recht des Arbeitskampfes.

Einführung

Bislang hatten die Tarifvertragsparteien, insbesondere die Gewerkschaften, auf der Grundlage der Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 GG kaum Einschränkungen bei der Ausgestaltung von Streikmaßnahmen hinzunehmen. Die anfänglich durch das Bundesverfassungsgericht aufgestellten Rechtmäßigkeitsanforderungen sind in den letzten Jahren systematisch wieder abgebaut worden (ausführlich Litschen, NZA-RR 2015, 57). Gleichzeitig war in der Gewerkschaftslandschaft eine Tendenz der Entsolidarisierung der Arbeitnehmer hin zur Bildung von Interessenvertretungen der Funktionseliten in Berufs- und Spartengewerkschaften zu verzeichnen. Aufgrund der hohen Diversifizierung der Arbeitslandschaft in Deutschland ist es diesen Funktionseliten leicht möglich, auch bei geringer Mitgliederanzahl einen Arbeitskampf erfolgreich zu führen, da ihre Arbeit an den Schnittstellen des Wertschöpfungsprozesses für den Arbeitgeber nicht so leicht zu ersetzen war, wie bei den Massengewerkschaften. Insbesondere der Streik bei der Deutschen Bundesbahn hat gezeigt, dass diese Funktionseliten auch für den eigenen Machtausbau bereit sind, Schäden bei Arbeitgeber und Dritten hinzunehmen. Gerade auch der Erfolg der Funktionseliten hat den Gesetzgeber bewogen, in diesen Prozess einzugreifen.

Tarifeinheitsgesetz

Für einen direkten Eingriff in die Freiheit des Arbeitskampfes im Sinne einer echten Arbeitskampfordnung fehlte jedoch der Mut. Es war zu erwarten, dass die Gewerkschaften mit allen gebotenen Rechtsmitteln gegen ein solches Gesetz vorgehen würden, welches sich einschränkend auf das Streikrecht auswirkt. Das BAG und das BVerfG haben durch die vorangegangenen Urteile bereits deutlich gemacht, dass die Möglichkeit der Gewerkschaften zum Arbeitskampf in ihren Augen einen hohen Stellenwert einnimmt. Der Gesetzgeber war daher gewarnt, den Eingriff so zu wählen, dass er im Sinne der Koalitionsfreiheit insbesondere für das Verfassungsgericht noch akzeptabel ist. Aus diesem Grund hat er den Umweg über die Tarifeinheit gewählt. Die Tarifeinheit war bis zum Jahr 2010 ein ungeschriebene Rechtssatz, der die Konkurrenz von Tarifverträgen und damit auch von Gewerkschaften bei einem Arbeitgeber aus Praktikabilitätserwägungen untersagte. War der Arbeitgeber dennoch an zwei unterschiedliche Tarifverträge gebunden, so sorgte der sogenannte Spezialitätsgrundsatz dafür, dass jeweils nur der speziellere Tarifvertrag zur Anwendung kam. Dieser Grundsatz wurde von der Rechtsprechung mit dem dogmatischen Argument gekippt, dass dadurch die Mitglieder der jeweils anderen Gewerkschaften in ihrem Recht aus Art. 9 Abs. 3 GG eingeschränkt waren. Seitdem mussten bei einem Arbeitgeber für ein und dieselbe Berufsgruppe zwei unterschiedliche Tarifverträge beachtet werden. Diesen Umstand hat sich der Gesetzgeber nun zu Nutze gemacht und mit der Einführung des § 4a TVG die Tarifeinheit einfachgesetzlich wieder eingeführt. Im Unterschied zum alten Spezialitätsgrundsatz, ist für die Geltung des Tarifvertrages die jeweilige Anzahl von Mitgliedern der betroffenen Gewerkschaften in einem Betrieb maßgeblich. Diejenige Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern stellt den wirksamen Tarifvertrag. Alle übrigen Gewerkschaften sind dann mit ihren Tarifverträgen ausgeschlossen.


