13.02.2017

Keine Amtshaftung bei Kampfhandlungen

Auslandseinsatz der Bundeswehr: Das sog. Kunduz-Urteil des BGH

Keine Amtshaftung bei Kampfhandlungen

Auslandseinsatz der Bundeswehr: Das sog. Kunduz-Urteil des BGH

Kein Schadensersatz für die Tötung von Zivilpersonen bei Luftangriff in Kunduz. | © Zerophoto - Fotolia
Kein Schadensersatz für die Tötung von Zivilpersonen bei Luftangriff in Kunduz. | © Zerophoto - Fotolia

Am 04.09.2009 hatte ein Oberst der Bundeswehr als Kommandeur des Provinz-Wiederaufbauteams (Provincial Reconstruction Team – PRT) in Kunduz/Afghanistan einen Luftangriff auf zwei Tanklastwagen veranlasst, die von bewaffneten Taliban entführt worden waren und auf einer Sandbank im Fluss Kunduz festgesteckt hatten. Der Oberst hatte befürchtet, die Tanklastwagen würden als »fahrende Bomben« gegen das deutsche Feldlager eingesetzt. Bei diesem Luftschlag wurden Taliban, aber auch Zivilpersonen getötet. Ein gegen den Oberst eingeleitetes strafrechtliches Ermittlungsverfahren war im April 2010 durch den Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof mangels Tatverdachts eingestellt worden (Verfügung vom 16.04.2015 – 3 BJs 6/10-4). Im Oktober 2011 hatte der Verteidigungs-ausschuss des Deutschen Bundestages als Untersuchungsausschuss (vgl. Art. 45a Abs. 2 GG) seinen Abschlussbericht zum Luftangriff auf die Tanklaster öffentlich vorgestellt (BT-Drs. 17/7400).

Der Prozessverlauf

Am 01.12.2011 erhoben zwei afghanische Staatsbürger vor dem LG Bonn Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Der Kläger H. will bei dem Luftangriff zwei seiner Söhne verloren haben. Die Klägerin R. behauptet, ihr Ehemann sei bei dem Luftangriff getötet worden. Die Kläger fordern deswegen Schadensersatz von 40.000 Euro bzw. 50.000 Euro.

Das LG Bonn wies die Klage mit Urteil vom 11.12.2013 (1 O 460/11) als unbegründet ab. Die hiergegen eingelegte Berufung wies das OLG Köln mit Urteil vom 30.04.2015 – 7 U 4/14 – (Raap, in: PUBLICUS – Der Online-Spiegel für das Öffentliche Recht, Ausgabe 2015.7  zurück und ließ die Revision zum BGH zu. Der BGH hat die Revision mit Urteil vom 06.10.2016 (III ZR 140/15) zurückgewiesen. Im Folgenden die wesentlichen Ausführungen:


Wesentlicher Entscheidungsinhalt

Den Klägern steht kein unmittelbarer völkerrechtlicher Schadensersatzanspruch zu. Sie haben auch keinen Schadensersatzanspruch aus nationalem (deutschen) Recht. Das Amtshaftungsrecht (§  839 BGB i.V.m. Art.  34 GG) ist auf militärische Handlungen der Bundeswehr im Rahmen von Auslandseinsätzen nicht anwendbar. Außerdem sind – die Anwendbarkeit deutschen Amtshaftungsrechts im vorliegenden Fall unterstellt – Amtspflichtverletzungen deutscher Soldaten oder Dienststellen zu verneinen.

Keine unmittelbaren Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche aus dem Völkerrecht

Die Kläger haben keinen unmittelbaren völkerrechtlichen Schadensersatz- oder Entschädigungsanspruch gegen die Beklagte.

Es gibt nach wie vor keine allgemeine Regel des Völkerrechts, nach der dem Einzelnen bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht ein Anspruch auf Schadensersatz oder Entschädigung zusteht. Schadensersatzansprüche wegen völkerrechtswidriger Handlungen eines Staates gegenüber fremden Staatsangehörigen stehen grundsätzlich weiterhin nur dem Heimatstaat zu. Bei Verträgen auf dem Gebiet des Völkerrechts ist die Haftungsverpflichtung auf das Völkerrechtsverhältnis zwischen den betroffenen Staaten beschränkt.

