06.02.2023

Interview mit der aus Afghanistan geflohenen Richterin Nilab D.

Ihr Name steht auf der „schwarzen Liste“ der Taliban

Interview mit der aus Afghanistan geflohenen Richterin Nilab D.

Ihr Name steht auf der „schwarzen Liste“ der Taliban

Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © emmi - Fotolia / RBV

Nilab D. war bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 Präsidentin des Familiengerichts in Mazar-i-Sharif im Norden Afghanistans und lebt heute in einem Mitgliedstaat der EU. Wir sprachen mit ihr über ihre Flucht vor den Taliban, die Bedrohungslage für Richterinnen und Richter, aber auch über positive Entwicklungen im Justizwesen Afghanistans bis zum Jahr 2021.

Zur Person

Nilab D.* (Jahrgang 1978) war bis zu ihrer Flucht aus Afghanistan Präsidentin des Familiengerichts in Mazar-i-Sharif im Norden des Landes. Ihre Richtertätigkeit übte die Mutter dreier Kinder seit 2008 auch am Jugend- und Strafgericht aus. Ihr gelang mithilfe einer europäischen Richterorganisation und des Außenministers eines EU-Mitgliedstaates zwei Tage vor der Machtübernahme der Taliban über den Flughafen von Kabul im August 2021 die Flucht nach Europa.


Prof. Dr. Harald Dörig: Wie ist die Lage für Richter nach der Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021? Wie ist die Lage für Sie, die Sie Mitglieder der Taliban als Strafrichterin zu mehreren Jahren Freiheitsstrafe verurteilt haben?

Nilab D.: Die Taliban, die ich verurteilt habe, sind jetzt frei und möchten Rache an mir üben. Ich habe Angst vor diesen Leuten. Ich weiß, dass mein Name auf einer „schwarzen Liste“ steht. Als ich noch an meinem Gericht arbeitete, erhielt ich – wie auch andere Kollegen – Briefe mit Drohungen und gleichzeitig unmittelbare Bedrohungen. Das geschah zum Beispiel im Verlauf von Gerichtsverhandlungen, die Mitglieder der Taliban betrafen. Einzelne Taliban kamen zu den Verhandlungen, um uns Richter öffentlich zu bedrohen.

Unsere Namen wurden von Beobachtern der Verhandlung aufgeschrieben, um die Namen der Richterinnen und Richter zu kennen, die derartige Urteile fällen. Als betroffene Richter wandten wir uns an höhere Instanzen, damit diesen Leuten der Zutritt zum Gericht verboten werde. Aber uns wurde mitgeteilt, man könne dagegen nichts machen. Nach der Machtübernahme der Taliban wurden einige Richter auf offener Straße von den Taliban erschossen oder sie verschwanden und niemand weiß, wo sie sind.

Dörig: Haben Sie noch Kontakt zu anderen Richterinnen aus Afghanistan? Wo sind diese jetzt?

Nilab D.: Ich habe in der Tat noch Kontakt zu ehemaligen Kolleginnen in Afghanistan. Aber diese halten sich versteckt, leben nicht mehr in ihren eigenen Häusern. Sie arbeiten nicht mehr als Richterinnen. Auch gegenwärtig gehen die Taliban von Haus zu Haus und suchen nach Personen, die als Richterinnen und Richter oder als Regierungsangestellte gearbeitet haben. Als Folge dieser gefährlichen Situation haben Richterinnen und Richter die Dokumente vernichtet, die ihre Tätigkeit nachweisen.

Die einzigen Bediensteten, die an das Gericht zurückkehren dürfen, sind das Verwaltungspersonal. Einige meiner ehemaligen Richterkollegen verstecken sich noch in Afghanistan, Männer wie Frauen. Aber das ist die Minderheit. Die meisten haben das Land verlassen, ich schätze 70 bis 80 Prozent.

Dörig: Durch wen wurden denn die bis 2021 amtierenden Richterinnen und Richter ersetzt?