Tarifeinheit als Arbeitskampfordnung

An dieser Stelle muss geklärt werden, warum die Tarifeinheit eine Regelung des Arbeitskampfrechtes darstellt. Dies ergibt sich aus dem immer noch gültigen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, den die Rechtsprechung für den Arbeitskampf entwickelt hat. Kurz gesagt sind Streiks dann zulässig, wenn sie verhältnismäßig sind, es also keine anderen, ebenso wirksame Mittel gibt, den Zweck zu erreichen. Ein Streik einer Gewerkschaft mit einer geringen Mitgliederzahl wäre aufgrund dieses Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht mehr möglich, weil der von ihr verhandelte Tarifvertrag höchstwahrscheinlich gar nicht zur Anwendung kommen kann. Dies wird durch die Tarifeinheit verhindert. Auch ein noch so geringfügiger Streik wäre unverhältnismäßig, wenn kein grundgesetzlich geschütztes Ziel erreichbar ist. Auf diesem Wege hat der Gesetzgeber durch das Ausschlussprinzip die Möglichkeit zum Arbeitskampf erheblich eingeschränkt. Wie zu erwarten war, haben die kleineren Gewerkschaften diesem Gesetz sofort den Kampf angesagt. Ob der Grundsatz der Tarifeinheit tatsächlich so umgesetzt werden kann, wird in Karlsruhe geklärt werden. In der Literatur werden die Aussichten des Gesetzes eher als gering angesehen, da es die Betätigungsgarantie der kleineren Gewerkschaften nach vorherrschender Meinung unzulässig einschränkt und quasi entmachtet.

Betriebsbezogene Tarifeinheit

Bei der Ausgestaltung des Gesetzes fällt auf, dass die Entscheidung, welcher Tarifvertrag zur Anwendung kommt, auf betrieblicher Ebene getroffen wird. Dies ist deswegen bemerkenswert, da es in Deutschland ein streng getrenntes System der Interessenvertretungen der Arbeitnehmer gibt. Der Betrieb ist die Domäne des Betriebs-/Personalrats und die Gewerkschaften hat nur sehr eingeschränkte Rechte. Das zugrunde liegende Recht unterscheidet die Befugnisse dieser beiden Ebenen. Dennoch besteht nun die Möglichkeit bei Arbeitgebern mit mehreren Betrieben, dass bei unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen doch wieder mehrere Tarifverträge, getrennt nach Betrieben, Anwendung finden. Man hätte daher eher erwartet, dass die Frage der Mitgliedermehrheit arbeitgeberbezogen festgestellt wird. Zum einen, weil der Arbeitgeber Tarifvertragspartner ist und zum anderen, gerade eine Vereinfachung der Personalverwaltung erreicht werden sollte. Hat hier der Gesetzgeber unsauber gearbeitet? Hinter dieser ungewöhnlichen Regelung kann man zu Recht vielmehr gesetzgeberisches Kalkül vermuten. Wäre die Tarifeinheit arbeitgeberbezogen, würde dies tatsächlich zum kompletten Ausschluss der Berufs- und Spartengewerkschaften geführt haben. Lokomotivführer, Piloten, Ärzte hätten aufgrund ihrer im Verhältnis geringeren Anzahl bei den betroffenen Arbeitgebern auch keine theoretische Möglichkeit, ihre Betätigungsgarantie auszuüben. Die Verfassungswidrigkeit eines solchen Gesetzes wäre evident. Bei einer heterogenen Betriebsstruktur eines Arbeitgebers ist es hingegen durchaus vorstellbar, dass auch kleinere Gewerkschaften in bestimmten Betrieben zum Zuge kommen können. Für diese Betriebe wären sie dann auch wieder zulässiger Tarifvertragspartner gegenüber dem Arbeitgeber und könnten ihre Betätigungsgarantie ausleben. Ein kleiner Preis für die Arbeitgeber, für das Tarifeinheitsgesetz jedoch vielleicht der entscheidende Kniff, um die Prüfung durch das Bundesverfassungsgesetz zu bestehen.

 

Prof. Dr. iur. Kai Litschen

Ostfalia, Hochschule für angewandte Wissenschaften, Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel
- Fakultät Recht/Brunswick European Law School (BELS)
- Institut für Personalmanagement und Recht - Wolfenbüttel
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