Nach diesen Grundsätzen können die Kläger Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche auch nicht auf Art. 3 des IV. Haager Abkommens vom 18.10.1907 betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs oder Art. 91 des I. Zusatzprotokolls (ZP I) vom 08.06.1977 zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte stützen (vgl. auch II. Zusatzprotokoll [ZP II] vom 08.06.1977 zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer nichtinternationaler bewaffneter Konflikte). Diese Regelungen statuieren zwar ein besonderes völkerrechtliches Haftungsregime für Verstöße gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht, begründen jedoch keine individuellen Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche. Dadurch wird nur der allgemeine völkerrechtliche Grundsatz einer Haftungsverpflichtung zwischen den Vertragsparteien positiviert.

Keine Schadensersatzansprüche aus Amtshaftung

Der BGH lehnt auch einen Schadensersatzanspruch der Kläger nach §  839 Abs.  1 Satz  1 BGB i.V.m Art.  34 Satz  1 GG ab. Das nationale (deutsche) Amtshaftungsrecht finde auf Schäden keine Anwendung, die bei einem bewaffneten Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte ausländischen Bürgern zugefügt werden.

Die bislang offen gelassene Frage, ob das deutsche Amtshaftungsrecht unter der Geltung des Grundgesetzes auf Auslandseinsätze deutscher Streitkräfte im Rahmen bewaffneter Konflikte anwendbar ist, verneint der BGH nunmehr. Der nie geänderte Wortlaut von §  839 BGB und Art.  34 GG, die Normgeschichte, der daraus ableitbare Gesetzeszweck sowie systematische Erwägungen sprächen gegen eine Erstreckung des Anwendungsbereichs der Amtshaftungsnormen auf Kampfhandlungen deutscher Streitkräfte im Ausland. Einer darüber hinausgehenden richterlichen Rechtsfortbildung würde entgegenstehen, dass derart grundlegende Entscheidungen allein vom Gesetzgeber zu treffen seien.

Bei Fassung des zusammen mit dem gesamten Bürgerlichen Gesetzbuch am 01.01.1900 in Kraft getretenen §  839 BGB dachte der Gesetzgeber ersichtlich nicht daran, dass hierdurch auch Schäden durch militärische Kampfhandlungen im Ausland ersatzfähig sein sollten. Derartige Erwägungen sind in den Gesetzesmaterialien nicht dokumentiert. Nach dem traditionellen Verständnis des Amtshaftungs- und Völkerrechts stand bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs rechtlich außer Frage, dass militärische (Kriegs-)Handlungen im Ausland vom damaligen Amtshaftungstatbestand (§  839 BGB i.V.m. Art.  131 WRV) ausgenommen waren und die Folgen kriegerischer Auseinandersetzungen im »Verhältnis von Staat zu Staat« zu kompensieren waren.

Bei Erarbeitung der Vorschrift des Art.  34 GG und bei Inkrafttreten des Grundgesetzes hatte der historische Gesetzgeber weder die Aufstellung deutscher Streitkräfte noch deren Beteiligung an Kampfhandlungen im Ausland im Blick. Es kann ausgeschlossen werden, dass bei Inkrafttreten des Grundgesetzes eine Ausdehnung des Amtshaftungsrechts auf Schadensfälle im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen deutscher Streitkräfte intendiert war. Da Schäden durch militärische Kampfhandlungen im Ausland nach dem traditionellen Verständnis ohnehin nicht in den Anwendungsbereich des Amtshaftungsrechts fielen, bestand nach allem aus Sicht des damaligen Gesetzgebers keine Veranlassung, solche Militäreinsätze expressis verbis von der klassischen Amtshaftung auszunehmen.

Auch in der Folgezeit ist keine gesetzgeberische Entscheidung dahingehend erfolgt, den Anwendungsbereich der Amtshaftung auf militärische Kampfeinsätze im Ausland auszudehnen. Der Wortlaut der maßgebenden Bestimmungen des Amtshaftungsrechts ist bis heute unverändert geblieben.