Nilab D.: Die früheren Richter sind ausnahmslos durch Personen ersetzt worden, die von den Taliban aus ihrem eigenen Kreis bestimmt wurden. Die Mullahs sind also wieder zurück. Die einzigen Gerichte, die noch arbeiten, sind die Strafgerichte. Andere Gerichte wie Familien- oder Jugendgerichte haben ihre Arbeit eingestellt. Ansonsten werden noch einige Zivilsachen verhandelt wie Streitigkeiten um Häuser. Da wird dann aber sehr häufig kein Urteil gefällt, sondern es wird eine Art von Streitschlichtung durchgeführt. Wenn heute eine Frau die Scheidung anstrebt, wird ihr Haft angedroht. Die Personen, die heute als Richter agieren, verrichten ihre Aufgabe nicht gewissenhaft, sie haben keine Rechtskenntnisse.

Dörig: Wie ist Ihnen im August 2021 die Flucht aus Afghanistan gelungen?

Nilab D.: Ich habe verschiedene Richterverbände angeschrieben und um Hilfe gebeten. Als Erste hat mir Dr. Edith Zeller Hilfe angeboten, die Präsidentin der Vereinigung Europäischer Verwaltungsrichter (VEV). Durch ihren Einsatz und den eines weiteren europäischen Kollegen fand sich schnell eine europäische Regierung, die für mich und meine Familie Einreisepapiere ausstellte. Mit der elektronischen Version dieser Papiere auf den Handys fuhren wir in Richtung des Flughafens von Kabul und passierten die verschiedenen Check Points. Das war eine sehr stressige und gefährliche Aktion, und alles musste sehr schnell gehen. Der Flughafen war noch unter der Kontrolle der US Army, aber es herrschte da ziemliches Chaos. Es waren auch deutsche Bundeswehrsoldaten da.

Zwei Tage später übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Flughafen. Die versuchten, Personen an der Ausreise zu hindern. Wir verließen Afghanistan mit Militärflugzeugen aus Deutschland und Belgien. An einem Mittwoch hatten wir unseren Zielstaat in Europa erreicht – fünf Tage nach unserem ersten Kontakt mit Dr. Edith Zeller. Der Außenminister des europäischen Landes, in dem ich jetzt lebe, hat die Ausreise von mir und meiner Familie aktiv unterstützt. Und er hat mich schon zweimal in der Flüchtlingsunterkunft besucht, in der ich jetzt lebe. Er hat mir das Leben gerettet.

Dörig: Wie sind Sie Richterin in Afghanistan geworden?

Nilab D.: Ich wurde in Mazar-i-Sharif geboren und begann dort meine Tätigkeit als Richterin im Jahr 2008. Insgesamt arbeitete ich fast 14 Jahre als Richterin, immer in der gleichen Stadt. Zu jener Zeit war es schon ungewöhnlich für eine Frau, eine Richterin zu sein, denn die meisten Frauen arbeiteten in untergeordneten Positionen oder kümmerten sich um den Haushalt und die Kinder. Ich begann meine richterliche Tätigkeit an einem Jugendgericht, das für alle Streitigkeiten zuständig war, die Personen im Alter von weniger als 18 Jahren betrafen.

Schon ein Jahr nach Übernahme meiner Richterstelle wurde ich Leiterin dieses Gerichts. Diese Funktion nahm ich sechs Jahre lang wahr. Dieser schnelle Aufstieg wurde mit meinen Fähigkeiten und Qualifikationen begründet. In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass man eine Ausbildung von 18 Jahren benötigt, um Richter zu werden. Als ich meine berufliche Laufbahn begann, besaß die Mehrheit der Frauen in Afghanistan keine höhere Qualifikation, und wenige Frauen wurden Richterinnen. In der Folgezeit ergriffen jedoch mehr und mehr Frauen den Richterberuf.

Dörig: Haben Sie nach dem Jugendgericht noch an anderen Gerichten gearbeitet?

Nilab D.: Nach meiner Zeit am Jugendgericht wurde ich Richterin an einem Strafgericht, und zwar ebenfalls in Mazar-i- Sharif. Dieses Gericht entschied über Straftaten gegen die innere und äußere Sicherheit. Dieser Wechsel war üblich im Rahmen der Richterlaufbahn. Ich verlor ein wenig an Gehalt, weil ich nicht länger Leiterin eines Gerichts war. Als einzige Frau an diesem Gericht war ich gewissen Gefahren ausgesetzt. Wir wurden von den Taliban unter Druck gesetzt, ohne Schutz von der Regierung zu erhalten. Das Gericht erhielt zahlreiche Warnungen, aber glücklicherweise wurden wir nicht attackiert. Allerdings wurde ein Kollege Opfer eines Schusswechsels. Die einzigen Sicherheitseinrichtungen, die wir hatten, waren spezielle Türen, die uns vor Kugelschüssen schützten. Ich blieb zwei Jahre an dem Strafgericht.

