15.11.2012

Ende des Asylbewerberleistungsgesetzes?

Grundleistungen an Asylbewerber, Flüchtlinge u.a. nach BVerfG-Urteil

Ende des Asylbewerberleistungsgesetzes?

Grundleistungen an Asylbewerber, Flüchtlinge u.a. nach BVerfG-Urteil

BVerfG : Das Existenzminimum ist für alle Menschen gleich und unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. | © DOC RABE Media - Fotolia
BVerfG : Das Existenzminimum ist für alle Menschen gleich und unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. | © DOC RABE Media - Fotolia

Rund 19 Jahre nach der Neuregelung staatlicher Leistungen an Asylbewerber im Zusammenhang mit dem sog. „Asylkompromiss“ hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urt. v. 18. 07. 2012, Az.: 1 BvL 10/10; 1 BvL 2/11) die Grundleistungstatbestände des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylBlG) für verfassungswidrig erklärt und dem Gesetzgeber aufgegeben, alsbald eine mit dem Grundgesetz vereinbare Form der Leistungsgewährung auf den Weg zu bringen. Bis dahin gilt nun eine vom Gericht angeordnete Übergangsregelung, die sich an dem vom Gesetzgeber ermittelten Regelbedarf für die Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch des Sozialgesetzbuchs (Grundsicherung für Arbeitsuchende, Sozialhilfe/Grundsicherung im Alter) orientiert. Einen Verstoß gegen die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde sah der Senat darin, dass die Grundleistungen nach dem AsylBlG gegenüber denen des allgemeinen Fürsorgerechts deutlich reduziert waren und zudem einen Kreis von Personen betrafen, bei denen nicht immer von einem nur ganz kurzen Aufenthalt in Deutschland ausgegangen werden kann. Einem alleinstehenden Erwachsenen stand nach dem AsylBlG neben den Leistungen für Unterkunft, Heizung und Hausrat ein Geldbetrag von monatlich 224,97 € für die Deckung der notwendigen (z. B. Nahrung, Bekleidung, Gesundheitspflege) wie der persönlichen Bedürfnisse (z. B. Verkehr, Freizeit, Bildung) zu, wohingegen ein „normaler“ ALG-II Empfänger hierfür im Jahr 2012 einen Betrag in Höhe von 346,59 € (+ 27,41 € für Hausrat = 374 €) beanspruchen kann. Zu berücksichtigen ist, dass der derzeitige Regelsatz von 374 € auf Basis eines 2008 ermittelten Regelbedarfs in Höhe von 361,81 € infolge von Fortschreibung und Rundung festgelegt wurde, mithin um 3,37 % über dem aus Einzelpositionen zusammengesetzten Regelbedarf liegt. Der Hausratsposition entspricht im Hartz-IV-Regelsatz daher derzeit ein Betrag von 28,33 €, so dass der (ohnehin fiktive) Betrag für die übrigen Grundbedarfs­positionen eigentlich mit 345,67 € zu veranschlagen wäre.

Für die persönlichen Bedürfnisse vorgesehen waren nach dem AsylBlG 40,90 €, während dafür nach dem allgemeinen Fürsorgerecht 129,75 € (entspricht inzwischen 134,12 €) veranschlagt werden. Einem volljährigen Leistungsberechtigten wurde also nach dem AsylBlG lediglich ein um rund zwei Drittel niedrigerer Betrag für den persönlichen Bedarf zugestanden. In der Altersstufe von 15 bis 17 Jahren fiel der Unterschied noch gravierender aus: Nur etwas weniger als die Hälfte sollte einem Jugendlichen für die persönliche Lebensführung zustehen.

Geminderter Leistungsbedarf wegen kurzfristigem Aufenthalt?

Diesem Sonderfürsorgesystem mit eingeschränktem Leistungsumfang lag die gesetzgeberische Annahme zugrunde, dass Leistungsberechtigte nach dem AsylBlG typischerweise nur einen kurzfristigen Aufenthalt im Bundesgebiet vor sich haben, der in der Regel mit der Gewährung von politischem Asyl bzw. der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Konvention oder umgekehrt mit der Nichtanerkennung und der damit verbundenen Ausweisung und Aufenthaltsbeendigung begrenzt sein sollte. Wegen dieser Kurzfristigkeit des Aufenthalts ging der Gesetzgeber von einem geminderten Leistungsbedarf aus, zumal die Betroffenen in der Regel in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht und größtenteils mit Sachleistungen versorgt werden sollten. Tatsächlich wurden zuletzt aber ganz überwiegend Geldleistungen gewährt. Bei längeren Aufenthaltszeiten war hierbei die Möglichkeit vorgesehen, sog. „Analog-Leistungen“ zu erhalten, die in der Höhe den allgemeinen sozialhilferechtlichen Leistungen entsprachen.


