15.09.2015

Asyl und kommunale Wirklichkeit

Erfahrungen eines Oberbürgermeisters aus dem Alltag einer Stadt

Asyl und kommunale Wirklichkeit

Erfahrungen eines Oberbürgermeisters aus dem Alltag einer Stadt

Flüchtlingsdiskussion: Seismografische Spiegelung einer verunsicherten Gesellschaft. | © destina - Fotolia
Flüchtlingsdiskussion: Seismografische Spiegelung einer verunsicherten Gesellschaft. | © destina - Fotolia

Von Mai 1990 bis Juli 2015 war ich Oberbürgermeister der Großen Kreisstadt Bautzen in Sachsen. In dieser Zeit ist das Thema Asyl zu einem durchaus bestimmenden Diskussionsthema geworden. Mittlerweile ist das politische Geschehen von den verschiedenen Erfahrungsträgern, Kritikern und umsetzenden Institutionen mit einer Vielzahl von konträren, kritischen, zustimmenden, suchenden Meinungen und Texten versehen worden. Unüberschaubar ist die Zahl der Debatten und Meinungsbilder. Niemand hat, wie es scheint, die Deutungshoheit erlangt. Allerdings mischt sich in die Debatte um Inhalte und technische Möglichkeiten die Sorge vor den politischen Problemstellungen. Erst jetzt wurde das in Dresden errichtete Zeltlager mit seinen wie im Brennglas verdichteten Problemen zum Punkt der Erörterung und Berichterstattung.

Die gegenwärtige Situation in Bautzen

Die gegenwärtige Situation stellt sich in Bautzen wie folgt dar: Es existieren drei Gemeinschaftsunterkünfte und darüber hinaus vereinzelte dezentrale Unterbringungen von geduldeten bzw. anerkannten Asylbewerbern. Alle drei Gemeinschaftsunterkünfte werden von privaten Auftragnehmern im Auftrag der zuständigen Kreisverwaltung betrieben. Zuerst wurde ein Hotel mit ca. 200 Menschen belegt. Dies erfolgte in verschiedenen Stufen; ein zweites Quartier beherbergt zur Zeit 60 Asylbewerber, im Endausbau sollen 260 Menschen untergebracht werden. Die Immobilie ist eine ehemalige betriebliche Einrichtung. Als drittes Quartier wird eine vakante Berufsschule für ca. 100 Menschen ausgebaut. Gegenwärtig sind hier 40 Asylbewerber untergebracht. Perspektivisch soll in einer nicht mehr genutzten Behinderteneinrichtung, die sich im Eigentum des Landkreises befindet, eine Unterbringung von bis zu 100 unbegleiteten Jugendlichen und Kindern entstehen.

Ich möchte einige der Gründerfahrungen wiedergeben, die ich in Bautzen gemacht habe. Es handelt sich um persönliche Eindrücke, die durchaus spezifisch und diskussionswürdig sein können. Auch erheben sie keineswegs einen Anspruch auf Vollständigkeit.


Angstbesetzte Themenfelder…

Um welche Themenfelder kreisen die Gespräche mit Bürgerinnen und Bürgern immer wieder?

  • Es existiert eine „fromme Abwehr” aus religiösen Gründen, z. B. in Kirchgemeinden (Islamisierung) und christlichen Gruppierungen; andererseits gibt es in den Kirchen auch großartige Hilfen, also im Ganzen eine etwas gemischte Lage;
  • Klare ideologische Interessen (deutsch-national) in entsprechenden Gruppen;
  • Furcht vor der Beeinträchtigung des eigenes Wohlergehens (Grundstücksentwertung, Vergleich zum eigenen „Hartz 4-Einkommen”);
  • „Überfremdung”, Dominierung durch andere Kulturformen;
  • Scheu vor Mühe und Geldausgaben bzw. Geldverwendung an „falscher Stelle” und zu Lasten eigener Möglichkeiten;
  • Angst vor Kriminalitätsanstieg, Angst wegen Übergriffen auf Kinder und Frauen;
  • Ablehnung von bekannten Zahlengrößen und scheinbar oder tatsächlich unproportionalen Standortbelegungen;
  • Wunsch nach stärkerer Festschreibung vermeintlicher oder tatsächlich sicherer Herkunftsländer.

Auf diese immer wiederkehrenden Fragen und Themen müssen wir entsprechend qualifiziert vorbereitet sein.