Danach übernahm ich die Leitung des Familiengerichts. In dieser Position blieb ich, bis ich mit meiner Familie im Jahr 2021 das Land verließ. Das Familiengericht war von Anfang an etwa zur Hälfte mit männlichen und weiblichen Richtern besetzt. Entscheidungen wurden in Kammern getroffen, die mit drei Richtern besetzt waren. Gegen unsere Entscheidungen war immer Berufung zum Supreme Court möglich. Dieses nationale Höchstgericht war zur Überprüfung der instanzgerichtlichen Urteile in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht befugt. Unser afghanisches Rechtssystem wurde von Rechtsordnungen anderer Länder stark geprägt, z. B. von Ägypten sowie romanischen und germanischen Ländern. Ich möchte betonen, dass Deutschland einen wichtigen Beitrag zum Aufbau unseres Rechtssystems geleistet hat.

Dörig: Hat es bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 viele Frauen in Richterämtern gegeben?

Nilab D.: Frauen waren eine Minderheit in der Richterschaft. Aber in den letzten zehn Jahren nahm die Zahl der weiblichen Richter kontinuierlich zu. Zu Beginn meiner beruflichen Tätigkeit gab es in Mazar-i-Sharif drei Richterinnen im Vergleich zu 20–30 männlichen Richterkollegen. Die Zahl der weiblichen Richter hat sich bis zum Jahr 2021 schließlich auf 18 erhöht, während die der männlichen Richter in etwa gleich geblieben ist. Wenn man das ganze Land Afghanistan in den Blick nimmt, gab es Mitte 2021 etwa 2.000 Richter, davon 250 Frauen.

Dörig: War es ein Problem für Sie als Mutter von drei Kindern, als Richterin zu arbeiten?

Nilab D.: Ja, es war in der Tat sehr schwer, als Mutter von drei kleinen Kindern eine Richterstelle zu bekommen. Zum Beispiel musste ich in eine andere Provinz gehen (und zwar nach Kabul), um meine Ausbildung abzuschließen. Verwandte rieten mir dazu, lieber Lehrerin als Richterin zu werden. Aber ich habe mich von meinen Plänen nicht abbringen lassen. Und im Ergebnis hatten die Verantwortlichen mich zu akzeptieren aufgrund meiner exzellenten Qualifikation. Die Reaktionen von Verwandten und Bekannten waren nicht immer positiv.

Dörig: Wie ich gelesen habe, gab es im Jahr 2008 in Afghanistan 403 erstinstanzliche Gerichte, 34 Berufungsgerichte und einen Supreme Court. Stimmten diese Zahlen auch noch für das Jahr 2021?

Nilab D.: Der Supreme Court war im Jahr 2021 noch derselbe wie im Jahr 2008. Auch die Anzahl der Berufungsgerichte blieb gleich, denn in Afghanistan haben wir 34 Provinzen. Nur die Anzahl der erstinstanzlichen Gerichte hat sich vergrößert und damit auch die Gesamtzahl der Richterinnen und Richter.

Dörig: Gab es Schattengerichte der Taliban, und welche Rolle spielten sie?

Nilab D.: Ja, in einigen Teilen Afghanistans bestanden solche Schattengerichte bis zum Jahr 2021. Diese Gebiete des Landes zeichneten sich durch eine hohe Konzentration von Taliban unter der Bevölkerung aus. Diese Schattengerichte respektierten die Rechte von Frauen und Kindern nicht. Sie entschieden in zivilrechtlichen und strafrechtlichen Streitigkeiten. Die Menschen, die in den betreffenden Gebieten lebten, waren mehr oder weniger gezwungen, zu diesen Gerichten anstelle zu den staatlichen Gerichten zu gehen. Insbesondere ältere Menschen und solche mit niedrigem Bildungsgrad gingen aus eigener Initiative dorthin. Die Verfahrensregeln an diesen Gerichten waren wesentlich einfacher.

