15.03.2014

Ein wenig historische Milde aufbringen…

Interview mit Marion Eckertz-Höfer

Ein wenig historische Milde aufbringen…

Interview mit Marion Eckertz-Höfer

© blende11.photo - Fotolia
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Im Mai finden neben den Europawahlen in den Ländern Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Hamburg Kommunalwahlen statt.

In den Kommunalparlamenten sind Frauen nach wie vor unterrepräsentiert (siehe hierzu auch den Beitrag von Dr. Claudia Stöckle auf S. 7 ff.) – für PUBLICUS Anlass genug, mit Marion Eckertz-Höfer unter anderem über das Thema „Die Frau im öffentlichen Recht“ zu sprechen, dem sie sich bei einem Festvortrag zur Eröffnung des 40. Bundeskongresses des Deutschen Juristinnenbundes am 26. 09. 2013 mit einem erhellenden Rückblick auf die vergleichsweise doch kurze Geschichte weiblicher politischer Emanzipation gewidmet hatte. Das Gespräch führte Susanne Sonntag.

PUBLICUS: Sehr geehrte Frau Eckertz-Höfer, als Sie im Jahr 1993 zur Richterin am Bundesverwaltungsgericht gewählt wurden, waren Sie seit der Gründung des Gerichts im Jahr 1953 erst die neunte Frau am Gericht überhaupt, ganz konkret aber nur eine von fünf und bald darauf nur eine von drei. Wie viele Richter gab es damals insgesamt am Gericht und was hat sich seitdem getan?


Marion Eckertz-Höfer: 1993 gab es beim Bundesverwaltungsgericht noch fast 60 Richterinnen und Richter. Sie sagen es richtig: Damals war ich zunächst eine von fünf Richterinnen und kurz darauf eine von dreien. Als fast noch unangemessener empfand ich übrigens damals, dass der Schreibdienst des Gerichts, also fast 20 weibliche Schreibkräfte, von einem Mann geleitet wurde. Aber Sie fragten nach den Richterinnen: Deutlicher erhöht hat sich der Frauenanteil bei den Richterinnen erst in den letzten 12 Jahren. Er lag bis vor kurzem bei 28 %, womit wir unter den Bundesgerichten – nach dem Bundesarbeitsgericht – an 2. Stelle stehen. Aber derzeit erleben wir wieder einen Einbruch: Nachdem eine unserer Richterinnen Anfang des Jahres Präsidentin eines Oberverwaltungsgerichts wurde und ich pensioniert bin, ist der Frauenanteil gerade auf 25 % gesunken.

PUBLICUS: Sie haben in Ihrem Vortrag von der „wenig gleichstellungsbewussten Rechtsprechung“ des Bundesverwaltungsgerichts in den Jahren nach seiner Gründung gesprochen bzw. noch deutlicher formuliert: „Das Bundesverwaltungsgericht hat sich auf dem Gebiet der Frauengleichstellung besonders wenige Lorbeeren verdient.“ Was meinen Sie damit konkret?

Marion Eckertz-Höfer: Das Bundesverwaltungsgericht zeigte sich vielfach blind gegenüber der besonderen Betroffenheit von Frauen. Es begriff nicht oder nahm billigend in Kauf, wenn die von ihm hochgehaltene Geschlechtsneutralität unmittelbar diskriminierte oder zur Zementierung diskriminierender Strukturen führte. Ich habe das in dem von Ihnen genannten Vortrag an Hand konkreter Entscheidungen erläutert. Hier als einziges Beispiel ein 1959 entschiedener Fall: Nach dem damaligen § 265 Abs. 1 Lastenausgleichsgesetz konnte man bei Erwerbsunfähigkeit eine Kriegsschadensrente erhalten. Einem Erwerbsunfähigen war eine alleinstehende Frau gleichgestellt, wenn sie in ihrem Haushalt Kinder zu versorgen hatte. Das BVerwG entschied: Eine Ehefrau, die mit einem pflegebedürftigen Ehemann in häuslicher Gemeinschaft lebt, sei nicht „alleinstehend“ im Sinne des Gesetzes. Sie könne deshalb, auch wenn sie gleichzeitig für drei kleine Kinder zu sorgen habe, einer alleinstehenden Frau mit Kindern nicht gleichgestellt werden. Der Gesetzgeber habe ausdrücklich nur alleinstehende Frauen begünstigen wollen. Dass eine Ehefrau, die für drei Kinder und zusätzlich einen pflegebedürftigen Mann zu sorgen hatte, doch wohl erst recht an einer Erwerbstätigkeit gehindert ist – und dies war der Grund der Privilegierung von Frauen mit kleinen Kindern –, kam den Richtern offenbar nicht in den Sinn. Sie verschanzten sich hinter einem Positivismus, der die Frage „Gerecht oder ungerecht?“ nicht mehr zuließ.

