13.01.2016

Fahrradverleihsysteme im Visier der EU

Sind sie beihilferechtlich als Daseinsvorsorge zu qualifizieren?

Fahrradverleihsysteme im Visier der EU

Sind sie beihilferechtlich als Daseinsvorsorge zu qualifizieren?

Neu auf dem beihilferechtlichen Prüfungstand: öffentlich geförderte Fahrradverleihsysteme.|© Luckyboost - Fotolia
Neu auf dem beihilferechtlichen Prüfungstand: öffentlich geförderte Fahrradverleihsysteme.|© Luckyboost - Fotolia

Die Europäische Kommission überprüft zum Befremden Vieler auch die öffentliche Daseins­vorsorge auf ihre Verein­barkeit mit dem EU-Beihilferecht. Gegenstand der Prüfung sind beispielsweise die Finanzierung von Kranken­häusern und Schwimm­bädern (vgl. PUBLICUS 2015.7 S. 19), die Nutzung von Naturschutzflächen oder der Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs sowie des Breitbands (vgl. PUBLICUS 2015.9 S. 22) für die Bevölkerung in ländlichen Gebieten. Dies zielt darauf ab, die staatlichen Eingriffe in den Wettbewerb zu minimieren. In einem aktuellen Beschluss in der Sache Villo! hat die Brüsseler Wettbewerbshüterin Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Fahrradverleihsystems angemeldet und Hinweise für die EU-beihilferechtliche Bewertung solcher Systeme gegeben, insbesondere zu ihrer Einordnung als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI), die über diesen Fall hinaus interessant sind.

Fahrradverleihsysteme – das Phänomen

Beihilferechtlich ist der Bereich des Fahrradverleihs – anders als der öffentliche Personennahverkehr per Bus oder Bahn – bisher nicht aufgefallen. Die wesentliche Ursache dürfte sein, dass auf dem Markt kleine, lokale Betriebe tätig waren. Fahrradverleihsysteme, eine Weiterentwicklung des klassischen Fahrradverleihs, haben sich allerdings in den vergangenen Jahrzehnten in Europa rasant verbreitet. Weltweit soll es über fünfhundert Fahrradverleihsysteme („bike sharing systems”) geben. In zahlreichen deutschen Großstädten, aber beispielsweise auch in Brüssel, London und Paris sind sie ein neuer Bestandteil des Personennahverkehrs.

Die Fahrradverleihsysteme unterscheiden sich vom herkömmlichen Fahrradverleih insbesondere dadurch, dass die Fahrräder grundsätzlich rund um die Uhr abgeholt und abgegeben werden können und dies nicht zwingend bei einer einzigen Station, sondern an zahlreichen Punkten oder sogar im gesamten Nutzungsgebiet. Das unkomplizierte Verfahren erlaubt, die Fahrräder spontan zu nutzen. Sie sind zudem in der Regel im Vergleich zu konventionellen Fahrradverleihern recht günstig. Die Systeme werden daher von den Einwohnern vor allem für die alltägliche Fortbewegung in der Stadt genutzt, während der klassische Fahrradverleih in erster Linie auf Touristen und Ausflügler abzielt.


Finanzierung der Fahrradverleihsysteme

Fahrradverleihsysteme werden von der öffentlichen Hand direkt oder indirekt finanziell gestützt. Betreiber sind öffentliche Einrichtungen und Unternehmen oder (vom Staat subventionierte) private Unternehmen. Daneben finanzieren sich die Betreiber etwa durch Entgelte, Werbung und Sponsoring. Die staatlichen Zuschüsse werden mit dem Ziel gewährt, die Zahl der Fahrradfahrer zu erhöhen und damit ein ökologisches sowie gesundes Fortbewegungsmittel zu fördern.

In Deutschland werden die Fahrradverleihsysteme überwiegend von privaten Unternehmen (wie der Deutsche Bahn-Tochter DB Rent und Nextbike) betrieben. Der Aufbau der Systeme und der Betrieb werden in der Regel von dem Bund und den jeweiligen Städten gefördert. Ein kostendeckender Betrieb lässt sich bei den (politisch gewünschten) Nutzungsbedingungen offenbar kaum erreichen.

Kommissionsverfahren wegen der Finanzierung von Villo!