Die Vorschrift des §  839 BGB ist, wie insbesondere deren Entstehungsgeschichte zeigt, auf den »normalen Amtsbetrieb« zugeschnitten, das heißt auf den Ausgleich von Schäden, die aufgrund von Amtspflichtverletzungen im Rahmen des allgemeinen und alltäglichen Verwaltungshandelns entstehen. Im Rahmen der »General-Amtspflicht« zu rechtmäßiger Amtsausübung muss ein (Verwaltungs-)Beamter den entscheidungserheblichen Sachverhalt zum Beispiel durch Anhörung der Beteiligten erforschen sowie seine Entscheidung nach Maßgabe der jeweils anwendbaren Zuständigkeits-, Form- und sonstigen Verfahrensvorschriften treffen. Über Anträge und sonstige Begehren des Bürgers ist in angemessener Zeit zu befinden. Nach §  839 Abs.  3 BGB tritt die Ersatzpflicht nicht ein, wenn der Verletzte es schuldhaft unterlassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden (Vorrang des Primärrechtsschutzes). Dies alles zeigt, dass der allgemeine Amtshaftungstatbestand für die Beurteilung militärischer Kampfhandlungen im Ausland nicht passt. Darüber hinaus kann die Entscheidungssituation eines verwaltungsmäßig handelnden Beamten nicht mit der Gefechtssituation eines im Kampfeinsatz befindlichen Soldaten gleichgesetzt werden.

Berücksichtigt man ferner, dass sich die spezifische Situationslage im Rahmen von bewaffneten Auslandseinsätzen deutlich von den rein nationalen Konstellationen, für die das Institut der Amtshaftung ursprünglich geschaffen wurde, unterscheidet, ist das völkerrechtliche Haftungsregime als eine gegenüber dem allgemeinen Amtshaftungsrecht speziellere Regelung anzusehen.

Die Werteordnung des Grundgesetzes, insbesondere die Verpflichtung aller staatlichen Einrichtungen zur Achtung der Menschenwürde und der Grundrechte sowie die Verfassungsentscheidung für die internationale Zusammenarbeit, zwingt nicht zur Ausweitung des Anwendungsbereichs der Amtshaftungsnormen auf bewaffnete Auslandseinsätze der Bundeswehr.

Wie bereits dargelegt, lässt sich keine völkergewohnheitsrechtliche Regel feststellen, nach der Einzelnen bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht ein Anspruch auf Schadensersatz oder Entschädigung zusteht. Wenn sich aus dem Völkerrecht keine individuellen Schadensersatzansprüche ableiten lassen, besteht auch keine Verpflichtung, einzelnen Personen durch Auslegung des innerstaatlichen Rechts im Lichte der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (vgl. Art. 25 Satz 1 GG) einen Schadensersatzanspruch nach nationalem Recht einzuräumen. Es lässt sich zudem keine Regel oder Vermutung dahingehend ableiten, dass ein das Völkerrecht verletzender Staat den verletzten Personen aufgrund eigenen nationalen Rechtsansprüche zu gewähren hat.

Angesichts der Fortentwicklung und Kodifizierung des internationalen Menschenrechtsschutzes nach dem Zweiten Weltkrieg besteht derzeit keine zwingende Notwendigkeit, die Einhaltung der Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts durch Gewährung eines nationalen Staatshaftungsanspruchs des Einzelnen »parallel abzusichern«. Das Völkerrecht enthält inzwischen zahlreiche Primärnormen zum Schutz der Zivilbevölkerung und »flankierende« Vorgaben zur Ahndung von Verstößen durch strafrechtliche Verfolgung und Schadensersatzleistungen auf zwischenstaatlicher Ebene (insbesondere Art. 48 ff., Art.  85 bis 91 ZP I, Art.  13 ff. ZP II). Auf nationaler Ebene gewähren die Straftatbestände des Völkerstrafgesetzbuchs zusätzlichen Schutz. Dem Grundgesetz kann auch kein Gebot entnommen werden, bei jeder Grundrechtsverletzung einen individuellen Schadensersatzanspruch zu schaffen.