Dörig: Welche Ausbildung mussten Richter in Afghanistan absolvieren?

Nilab D.: Wie ich schon sagte, habe ich eine Ausbildungszeit von 18 Jahren zurückgelegt, zwölf Jahre Schule, vier Jahre Studium an der Sharia Law Faculty und dann zwei Jahre Referendariat an der Richterschule. Früher gab es in Afghanistan viele Richter ohne jegliche Qualifikation, aber die meisten von denen sind jetzt im Ruhestand, sodass die Zahl der nicht qualifizierten Richter stark zurückgegangen ist.

Vor dem Jahr 2008 war das Justizsystem in meinem Heimatland wenig professionell, aber seit qualifizierte Richterinnen und Richter verfügbar waren, hat sich das System verändert. Die Mullahs hatten viel Macht vor 2008. Sie bestimmten Männer ohne juristische Qualifikation zu Richtern, und zwar aus ihrem eigenen (religiösen) Umfeld. Heute ist dieses alte System zurückgekehrt.

Dörig: Hatten Sie in der Zeit vor der Machtübernahme durch die Taliban im Jahr 2021 Probleme, als Frau im Richteramt akzeptiert zu werden?

Nilab D.: Bevor die Taliban 2021 wieder an die Macht kamen, gab es Probleme mit der Sicherheit für Richter, gleichgültig ob sie Männer oder Frauen waren. Das Sicherheitsproblem resultierte aus der Präsenz der Taliban. Während der letzten Jahre gab es bei Gericht keine Diskriminierung zwischen Männern und Frauen mehr. Aber zu Beginn meiner beruflichen Tätigkeit wurde ich mit rüdem Verhalten einiger Prozessparteien konfrontiert. Das war wirklich eine schwere Zeit für mich. Ich hatte Angst, den Leuten zu erzählen, dass ich Richterin bin, und sagte einfach ich sei Lehrerin. Ich war in Sorge vor ihren Bemerkungen. Es war schockierend für sie, dass es eine weibliche Richterin gab.

Aber später wuchs die Zahl der Richterinnen, und der Druck lies nach. So gewann ich mit der Zeit den Respekt der Kollegen wie der Prozessparteien. Bis zur Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 bevorzugten mehr und mehr Menschen weibliche Richter, es gab eine echte Veränderung der Einstellungen.

Dörig: Wie geht es Ihnen jetzt und was sind Ihre Pläne für die Zukunft?

Nilab D.: Meine Familie und ich haben hier in unserem Aufnahmeland den Flüchtlingsstatus erhalten, und wir dürfen arbeiten. Ich will jetzt erst mal die Sprache des Landes lernen, in dem ich nun lebe. Dann möchte ich wieder aktiv auf rechtlichem Gebiet arbeiten, insbesondere was Frauenrechte anbelangt. Jedoch will ich mich erst mal mit der Rechtsordnung meines Aufnahmelandes vertraut machen. Ich möchte mich gerne in humanitären Projekten engagieren mit dem Ziel, anderen Frauen aus Afghanistan zu helfen. Zugleich hoffe ich, eines Tages in mein Heimatland zurückkehren zu können.

 

Anmerkungen:

* Der vollständige Name ist der BDVR-Redaktion bekannt, wird aber zur Wahrung der Sicherheit der Betroffenen nicht veröffentlicht.

Die Fragen für das Interview wurden von Prof. Dr. Harald Dörig gestellt, das Interview wurde von einem Richterkollegen auf Englisch geführt (mit teilweiser Übersetzung von Farsi ins Englische), dann von Prof. Dörig ins Deutsche übersetzt und redigiert. Die englische Originalfassung kann online unter juris.de abgerufen werden. Der Zweitabdruck erscheint mit freundlicher Genehmigung von juris, das Interview erschien zuerst in der juris-Monatszeitschrift.

Entnommen aus BDVR, 03/2022, S. 36.

 

Prof. Dr. Harald Dörig

Honorarprofessor für Rechtswissenschaften, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Vizepräsident der Europäischen Vereinigung der Asyl- und Migrationsrichter (IARMJ)
n/a