Trotz der staatlichen Zuschüsse wurde die Konzessions- bzw. Auftragsvergabe für die Verleihsysteme bisher primär vergaberechtlich geprüft. Auch der Brüsseler Fall Villo! war Gegenstand vergaberechtlicher Streitigkeiten. Das beihilferechtliche Kommissionsverfahren (SA.33078) wegen der Finanzierung von Villo!– und wegen angeblicher Vorteile durch die Nutzung von Werbeträgern – geht auf Beschwerden eines Wettbewerbers und einer anonymen Person zurück, das Unternehmen JC Decaux habe rechtswidrig staatliche Beihilfen erhalten. JC Decaux hatte von der Region Brüssel die Konzession für den Betrieb eines automatisierten Fahrradverleihsystems erhalten. Die Finanzierung des Verleihsystems war nur zu einem Teil durch Entgelte der Nutzer gesichert. Nach den Vorwürfen der Beschwerdeführer ist JC Decaux durch die Konzessionsvereinbarung ein erheblicher finanzieller Vorteil eingeräumt worden, da das Unternehmen von bestimmten Gebühren sowie Abgaben befreit ist, die Fahrradverleihstationen für Werbung nutzen kann und steuerliche Mehrbelastungen ausgeglichen werden.

Am 19. 06. 2015 hat die Kommission im Amtsblatt der EU den Beschluss veröffentlicht, ein förmliches Prüfverfahren einzuleiten. Das förmliche Prüfverfahren dient dazu, Bedenken der Kommission hinsichtlich der Vereinbarkeit einer (potenziellen) Beihilfe mit dem Binnenmarkt nachzugehen. Da die Kommission in dem Eröffnungsbeschluss bereits die wesentlichen Sach- und Rechtsfragen zusammenfassen, den Beihilfecharakter der geplanten Maßnahme vorläufig würdigen und ihre Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt ausführen muss, lassen sich die – aus Sicht der Kommission – kritischen Punkte der Beihilfemaßnahme bereits erkennen:

Die Kommission nimmt auf Grundlage ihrer Vorprüfung vorläufig an, dass die Konzessionsvereinbarung eine Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV zugunsten von JC Decaux beinhaltet. Während die Einkommen aus Werbung und Kundenentgelten keine staatlichen Mittel seien, beinhalteten der Verzicht auf Abgaben und der Ausgleich von steuerlichen Mehrbelastungen eine Übertragung staatlicher Mittel. Die Kommission hat auch klargestellt, dass durch die Zusage von öffentlich-rechtlichen Genehmigungen keine staatlichen Mittel übertragen werden. Diese kurze Klarstellung überrascht im Ergebnis nicht, hat aber für die Praxis große Relevanz, da sich die Frage in zahlreichen Konstellationen stellt.

Eine beihilferechtlich relevante Begünstigung durch den Verzicht auf Einnahmen solle auch nicht nach den Grundsätzen des Altmark-Urteils des EuGH (vom 24. 07. 2003, Rs. C-280/00) möglich sein. Nach den Altmark-Grundsätzen ist eine Ausgleichsleistung keine Beihilfe, wenn sie lediglich die Mehrkosten einer DAWI kompensiert. Die Kommission hält es zwar für unbedenklich, die Bereitstellung eines Fahrradverleihsystems als DAWI einzuordnen. Ohne staatliche Maßnahmen würde ein solches System, das den Bedürfnissen der Bürger dient, nicht zu den gleichen Bedingungen angeboten und damit auch nicht in der gleichen Intensität genutzt. Die Schwierigkeiten ergeben sich allerdings – wie so oft – bei der Festlegung und Überprüfung der Ausgleichsleistung für die DAWI (zweites bis viertes Altmark-Kriterium). Da die DAWI-Ausgleichsleistung in der Form eines Einnahmeverzichts (Verzicht auf Abgaben bzw. Ausgleich von Steuerlasten) gewährt worden sei und die Höhe des Einnahmeverzichts nicht festgestanden habe, hätte die Region Brüssel wenigstens einen Höchstbetrag festlegen müssen. Die Region Brüssel habe auch nicht kontrolliert, ob diese Kompensation für die Erbringung der DAWI notwendig gewesen sei oder JC Decaux angesichts der Erlöse (insbes. Werbeeinnahmen) überkompensiert werde. Dazu hätte JC Decaux auch bei der Buchhaltung eine transparente Kostenallokation durchführen müssen. Es ließe sich nicht ausschließen, dass von JC Decaux im Bereich der DAWI auch Kosten angerechnet wurden, die andere Tätigkeitsbereiche betrafen.

Das vierte Altmark-Kriterium (Auswahl des wirtschaftlich günstigsten Angebots) hatte im vorliegenden Fall keine erhebliche Bedeutung, da bereits eine Überkompensation nicht ausgeschlossen werden konnte. Der Nachweis, dass die DAWI am günstigsten von JC Decaux erbracht werden konnte, habe zudem nicht durch das vorangegangene Auswahlverfahren nachgewiesen werden können. Da die einzelnen Kompensationsregeln nicht in der Ausschreibung vorgesehen waren und erst im Nachgang an das Auswahlverfahren vereinbart worden seien, habe das Auswahlverfahren keinen aussagekräftigen Kostenvergleich sichergestellt.