Die Entscheidung des Grundgesetzes für die internationale Zusammenarbeit (Art.  23-25 GG) lässt sich nicht für die Anwendbarkeit des Amtshaftungsrechts auf bewaffnete Konflikte beziehungsweise militärische Verhaltensweisen im Ausland ins Feld führen. Sie weist vielmehr in die gegenteilige Richtung. Die Einordnung Deutschlands in friedenswahrende Systeme ist verfassungsrechtlich in Art.  24 Abs.  2 GG geschützt. Nach Art.  32 Abs.  1 GG steht die Pflege der internationalen Beziehungen dem Bund zu, wobei Trägerin der äußeren Gewalt innerhalb des Bundes grundsätzlich die Exekutive ist. Bei Anwendung des Amtshaftungsrechts auf bewaffnete Auslandseinsätze der Bundeswehr könnte es in mehrfacher Hinsicht zu Beeinträchtigungen der von Verfassungs wegen geforderten Bündnisfähigkeit Deutschlands und des außenpolitischen Gestaltungsspielraums kommen. Da bei realitätsnaher Betrachtung für die Bundesrepublik Deutschland nur Auslandseinsätze gemeinsam mit Partnerländern, insbesondere im Rahmen der NATO, in Betracht kommen, bestünde im Rahmen der Amtshaftung die Möglichkeit der Zurechnung völkerrechtswidriger unerlaubter Handlungen eines anderen Bündnispartners nach Maßgabe des §  830 BGB. Das würde nicht nur die Gefahr einer kaum eingrenzbaren (gesamtschuldnerischen) Haftung heraufbeschwören, sondern hätte auch zur Folge, dass vor den deutschen Zivilgerichten das hoheitliche Handeln eines anderen Bündnispartners inzident zu überprüfen wäre. Gerade Letzteres könnte das außenpolitische Verhältnis Deutschlands zu seinen Bündnispartnern nachhaltig belasten, zumal sich im Amtshaftungsprozess die prozessuale Notwendigkeit ergeben könnte, taktische oder strategische Überlegungen – allerdings unter dem Korrektiv des Zumutbaren – offenzulegen und Sachverhalte vorzutragen, welche jedenfalls andere Bündnispartner als geheimhaltungsbedürftig ansehen. In diesem Zusammenhang darf auch nicht übersehen werden, dass das Risiko einer kaum abschätzbaren Haftung dazu führen könnte, dass humanitär motivierte bewaffnete Auslandseinsätze der Bundeswehr reduziert oder gar gänzlich eingestellt würden. Aus Sicht z.B. der NATO-Partner, deren nationale Rechtsordnungen individuelle Schadensersatzansprüche wegen Verstößen ihrer Streitkräfte gegen das humanitäre Völkerrecht nicht vorsehen, wären die deutschen Streitkräfte aufgrund des Damokles-Schwertes der – auch gesamtschuldnerischen – Amtshaftung nur noch bedingt bündnis- und kampfeinsatzfähig.

Würde man mit Blick auf die Werteordnung des Grundgesetzes und den nach dem Zweiten Weltkrieg vermehrten Schutz des Individuums auf völkerrechtlicher Ebene die Notwendigkeit bejahen, das Amtshaftungsrecht unter Aufgabe seines traditionellen Verständnisses nunmehr auch auf bewaffnete Auslandseinsätze der Streitkräfte zu erstrecken, stünden einer richterlichen Rechtsfortbildung durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken entgegen. Denn der Gesetzgeber hat in grundlegenden normativen Bereichen die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen. Insbesondere die Begründung von Geldleistungsansprüchen mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für die öffentlichen Haushalte bleiben nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung dem parlamentarischen Gesetzgeber zur Entscheidung vorbehalten (sog. Haushaltsprärogative des Parlaments). Da die Haftungsrisiken für Schäden infolge von auch mit anderen Streitkräften zusammen geführten Kampfhandlungen vor allem bei längeren und umfangreicheren militärischen Auseinandersetzungen nicht abschätzbar wären, zumal militärische Operationen (z.B. Luft-, Raketen- oder Artillerieangriffe) massenhaft Schadensfälle hervorrufen können, bestünde die Gefahr erheblicher finanzieller Belastungen für den öffentlichen Haushalt des Bundes. Dies macht es erforderlich, die Entscheidung über die Zubilligung von Entschädigungs- und Ausgleichsansprüchen im Zusammenhang mit bewaffneten Auslandseinsätzen deutscher Streitkräfte dem Parlament zu überantworten.

