09.02.2017

Digitale Fernleihen von E-Books

EuGH-Entscheidung versetzt erneut die Verlagslandschaft in Aufruhr

Digitale Fernleihen von E-Books

EuGH-Entscheidung versetzt erneut die Verlagslandschaft in Aufruhr

Im deutschen Urheberrecht ist das Vermiet- und Verleihrecht äußerst reformbedürftig in  § 27 UrhG geregelt. | © Calado - Fotolia
Im deutschen Urheberrecht ist das Vermiet- und Verleihrecht äußerst reformbedürftig in § 27 UrhG geregelt. | © Calado - Fotolia

Kaum haben sich die Verlage und ihre Interessenvertreter mit der durch den EuGH und den BGH unisono zementierten Rechtslage abgefunden, dass Verwertungsgesellschaften nicht nach guter alter Tradition automatisch auch prozentual an Verlage ausschütten dürfen, sorgt der EuGH für ein neues Erdbeben.

Die Dritte Kammer des Gerichtshofs ist der Rechtsmeinung des Generalanwalts Szpunar gefolgt und hat in der Rechtssache C-174/15 am 10. 11. 2016 entschieden, dass das Verleihen elektronischer Bücher (E-Books) unter bestimmten Voraussetzungen dem Verleihen herkömmlicher Bücher gleichgestellt werden kann (Leitsatz der Pressemitteilung Nr. 123716 des Gerichtshofs der Europäischen Union).

Niederländisches Bibliotheksgesetz

Zu dieser Rechtsauffassung kam das Gericht in einem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bezirksgericht Den Haag. Die niederländische Regierung brachte ein Bibliotheksgesetz auf den Weg, wonach für digitale Fernleihen von E-Books eine nationale digitale Bibliothek geschaffen werden sollte. Dabei wurde von der Prämisse ausgegangen, dass das digitale Verleihen nicht unter die gesetzliche Ausnahme für das öffentliche Verleihwesen falle. Wie in Deutschland stellten auch in den Niederlanden öffentliche Bibliotheken E-Books über das Internet auf der Grundlage von Lizenzvereinbarungen mit den Rechteinhabern zur Verfügung. Die Gegenmeinung ging davon aus, dass das niederländische Gesetz über das Urheberrecht bereits das digitale Verleihen umfasse. Auch in Deutschland werden vergleichbare Rechtsfragen aufgeworfen.


Auslegung der Richtlinie 2006/115 (sogenannte Verleihrichtlinie)

Der EuGH hatte nach den Vorlagefragen u.a. darüber zu entscheiden, ob Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 b und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115 (die sogenannte Verleihrichtlinie) dahin auszulegen sind, dass der Begriff »Verleihen« das Verleihen einer digitalen Kopie eines Buches erfasst, wenn dieses Verleihen so erfolgt, dass die in Rede stehende Kopie auf dem Server einer öffentlichen Bibliothek abgelegt ist und es dem betreffenden Nutzer ermöglicht wird, diese durch Herunterladen auf seinem eigenen Computer zu reproduzieren, wobei nur eine einzige Kopie während der Leihfrist heruntergeladen werden kann und der Nutzer nach Ablauf dieser Frist die von ihm heruntergeladene Kopie nicht mehr nutzen kann.

Der Börsenverein und diverse Verlegerverbände gingen bis dato davon aus, dass sich der Verleih von E-Books grundsätzlich von dem eines gedruckten Buches unterscheidet. Es bestünde insbesondere die Gefahr der elektronischen Vervielfältigung und Distribution. Die bislang ausgehandelten Lizenzvereinbarungen sorgten sowohl für stabile rechtliche Rahmenbedingungen für die E-Leihe, als auch für eine angemessene Vergütung der Urheber und nicht zuletzt für einen Steuerungsmechanismus, welche E-Books wann in den Verleih kämen.

Demgegenüber forderte der Deutsche Bibliotheksverband schon im Oktober 2012 eine Aktualisierung des Urheberrechts vorzunehmen, um auch im E-Book Bereich zu fairen Lizenzvergabemodellen zu kommen. Es dürfe nicht sein, dass die Rechteinhaber eine Bestands- und Bedarfskontrolle nahezu willkürlich ausüben könnten, weil sie im digitalen Bereich frei seien, darüber zu entscheiden, ob und wann sie den Zugang zu einem Werk gewähren möchten und zu welchen Bedingungen.

Anpassung des Urheberrechtsschutzes an neue wirtschaftliche und technische Entwicklungen

Der EuGH stellt zu den Vorlagefragen fest, dass der Unionsgesetzgeber das Verleihen digitaler Kopien und unkörperlicher Gegenstände nicht vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2006/115 ausnehmen wollte. Vielmehr sei aus dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie zu folgern, dass der Urheberrechtsschutz an neue wirtschaftliche und technische Entwicklungen, wie z.B. neue Nutzungsarten, anzupassen sei. Das sei bei E-Books zweifellos der Fall.