Die Beihilfe erfüllt zudem nach der bisherigen Auffassung der Kommission nicht die Voraussetzungen des DAWI-Freistellungsbeschlusses. Nach dem Beschluss sind Beihilfemaßnahmen von der Anmeldepflicht (Art. 108 Abs. 3 Satz 1 AEUV) freigestellt, wenn sie die Kosten einer DAWI kompensieren und weitere, überwiegend formale Voraussetzungen erfüllen. Erforderlich ist unter anderem, dass ein Rückforderungsmechanismus (für den Fall der Überkompensation) vorgesehen ist. Der Konzessionsvereinbarung fehle eine dahingehende Bestimmung, wie sie auch eine Überkompensation nicht ausreichend verhindere.

Die Kommission hält die Maßnahme nach ihrer vorläufigen Bewertung für unzulässig. Sie hat die belgische Regierung daher aufgefordert, weitere Informationen vorzulegen, wie die Werbeerlöse der DAWI zugeordnet werden können und wie die Zuordnung üblicherweise im Sektor erfolgt. Innerhalb eines Monats nach der Veröffentlichung im Amtsblatt konnten zudem Beteiligte, also insbesondere Beihilfeempfänger, Wettbewerber und Berufsverbände, bei der Kommission ihre Stellungnahmen einreichen. Sollten Belgien und JC Decaux nicht die Rechtmäßigkeit der Ausgleichsleistungen nachweisen, droht eine Rückforderung der Beihilfen.

Folgen für die Praxis

Es ist zu erwarten, dass auch in anderen europäischen Ländern die Fahrradverleihsysteme auf den Prüfstand kommen. Wie dieser Fall zeigt, ist die staatliche Förderung solcher Systeme beihilferechtlich nicht unproblematisch, insbesondere wenn die Förderung mehr als nur geringfügig (sog. De-minimis-Beihilfe) ist. Auch wenn die Mitgliedstaaten und die Kommission darin übereinstimmen, dass die Förderung der Fahrradverleihsysteme einem Gemeinwohlinteresse dient, bedarf es daher einer beihilferechtskonformen Gestaltung.

Eine beihilferechtskonforme Gestaltung dürfte im Einzelfall möglich sein. Nach den DAWI-Bestimmungen und der Entscheidungspraxis der Kommission kann die öffentliche Hand durchaus kreativ sein, was die Art und Weise betrifft, wie die Kompensation gewährt wird. Auch dem Beschluss in der Sache Villo! lässt sich die Bereitschaft der Kommission entnehmen, individuelle Gestaltungsformen zu billigen. Neben „klassischen” Zuschüssen können z. B. (wie bei Villo!) über Abgaben und Steuern oder (wie in der Sache Naturschutzflächen, Entscheidung der Kommission vom 02. 07. 2009, NN8/2009) über Nutzungsrechte Ausgleichsmechanismen geschaffen werden. Trotz aller Freiheiten obliegt aber am Ende dem Mitgliedstaat nachzuweisen, dass keine rechtswidrige Beihilfe gewährt wurde. Eine Überkompensation muss ausgeschlossen sein durch die Gestaltung der Ausgleichsleistungen, eine transparente und nachvollziehbare Buchhaltung sowie geeignete Rückforderungsmechanismen.

Auch bei der Entscheidung über eine Ausschreibung sollte die öffentliche Hand die beihilferechtlichen Aspekte beachten. Dies betrifft sowohl das Ob als auch das Wie der Ausschreibung. Unabhängig davon, ob im Einzelfall eine (vergaberechtliche) Ausschreibung der Konzession entbehrlich ist (vgl. dazu nur: Beschluss der Vergabekammer Baden-Württemberg vom 25. 07. 2012, 1 VK 20/12), ist das offene Auswahlverfahren nach Auffassung der Kommission der goldene Weg, um den günstigsten Anbieter auszuwählen. Bei der Vergabe der Konzession und bei der späteren Verlängerung oder Anpassung der Konzessionsvereinbarung sollte daher geprüft werden, ob das Verfahren den beihilferechtlichen Anforderungen genügt. Sind bestimmte Voraussetzungen nicht den Ausschreibungsunterlagen zu entnehmen, so kann sich dies beim vierten Altmark-Kriterium auswirken, wonach primär ein Vergabeverfahren geeignet ist, den günstigsten Anbieter auszuwählen.

Der Brüsseler Fall Villo! zeigt, dass im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge eine beihilferechtskonforme Gestaltung möglich ist, aber oft an „technischen” Details scheitert. Die Versäumnisse führen zu langjährigen Rechtsstreitigkeiten der Wettbewerber. Die ordnungsgemäße Betrauung mit der DAWI kann dies verhindern.

 

 

Dr. Christian Wagner

Rechtsanwalt, Kapellmann und Partner Rechtsanwälte mbB, Brüssel
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