Durch mehrere Gesetzesänderungen wurde der anspruchsbegründende Zeitraum für diese Leistungsgleichstellung indes von zwölf auf 48 Monate ausgedehnt. Er war zuletzt außerdem als Vorbezugsdauer konzipiert, d.h., wer nicht 48 Monate Grundleistungsbezug nach dem AsylBlG vorweisen konnte, kam in das „normale“ Fürsorgesystem auch dann nicht hinein, wenn sein Aufenthalt schon länger als vier Jahre angedauert hatte. Überdies hatte der Gesetzgeber den betroffenen Personenkreis über die Jahre sukzessive ausgedehnt, umgekehrt wurde aber keinerlei rechtsetzende Tätigkeit zur inflationsgemäßen Anpassung der im Gesetz noch in DM ausgewiesenen Geldbeträge entfaltet, obwohl eine Verordnungsermächtigung hierfür vorgesehen war.

Dafür galt das Sonderregime nun auch für Geduldete und Personen mit sonstigen humanitären Aufenthaltstiteln, zuletzt für ca. 150.000 Menschen, von denen sich mehr als zwei Drittel schon länger als sechs Jahre in Deutschland aufhielten.

Bereits System der Bedarsfberechnung war ungenügend

Vor diesem Hintergrund konnten die niedrigen Grundleistungen weder in ihrer Höhe noch in ihrer Begründung vor Art. 1 GG Bestand haben. Inhaltlich hat der Senat einerseits die Methodik der Bedarfsberechnung gerügt, zum anderen die gesetzgeberische Minderbedarfsannahme in ihrer konkreten Ausgestaltung als unzulässig erachtet. Im Anschluss an das „Hartz-IV“-Urteil vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1, 3, 4/09 = BVerfGE 125, 175 ff.) forderte er eine realitätsgerechte und inhaltlich transparente Bedarfsermittlung ein und kippte – dies stellt den erwarteten Teil der Entscheidung dar – die dem AsylBlG zugrunde liegende „Methode“: Der Gesetzgeber hatte 1993 die Kosten schlicht geschätzt und sich dabei auch von migrationspolitischen Erwägungen leiten lassen. Höhere Leistungsstandards, so die damalige Befürchtung, würden einen zusätzlichen Fluchtanreiz in Richtung Deutschlands setzen. Das Anliegen der damaligen Politik hatte aber gerade darin bestanden, die Zahl der Asylbewerber und die mit deren Versorgung zusammenhängenden Kosten zu senken. Neben der Bedarfsberechnung hat der Senat aber auch die Bedarfsbemessung als unzureichend angesehen. Die Menschenwürdegarantie gewährleistet das Existenzminimum in physischer und sozio-kultureller Hinsicht. Mit diesem einheitlichen Gewährleistungsanspruch kollidierte aber die Bemessung der notwendigen, d.h. physischen, sowie insbesondere der persönlichen, d.h. sozialen Bedürfnisse, denen jeweils die Annahme eines geringeren Bedarfs infolge einer besonders kurzen Aufenthaltsdauer zugrunde lag. Diese pauschale Annahme hat der Senat nun zurückgewiesen und auf die geforderten methodischen Standards verwiesen: Der Gesetzgeber muss genau darlegen, wie „sich die Aufenthaltsdauer konkret auf existenzsichernde Bedarfe auswirkt“ (Rn. 118). Überdies monierte der Senat die Festlegung des betroffenen Personenkreises. Es muss nun sichergestellt werden, dass nur jene in das spezielle Bezugsystem fallen, die sich auch tatsächlich nur kurzfristig in Deutschland aufhalten. Schließlich betont der Senat, dass migrationspolitische Erwägungen zur Rechtfertigung der verringerten Leistungen gänzlich ausscheiden müssen und bringt dies auf die beinahe apodiktische Formel: „Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“ (Rn. 121).

Unterschiedliche Bedarfe begründbar?

Welcher Spielraum bleibt nun dem Gesetzgeber bei der Neufassung der Grundleistungen nach dem AsylBlG? Ist das Sonderleistungssystem überhaupt noch zu halten? Die Übergangsregelung, die das Bundesverfassungsgericht angeordnet hat, orientiert sich an dem Gesetz, welches infolge des „Hartz-IV“-Urteils ergehen musste und auf einer Einkommens- und Verbrauchsstichprobe im Hinblick auf die unteren Einkommensgruppen beruht. Die Anwendung dieses Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes führt also zunächst zu einer weitgehenden Gleichstellung mit den ALG-II-Regelsätzen. Immerhin „für die Anfangszeit des Aufenthalts“ (Rn. 119) soll nach Auffassung des Senats die gesetzgeberische Prognose über die zu erwartende Aufenthaltsdauer zwar aus dem Aufenthaltsstatus abgeleitet werden dürfen, aber „konkrete Minderbedarfe“ müssen hier nun exakt bemessen werden (Rn. 100). Dem Gesetzgeber wird es aber schon nicht leicht fallen darzulegen, weshalb etwa der Bedarf eines Asylbewerbers für Verkehrsleistungen niedriger als jener in Höhe von monatlich 22,78 € sein soll, der den Hartz-IV-Sätzen zugrunde liegt. Der Telekommunikationsbedarf eines Flüchtlings dürfte womöglich sogar höher zu veranschlagen sein als der eines fürsorgeberechtigten Inländers. Im Hinblick auf die monetären Leistungen wird der legislative Gestaltungsspielraum daher am Ende ausgesprochen gering sein. An diesem Punkt ist daher auch Kritik am Urteil angebracht.