PUBLICUS: Hätte ein höherer Anteil von Richterinnen die Rechtsprechung signifikant verändert?

Marion Eckertz-Höfer: „Richten Richterinnen richtiger?“ hat vor vielen Jahren Ulrike Schultz gefragt. Es lässt sich schon nicht empirisch belegen, dass Richterinnen signifikant anders entscheiden. Indessen: Jede einzelne Richterin und jeder einzelne Richter bringt in eine Kammer oder einen Senat seine Sichtweise der Dinge ein. Allerdings schaffen es – in der Rückschau betrachtet – Richterinnen und Richter doch selten, sich vom „Zeitgeist“ zu lösen. Der Zeitgeist in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg, in besonderer Weise verkörpert auch durch den Gesetzgeber, tendierte dazu, die Leidenserfahrungen von Frauen – wie beispielsweise Zwangsarbeit und Verfolgung – als deren Privatsache zu sehen. Vergleichbare Schicksale von Männern fanden demgegenüber einen wohlwollenden Gesetzgeber. Der Gedanke, Frauen in solche Kompensationsregelungen einzubeziehen, wurde abgelehnt: Das führe zu weit, das sei zu teuer. Die Rechtsprechung hat dies mitgemacht, einschließlich des Bundesverfassungsgerichts. Nein, ich glaube nicht, dass mehr Richterinnen hieran viel geändert hätten. Aber, wer weiß?

PUBLICUS: Welche Impulse hat das Bundesverfassungsgericht gegeben? Sie sprachen davon, dass auch dieses Gericht in den ersten Jahrzehnten „keineswegs jede sich bietende Gelegenheit“ genutzt habe, „die Gleichberechtigung und Gleichstellung der Frauen voranzubringen“. Aber: „Ein wenig historische Milde müssen wir schon aufbringen.“

Marion Eckertz-Höfer: Die erste große Leistung des Bundesverfassungsgerichts hierzu, das Gleichberechtigungsurteil des Jahres 1953, sollte nicht kleingeredet werden. Denn dem widersprachen fast alle damaligen Familienrechtler. Sie waren sich darin einig, dass die Gleichberechtigung von Mann und Frau allenfalls für die Sphäre des Staates durch das Grundgesetz gefordert sei: In Ehe und Familie müsse hingegen der Mann das Sagen haben. Es wurde behauptet, dass Art. 6 Abs. 1 GG dieses traditionelle Verständnis von Ehe und Familie verlange. „Naturrecht“ oder gar die „Natur“ selbst wurde ins Feld geführt! Dem unmissverständlich entgegengetreten zu sein, ist ein bleibendes Verdienst des BVerfG. Dies insbesondere auch in den Entscheidungen zum Stichentscheid des Vaters, zur männlichen Erbfolge in bäuerlichen Betrieben, zur unterschiedlichen Behandlung im Steuerrecht u. a.m. Aber das BVerfG ließ es beispielsweise geschehen, dass der Gesetzgeber Männer für kriegs- oder verfolgungsbedingtes Leid entschädigte, aber Frauen mit ihren ganz spezifischen kriegs- oder verfolgungsbedingten Schicksalen alleinließ. Dem BVerfG fehlte damals wohl noch eine dafür passende Dogmatik. Es gab noch keine sozialstaatskonforme Auslegung. Kompensatorische Bevorzugungen waren der klassischen Gleichheitsdogmatik fremd. Die neue Linie des BVerfG begann hier – noch etwas unbeholfen – vor allem mit der Rentenalterentscheidung aus dem Jahr 1987 und erreichte einen Höhepunkt in der Nachtarbeitsverbotsentscheidung von 1992. Letztere machte die Zustimmung des konservativen Lagers zur Ergänzung des Art. 3 Abs. 2 GG durch seinen nunmehrigen zweiten Satz erst möglich: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“