Keine Amtspflichtverletzungen feststellbar

Unabhängig von der Frage der Anwendbarkeit des deutschen Amtshaftungsrechts scheitert ein hierauf gestützter Schadensersatzanspruch der Kläger nach Auffassung des BGH im vorliegenden Fall jedenfalls daran, dass im Zusammenhang mit dem Luftangriff auf die beiden von Taliban-Kämpfern entführten Tanklastwagen keine Amtspflichtverletzungen deutscher Soldaten oder Dienststellen im Sinne konkreter schuldhafter Verstöße gegen Regeln des humanitären (Kriegs-)Völkerrechts zum Schutz der Zivilbevölkerung festgestellt sind. Das Vorgehen von Oberst K. war völkerrechtlich zulässig.

Der PRT-Kommandeur Oberst K. hat alle in der konkreten Planungs- und Entscheidungssituation praktisch möglichen Aufklärungsmaßnahmen getroffen. Danach hatte er keinen (objektiven) Grund zu der Annahme, im unmittelbaren Bereich der von den Taliban entführten Tanklastwagen könnten sich neben (bewaffneten) Kämpfern auch nach dem humanitären Völkerrecht geschützte Zivilpersonen aufhalten. Es liegt somit bereits keine Amtspflichtverletzung vor. Wenn ein Soldat aus tatsächlichen Gründen einen Völkerrechtsverstoß nicht voraussehen oder vermeiden konnte, begeht er keine Amtspflichtverletzung.

Die in den Händen der aufständischen Taliban befindlichen, mit einer großen Menge Benzin beziehungsweise Dieselkraftstoff befüllten Tanklastwagen sowie die vor Ort in großer Zahl versammelten Taliban-Kämpfer durften mit militärischen Mitteln angegriffen werden.

Das humanitäre Völkerrecht verbietet Angriffe gegen die Zivilbevölkerung als solche oder einzelne Zivilpersonen (Art.  51 Abs.  2 Satz  1 ZP I, Art.  13 Abs.  2 Satz  1 ZP II). Verboten sind ferner Angriffe gegen ein militärisches Ziel, wenn der zur Zeit des Angriffsbefehls zu erwartende zivile Schaden in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil steht (Art.  51 Abs.  5 Buchst.  b, Art.  57 Abs.  2 Buchst.  a [iii] ZP I). Bei diesem Exzessverbot handelt es sich um eine spezifisch militärische Verhältnismäßigkeitsklausel, wonach Begleitschäden wie der Tod von Zivilisten nicht schon dann außer jedem Verhältnis stehen, wenn der militärische Vorteil (z.B. Schwächung der feindlichen Truppen oder ihrer Kampfmittel) nur ein kurzfristiger, nicht konfliktentscheidender ist. Neben der Verpflichtung zur Wahrung der militärischen Verhältnismäßigkeit besteht das Gebot des mildesten Mittels, das heißt Kampfmittel, die auch Zivilisten treffen können, sind möglichst schonend – unter Beachtung aller praktisch möglichen Vorsichtsmaßnahmen – einzusetzen (Art.  57 Abs.  2 Buchst.  a [ii] ZP I). Nach Art.  57 Abs.  2 Buchst.  c ZP I muss Angriffen, durch welche die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen werden kann, eine wirksame Warnung vorausgehen. Diese Verpflichtung steht allerdings unter dem Vorbehalt, dass die »gegebenen Umstände« nicht entgegenstehen. Damit trägt das humanitäre Völkerrecht insbesondere der Legitimität und militärischen Notwendigkeit von Überraschungsangriffen Rechnung.

Das allgemeine Gebot, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen (vgl. Art.  57 ZP I), besteht vor allem in einer sorgfältigen Aufklärung der (militärischen) Lage und des Gefechtsfeldes. Die den Einsatz planenden und befehlenden Stellen müssen sich um eine Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Aufklärungs- und Nachrichtenmittel bemühen, um sich über den militärischen Charakter des Ziels Gewissheit zu verschaffen (vgl. Art.  57 Abs.  2 Buchst.  a [i] ZP I).

Diese insbesondere in Art.  51 und Art.  57 ZP I niedergelegten Grundsätze gelten nicht nur bei internationalen bewaffneten Konflikten. Sie sind vielmehr auch Teil des humanitären Völkerrechts bei nicht-internationalen bewaffneten Konflikten (s. auch den Gemeinsamen Art.  3 Abs.  1 Nr.  1 Buchst. a der Genfer Rotkreuz-Abkommen vom 12.08.1949).