Die nahezu absolute Gleichstellung von Asylbewerbern und Flüchtlingen mit ALG-II-Empfängern vom ersten Tag des Aufenthalts an wirft verschiedene Fragen auf. Kann tatsächlich bei jemandem, der gerade erst ins Bundesgebiet eingereist ist, von Anfang an derselbe Teilhabebedarf am gesellschaftlichen und kulturellen Leben des Aufnahmelandes konzediert werden, wie es bei jemandem der Fall ist, der seit seiner Geburt oder zumindest seit längerer Zeit in Deutschland lebt? Und selbst wenn man eine solche Gleichstellung für rechtspolitisch begrüßenswert hält: Ist ein Anspruch auf sofortige vollständige Teilhabe am Sozial- und Kulturleben tatsächlich verfassungsrechtlich (aus der Menschenwürde) vorgegeben oder muss der Gesetzgeber nicht vielmehr berücksichtigen dürfen, dass ein neu angekommener Flüchtling kaum den gleichen sozio-kulturellen Teilhabebedarf haben wird wie jemand, der schon seit längerem tatsächlich Teil dieser Gesellschaft ist? Die „sozialen Bezüge“, die zu Recht in der Menschenwürde verortet werden (Rn. 90), hängen bei realistischer Betrachtung doch durchaus von der tatsächlichen Aufenthaltsdauer ab. Ob die Festlegung eines signifikanten sozio-kulturellen Bedarfsunterschieds zumindest für die erste Zeit des Aufenthalts allerdings vor dem Verfassungsgericht Bestand hätte, muss bezweifelt werden, zumal im Urteil auch mögliche Mehrbedarfe von Flüchtlingen angedeutet werden (Rn. 100), die eine solche Festlegung dann wieder egalisieren dürften.

Gleichstellung mit Hart IV schwierig

Die Abschaffung des Sonderregimes für Geduldete und insgesamt bei längeren Aufenthalten ist sicherlich zu begrüßen. Bei Einbeziehung aller bisherigen Leistungsberechtigten, also auch der Asylbewerber und Flüchtlinge in den ersten Monaten ihres Aufenthalts, in das Hartz-IV-System, wie es die Länder Rheinland-Pfalz, Brandenburg und Schleswig Holstein am 1. Oktober (BR-Drs. 576/12) in ihrem Entschließungsantrag im Bundesrat angeregt haben, ist allerdings einiges zu bedenken. Sollen tatsächlich Asylbewerber nach dem Grundsatz des „Förderns und Forderns“ (inkl. Mitwirkungspflichten und Leistungskürzungen bei Verstößen hiergegen), der ja auf die Integration in den Arbeitsmarkt abzielt, behandelt werden? Nach § 61 Abs. 2 des Asylverfahrensgesetzes dürfen Asylbewerber erst nach einem Jahr und nach Vorrangprüfung einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Geduldeten kann dies nach einem Jahr Aufenthalt bei Vorrangprüfung erlaubt werden, nach vier Jahren wird die Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit auch ohne Prüfung erteilt (vgl. §§ 10, 11 Beschäftigungsverfahrensordnung).

Im Raum stehende politische Forderungen zielen auf die Erwerbsermöglichung für Asylbewerber und Flüchtlinge nach bereits sechs Monaten ab. Bis zu diesem Zeitpunkt müsste das Hartz-IV-Regime also sinnvollerweise in modifizierter Weise angewandt werden. Umgekehrt könnte die Einbeziehung aller in die Grundsicherung für Arbeitsuchende eine weitergehende Aufhebung der Einschränkungen für Erwerbstätigkeiten nach sich ziehen. In jedem Fall ist mit der Streichung des Sonderregimes für Asylbewerber und Flüchtlinge unweigerlich die Frage nach dem Zugang zum Arbeitsmarkt aufgeworfen. Im Prinzip müsste ein neues Regime für die arbeitsfähigen Asylbewerber und Flüchtlinge geschaffen werden, welches neben die Regelungen für arbeitsfähige Deutsche und Ausländer mit Aufenthaltserlaubnis (SGB II) und die Hilfe zum Lebensunterhalt bzw. die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (SGB XII) träte. Ein wichtiger Gesichtspunkt sollte schließlich nicht unerwähnt bleiben: Die Überführung aller Leistungsberechtigten in das Hartz-IV-System führte auch dazu, dass sich der Bund an der Kostentragung beteiligen müsste (vgl. §§ 46, 6 b Abs. 2 SGB II), wohingegen bisher die Länder und Kommunen allein die Asylbewerberleistungen zu tragen haben (vgl. § 10 AsylBlG i.V.m. den landesrechtlichen Ausführungsbestimmungen).

 

Roman Lehner

Wissenschaftlicher Mitarbeiter Lehrstuhl für Öffentliches Recht Prof. Dr. Christine Langenfeld Georg-August-Universität Göttingen
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