PUBLICUS: Mit Ihrem Thema „Die Frau im öffentlichen Recht“ sprechen Sie letztlich die Partizipation der Frauen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens an. Die Repräsentanz in den kommunalen Parlamenten gehört zweifelsohne dazu. Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass Frauen in diesen Gremien nach wie vor unterrepräsentiert sind?

Marion Eckertz-Höfer: Da gibt es viele Gründe. Nicht wenige sind sehr individuell. Eines der Probleme politischer Betätigung ist sicher, dass Wähler wie Wählerinnen und Medien davon ausgehen, dass Politiker und Politikerinnen unbegrenzt zeitlich verfügbar sein müssen. Viele Frauen, gerade die mit Familie, können und wollen nicht diesem Bild entsprechend „funktionieren“. Einige Kommunalvertretungen achten aber inzwischen durchaus auf mehr Familienfreundlichkeit ihrer Arbeit, sei es durch Angebote von Kinderbetreuung für ihre Kommunalvertreterinnen oder durch familienfreundlichere Sitzungszeiten. Es kommt aber hinzu, dass die Parteien immer noch zu wenige Frauen auf aussichtsreiche Listenplätze setzen – mit ein paar wenigen Ausnahmen.

PUBLICUS: Ein Autor dieser Ausgabe kritisiert in seinem Beitrag den neuen § 29 Absatz 2 des Kommunalwahlgesetzes Rheinland-Pfalz (S. 9 ff.), durch den „sich der eine oder andere noch unsichere und unentschlossene Wähler dazu verleiten lassen könnte, im Sinne der von den Regierungsparteien gewünschten Richtung ‚frauenorientiert’ zu wählen“. Hat er Recht, wenn er sagt: „Nur dann, wenn der Bürger in einer öffentlich ausführlich geführten Diskussion davon überzeugt wird, dass gesellschaftliche Unebenheiten angegangen werden müssen, ist er auch bereit, von sich aus hierzu seinen Beitrag zu leisten, der dauerhaft die Gesellschaft weiterentwickelt.“

Marion Eckertz-Höfer: Viel mehr als ihre Stimmabgabe haben die Wähler ja meist nicht. Daher: Warum nicht gleich mit der Stimmabgabe „gesellschaftliche Unebenheiten“ angehen? Wenn dies damit befördert werden könnte, dass auf dem Stimmzettel einschlägige Rechtsnormen und Daten und Fakten zum Frauenanteil in der Vertretungskörperschaft und der Wahlvorschläge mitgeteilt werden, warum nicht? Dass dies – wenn es so geschieht, wie vom Autor geschildert – eine verfassungswidrige Beeinflussung der Freiheit der Wahl sein soll, wie behauptet, erscheint mir als völlig abwegig. Vergleicht man die rheinland-pfälzische Regelung mit dem französischen Parité-Gesetz – das zu einem Frauenanteil von ca. 47 % in französischen Kommunen geführt hat –, so fällt ja gerade das Fehlen jeden staatlichen Zwanges auf. Es geht Rheinland-Pfalz erkennbar nur um Aufklärung. Den Wählerinnen und Wählern wird per Erinnerung an Fakten, also in überaus sachlicher Form, letztlich das Motto der Aufklärung nahe gebracht: Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen! Wer schon dies für verfassungswidrig erklärt, hat jeglichen Maßstab verloren.