Bei der Beurteilung der Frage, ob ein (schuldhafter) Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht vorliegt, ist Maßstab für die einzuhaltende Sorgfalt nicht die ex post getroffene Sichtweise. Vielmehr kommt es auf die – tatsachenbasierten – Erwartungen zum Zeitpunkt der militärischen Handlung an. Dass militärische Entscheidungen in einer Gefechtssituation aus der ex ante Perspektive des Befehlshabers zu beurteilen sind, folgt bereits aus dem Wortlaut der die Zivilbevölkerung schützenden Bestimmungen des ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen. Danach kommt es bei der Planung und Durchführung eines Angriffs darauf an, ob mit Verlusten unter der Zivilbevölkerung »zu rechnen« ist (vgl. Art.  51 Abs.  5 Buchst.  b, Art.  57 Abs.  2 Buchst. a [iii], b ZP I). Die nach Art.  57 ZP I (Vorsichtsmaßnahmen beim Angriff) erforderliche Bewertung kann ein militärischer Befehlshaber nur aufgrund derjenigen Erkenntnisse treffen, die ihm bei der Planung und Durchführung des Angriffs zur Verfügung stehen. Dem Befehlshaber darf kein Vorwurf aus Umständen gemacht werden, die er weder kannte noch kennen musste, sondern die sich erst nachträglich herausstellen.

Da nach allen zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen mit der Anwesenheit von Zivilisten nicht zu rechnen war, brauchte Oberst K. auch nicht auf den Vorschlag der Kampfflugzeugpiloten einzugehen, die bei den Tanklastwagen anwesenden Personen durch eine »show of force« (Tiefflug als Warnung) zu warnen. Außerdem sprachen die konkreten Umstände gegen eine solche Warnung, weil damit zugleich das legitime militärische Ziel der Bekämpfung der anwesenden Taliban vereitelt worden wäre (vgl. Art.  57 Abs.  2 Buchst.  c Halbsatz  2 ZP I).

Offen blieb, ob die Bundesrepublik Deutschland bei bewaffneten Auslandseinsätzen der Bundeswehr unter der operativen Führung der NATO nach Art. 34 Satz  1 GG überhaupt passivlegitimiert ist.

Bewertung

Das Grundsatzurteil des BGH leistet einen wesentlichen Beitrag zur Rechtssicherheit für das Handeln deutscher Streitkräfte in bewaffneten Konflikten, indem es für durch Kampfhandlungen deutscher Streitkräfte im Ausland verursachte Schäden Amtshaftungsansprüche ausschließt. Insoweit herrscht nun Klarheit für Bundeswehrangehörige sowie für alle mit derartigen Haftungsfällen befassten Behörden und Gerichte.

Da der BGH allerdings nur über den konkreten Sachverhalt eines Luftangriffs auf Tanklaster zu entscheiden hatte, bleibt die Frage offen, in welchen sonstigen Fallkonstellationen Amtshaftungsansprüche ebenfalls grundsätzlich ausgeschlossen sind. Dies resultiert vor allem aus einer uneinheitlichen Terminologie. So spricht der BGH im Urteil sowohl von einem »bewaffneten Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte« als auch von »militärischen Handlungen der Bundeswehr im Rahmen von Auslandseinsätzen« sowie von »Auslandseinsätzen deutscher Streitkräfte im Rahmen bewaffneter Konflikte«und schließlich von »Kampfhandlungen deutscher Streitkräfte im Ausland«.

Im Ergebnis dürften daher Schadensersatzansprüche nach deutschem Amtshaftungsrecht in Auslandseinsätzen zumindest dann in Betracht kommen, wenn kein Zusammenhang mit einer Kampfhandlung besteht (z.B. schuldhaft verursachte Verkehrsunfälle bei reinen Versorgungsfahrten).

Die Rechtsprechung steht nicht der Praxis der Bundeswehr entgegen, im Rahmen von Auslandseinsätzen in Schadensfällen Zahlungen zu leisten, wenn dies aus humanitären Gründen zur Linderung akuter menschlicher Not geboten ist oder um der örtlichen Entschädigungskultur zum Schutz der eigenen Soldaten zu entsprechen.

 

Dr. Christian Raap

Ministerialrat, Rechtsabteilung des Bundesministeriums der Verteidigung
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