…und positive Einflussgrößen

Einige der positiven Einflussgrößen auf die Haltung und Meinungsbildung der Einwohner sind:

  • Persönliche Haltungen der kommunalpolitisch Verantwortlichen. Bürgermeister und Stadträte dürfen nicht „mitsummen” im Chor der Grummelnden. Die Ängste und Sorgen dürfen nicht die Federführung in diesem kommunalen Geschäftsfeld übernehmen. Lokale Bekenntnisse sind allerdings nur begrenzt wirksam.
  • Es braucht klare Ansprechpartner für die Bürgerschaft, für die Kommunen.
  • Welche „Leitpersonen” bekennen sich positiv zu einer Situation? Bekannte Persönlichkeiten und ihre Haltung tragen viel zur jeweiligen Orientierung bei.
  • Angebote von Informationen aus den bearbeitenden Institutionen sind unverzichtbar. So hat etwa das Sächsische Oberverwaltungsgericht eine Verhandlung zum Bewerberverfahren nachgestellt und stieß damit auf großes öffentliches Interesse (siehe Zwischenruf auf S. 4).
  • Einzelgespräche, die den Gruppenzwang auflösen, etwa Asylsprechstunde des OB;
  • Erkenntnis verbreiten, dass andere bereit sind zu helfen.
  • Wir können Probleme minimieren, wenn wir uns (alle) einbringen.
  • Begleitungsteams und Beratungsteams aus der Einwohnerschaft für den Betreiber bzw. den Landkreis bilden.
  • Mailadresse einrichten im Rathaus, um damit Tag und Nacht Kontakt-, Beschwerde-, Informationsmöglichkeiten zu schaffen.
  • Anerkennung Ehrenamtlicher in der Öffentlichkeit.

Aus Verunsicherten werden schnell Verunsichernde

Daneben und gleichzeitig kommen aber auch stark verunsichernde Elemente und Gründe ins Spiel:

  • Nachwirkungen der Asyl- und Zuwanderungspolitik der DDR bzw. im Hinblick auf ausländische Gastarbeiter: „ausgewählt – arbeitend – sprachgeschult – abgeschottet”;
  • weniger direkte Erfahrungen mit „Ausländern” in den ostdeutschen Bundesländern;
  • Schwächen in der technischen Abwicklung beim Land und den Kreisen (Hast, Überforderung, Gesundheitsmanagement, usw.), anders gesagt: Moral hilft wenig, sondern nur bessere Organisation. Für alle sind überschaubare Strukturen ratsamer als die bisherige Gangart;
  • Problem der validen Daten;
  • Qualitätsmanagement der Betreuung;
  • Vergleich zum eigenen Leben „gefühlt” = „mir geht es auch schlecht“;
  • „Treiber” negativer Emotionen und Auffassungen sind u. a. politisch rechtsnationale Gruppen u. a. politische „Zündler”. Ideologische „Köche” finden sich bei den Rechten, bei Pegida & Co. und bei der extremen Linken. Es wird versucht, die jeweils eigenen politischen Auffassungen und Programme mit Hilfe des Problemfeldes Asyl zu verdeutlichen und zu bewerben.
  • Wer allerdings deutsche Werte beschwört, muss auch bereit sein, sie zu leben. Dazu gehört unser humanitäres Verständnis. Dazu gehört auch der Stolz, dass ein starkes Land helfen kann. Hilfe wird gewissermaßen zum Ausweis für eigene Stärke. Gerade, weil der deutsche Staat stark ist, können wir die Aufgabe bewältigen, gerade weil wir Deutschen nicht angstbesetzt sein müssen, können wir das Problem lösen.
  • Keine für den Bürger erkennbare Verlaufs- und Zahlenstruktur der Zuwanderung; d. h. gefühlt „ohne Begrenzung, immer mehr” machen es problematisch.
  • Der Wunsch nach mehr direkter Mitbestimmung bei der Unterbringung wird angesprochen, es muss aber im Einzelfall auch schnell entschieden werden.
  • „Störfälle” in den Einrichtungen und erkennbar unzureichende Betreuung, Erfassung, Untersuchung usw. schüren Vorbehalte und diffuse Ängste. Gute Betreuung führt zur Entlastung der Asylbewerber selbst und festigt damit Vertrauen auf allen Seiten.
  • Besserer, konsequenter Umgang mit permanenten Störenfrieden wäre hilfreich.