PUBLICUS: Lassen wir kurz Revue passieren: Ende des 19. Jahrhunderts gab es für Frauen noch ein politisches Versammlungsverbot, sodass sozialdemokratisch gesonnene Frauen damals „Leseabende für Frauen zum Lesen von Dramen mit verteilten Rollen“ veranstalteten, um sich treffen zu können. Das Reichswahlgesetz mit dem allgemeinen aktiven und passiven Wahlrecht für Frauen trat erst vor etwa 96 Jahren am 30. November 1918 in Kraft. Damit konnten am 19. Januar 1919 Frauen in Deutschland zum ersten Mal reichsweit wählen und gewählt werden. Zwei Jahre später hieß es dann, mit der Zulassung von Frauen zum Richteramt würde der Rechtsprechung das Grab gegraben. So gesehen sind wir doch schon ganz schön weit gekommen, oder!?

Marion Eckertz-Höfer: Ja und nein. Als ich vor mehr als 25 Jahren in der Frauenpolitik begann, war es für Frauen fast leichter, Ministerin als Referatsleiterin zu werden! Ein wenig davon haben wir auch heute noch. Eine Bundeskanzlerin, etliche Ministerpräsidentinnen, viele Ministerinnen auf Bundes- und Landesebene – das ist schon ein Fortschritt. Aber wenn wir in die Leitungsebenen der Ministerien schauen: Abteilungsleiterinnen und Staatssekretärinnen sind immer noch in der Minderzahl. Noch krasser aber in der Privatwirtschaft: Bei den Vorständen der Dax-Unternehmen liegt der Frauenanteil immer noch bei unter 10 %. Der Fortschritt ist und bleibt eine Schnecke, wie man sieht.

PUBLICUS: Welchen Beitrag sollen/können Gesetzgebung und Rechtsprechung künftig zur Förderung der politischen und gesellschaftlichen Teilhabe von Frauen leisten?

Marion Eckertz-Höfer: In erster Linie ist die Gesetzgebung gefragt. Sie ist zur Gestaltung legitimiert. Die Rechtsprechung fungiert da mehr als Reparaturbetrieb. Gesetze können auch, allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz, durchaus wirkungsvoll sein. So haben Frauenfördergesetze des Bundes und der Länder ein neues Bewusstsein für die Gerechtigkeit unter den Geschlechtern im Arbeitsleben der öffentlichen Dienste geschaffen. Für die Privatwirtschaft fehlt so etwas. Heide Pfarr und andere haben schon vor längerer Zeit einen Gesetzesentwurf für die Gleichstellung in der Privatwirtschaft unterbreitet, der nur hervorgeholt werden müsste. Sicherlich ist auch anzustreben, den Frauenanteil in den kommunalen Vertretungsorganen wie auch in den Parlamenten von Bund und Land weiter zu erhöhen. Wir sollten über eine Art Parité-Gesetz, wie uns dies unsere französischen Nachbarn auf kommunaler Ebene erfolgreich vormachen, zumindest nachdenken. Die Parteien könnten hier auch vieles per Selbstverpflichtung erreichen. Die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die ja den Satz 2 in Art. 3 Abs. 2 GG inzwischen positiv aufgenommen hat, lässt hoffen, dass die Rechtsprechung der Fachgerichte sich auf diesem Feld nicht als Bremser begreift.

PUBLICUS: Wir wünschen Ihnen für die Zukunft alles Gute und danken für das Gespräch!

Hinweis der Redaktion: Ein Interview mit Frau Marion Eckertz-Höfer über berufliche Schwerpunkte und Anliegen, über Abschied und eine neue Aufgabe als Deputy Judge des Administrative Tribunal der OECD lesen Sie in der AprilAusgabe des „Wirtschaftsführers für junge Juristen„, zu beziehen über den Verlag.

 

Marion Eckertz-Höfer

Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts a.D.
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