Wiederholt weist der EuGH auf den Zweck aller Urheberrechtsregelungen hin – nämlich den Urhebern jederzeit ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten. Statt vieler sei in der Aufzählung des Gerichts ein Auszug aus Erwägungsgrund 5 der Richtlinie 2006/115 zitiert, um den Fokus der Regelung deutlich zu machen: »Um ihre Tätigkeit ausüben zu können, bedürfen Urheber und ausübende Künstler eines angemessenen Einkommens als Grundlage für weiteres schöpferisches und künstlerisches Arbeiten«.

Vor diesem Hintergrund folgt der EuGH der »dynamisch, evolutiven Auslegung« der Richtlinie durch seinen Generalanwalt (so schon Klaus Kohnen im Bayerischen Rechts- und Verwaltungsreport vom 16. 06. 2016) und sieht in dem Verleihen von E-Books ein Äquivalent zum Verleihen von Büchern in Papierform. Nur so sei dem Richtlinienauftrag, das Urheberrecht im Interesse der Urheber den technischen Entwicklungen anzupassen, Genüge getan. Nur so könne das gewollte Schutzniveau aufrechterhalten werden.

Der Deutsche Bibliotheksverband begrüßte in einer Stellungnahme vom 10. 11. 2016 die EuGH-Entscheidung. Über das Verleihen müsse nun über die Verwertungsgesellschaften an die Urheber eine Bibliothekstantieme ausgeschüttet werden. Damit seien die Rechte der Urheber gewährleistet und der E-Book-Bestand der öffentlichen Bibliotheken gesichert.

Die Folgerungen – oder: Der Teufel liegt im Detail

So weit so klar, könnte man denken, doch der Teufel liegt im Detail. Der EuGH verweist ausdrücklich darauf, dass die Richtlinie 2006/115 lediglich eine Untergrenze des Schutzes für Urheber vorgibt und die konkrete Ausgestaltung für das öffentliche Verleihwesen den nationalen Gesetzgebern überlässt. So können zusätzliche Voraussetzungen und Bedingungen geschaffen werden, wie z.B. die, dass die von einer öffentlichen Bibliothek zur Verfügung gestellte digitale Kopie eines Buches durch einen Erstverkauf oder eine andere erstmalige Eigentumsübertragung dieser Kopie durch den Rechteinhaber an die Öffentlichkeit gebracht wird.

Im deutschen Urheberrecht ist das Vermiet- und Verleihrecht äußerst reformbedürftig in § 27 UrhG geregelt. Seit der EuGH-Entscheidung wäre es kontraproduktiv, sich auf den Standpunkt zu stellen, die deutsche Regelung schließe ausdrücklich die Erstreckung des Verleihrechts auf E-Books aus, weil § 27 UrhG auf die analoge Welt von Printbüchern und körperlichen Datenträgern ausgerichtet ist. Es kann nicht rechtssicher gefolgert werden, dass eine extensiv ausgelegte Erstreckung des Regelungsgehaltes des § 27 UrhG auf E-Books dem positiv gesetzten Recht zuwiderlaufe und damit contra legem sei. Vielmehr ist § 27 UrhG unionskonform auszulegen und damit der Argumentation des  EuGH zu folgen.

Stimmen, die behaupten, man könne mit dem bisherigen Lizenzverhandlungsmodell fortfahren, bis der deutsche Gesetzgeber eine klare Reform des § 27 UrhG vorgenommen habe, die in das Verleihprivileg auch E-Books expressis verbis einschließe, sind mit Vorsicht zu genießen. Das nächste deutsche Gericht, das in einem Streitverfahren mit dem Umfeld des § 27 UrhG befasst wird, wird nicht umhinkommen, dem EuGH entsprechende Rechtsfragen vorab zur Klärung vorzulegen. Die dort erfolgende Entscheidung kann schon jetzt prognostiziert werden.

Allerdings muss darauf gedrungen werden, den § 27 UrhG rasch zu reformieren und der technischen Entwicklung unter Beachtung des Unionsrechts anzupassen. Die Gestaltungsspielräume sind erheblich und sollten im Interesse aller Beteiligten, gerade auch der Verlage, genutzt werden. Im Moment sieht § 27 UrhG lediglich die Wahrnehmung der Vergütungsansprüche durch die Verwertungsgesellschaften vor, die wiederum an die Urheber ausschütten. Den Verlagen ist über das Urheberrecht kein originärer Vergütungsanspruch eingeräumt. Sie sind nicht die Klientel des Urheberrechts und partizipieren deshalb nicht automatisch und von Gesetzes wegen.

Zu lange auf den Beistand des Gesetzgebers gewartet

Ihre Aufwendungen und Interessen müssen Verlage vielmehr über Verlagsverträge, Lizenzierungen, Abtretungen und eine rechtssichere Vertragsgestaltung mit den Urhebern sichern. Das mag ein Paradigmenwechsel sein, ist aber ein probates Mittel, aktiv einer scheinbaren Entrechtung entgegenzuwirken. Viel zu lange hat man auf den Beistand des Gesetzgebers gewartet und wurde mehrfach abgestraft.

Es ist schon viel zu viel wertvolle Zeit vergangen.

 

Professor Achim Albrecht

Westfälische Hochschule, Gelsenkirchen
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