Vieles ist auch Projektion eigener Probleme. Aus Unklarheiten und Nichtverstehen wird schnell Ablehnung und aus Verunsicherten werden schnell Verunsichernde!

Kommunikation ist wichtig, aber nicht alles

Ich konstatiere im Ganzen auch eine gestörte Politikwahrnehmung und gestörte politische Kommunikation; d. h. unverständliche Formulierungen, komplizierte, nicht übersetzte gesetzliche Bedingungen usw. tragen zum Problem bei. Wir dürfen nicht nur fachlich, sondern müssen auch politisch sprechen. Eine Erkenntnis trieb mich dennoch um, oft wurde den handelnden Politikern ihre vermeintlich unzureichende Kommunikation vorgehalten. Dies entsprach jedoch nicht immer der Wahrheit. Denn es zeigte sich sehr schnell: Kommunikation ist wichtig, aber nicht alles.

Es addieren sich in den Erfahrungen und Haltungen der Menschen auch andere Faktoren:

Mangelnde Kenntnisse der Ethnien und Religionen, im Wesentlichen wirkt das Bild der Medien; Verlust an bürgerlicher „Weltläufigkeit”; Sprachbarrieren, „Gruppenzwang” (s.a. Elias Canetti, „Masse und Macht”); zum Teil starke Vermischung eigentlich nicht zusammengehöriger Problemfelder, so etwa bei Pegida; keine bzw. verringerte Rückbindung an eigene und allgemein geltende ethische Werte; brüchige gewordene bürgerliche Fassade und Grundlage, Zentrifugalbewegungen in der Politik.

Alles geschieht natürlich im Spiegel der demografischen Entwicklung in Deutschland, in Sachsen. Ohnehin bedrängte Menschen und eine verunsicherte Gesellschaft nimmt deshalb alles Schwierige in besonderer Weise, fast seismografisch, wahr. Wenig durchdachte Bemerkungen, wie die vom baden-württembergischen Ministerpräsidenten (Anm. der Redaktion: …mehr Flüchtlinge in die ostdeutschen Bundesländer …), sind weder hilfreich noch intelligent.

Zuwanderern verdanken wir unsere historische Prosperität

Auch unterliegen wir in Sachsen, wie in Deutschland, gewissen Trends. Ich denke hier etwa an die zunehmende Regionalisierung als europäischen Trend (Schottland, Bretonen usw.). Abgrenzung und Eigenständigkeiten werden scheinbar überall wichtiger.

Auch unser eigenes Wissen über regionale und deutsche geschichtliche Gegebenheiten und Entwicklungen sind mangelhafter geworden. Uns ist verloren gegangen, dass historische Zuwanderungen an vielen Stellen Deutschland in der Vergangenheit gestärkt, ja, regelrecht profiliert haben. Dazu gehört die Einwanderung böhmischer und französischer Exilanten ebenso wie die Mitgestaltung des deutschen Wirtschaftswunders nach dem Krieg durch polnische, türkische, italienische Gastarbeiter. Heute gelingt es noch viel zu wenig, Asylbewerber in geeigneter Weise in Arbeitsprozesse zu integrieren. Gelingt es, ändert sich auch der Blickwinkel der „Außenwelt” auf den jeweiligen Bewerber. Es ist also auch immer wieder daran zu erinnern, dass wir in Sachsen, wie in Deutschland überhaupt, einen nicht unwesentlichen Teil unserer historischen Prosperität Zuwanderern verdanken. Machen wir aus dieser historischen Erfahrung eine gegenwärtige Erkenntnis. Statt sich dumpfen Parolen hinzugeben, wollen wir den besten Nutzen aus der Entwicklung ziehen. Das bedeutet auch, heraus aus der Defensive, das Positive und Vernünftige zeigen und tun.

Last, but not least: Es wird regelmäßig stark auf die Wählerstimmen geschaut. So verständlich dies ist, es hindert uns oft am konsequenten und angstfreien Handeln. Denken wir langfristiger und nachhaltiger als von Wahl zu Wahl.

Fazit

Wir kommen am Thema Migration und Zuwanderung nicht vorbei. Die deutschen Kommunen wollen und werden die Aufgabe bewältigen, wenn sie damit nicht allein gelassen werden. Es ist unsere menschliche Verantwortung, unsere kommunale Pflicht und im Übrigen auch alternativlos.

 

Christian Schramm

Oberbürgermeister a.D., Bautzen
n/a