11.04.2024

Die Fachgerichte an der Weiche zwischen EuGH, BVerfG und LVerfG

Handlungsoptionen im konkreten Normenkontrollverfahren

Die Fachgerichte an der Weiche zwischen EuGH, BVerfG und LVerfG

Handlungsoptionen im konkreten Normenkontrollverfahren

Der 20. Deutsche Verwaltungsgerichtstag findet vom 15. bis 17. Mai 2024 statt.
Der 20. Deutsche Verwaltungsgerichtstag findet vom 15. bis 17. Mai 2024 statt.

Die konkrete Normenkontrolle ist ein Zwischenverfahren. Sie überantwortet Streitsachen nicht insgesamt der nächsten Instanz. Vielmehr löst sie Fragen nach Gültigkeit oder Anwendbarkeit einschlägiger Rechtsgrundlagen aus dem Prozess heraus, der nach ihrer Vorabklärung fortgesetzt wird. Zum Einsatz kommt sie dann, wenn sich das zuständige Gericht in einer Situation wiederfindet, in der es glaubt, von einer Norm zu einer Entscheidung geführt zu werden, die ihm höherrangiges Recht untersagt.

Dieser Beitrag widmet sich der Frage, was geschieht, wenn der Richter im Anwendungsbereich des Unionsrechts ein Gesetz anwenden soll, das in seinem Verständnis gegen Grundrechte verstößt. Sowohl die Landesverfassungen als auch das Grundgesetz und das Recht der EU enthalten Grundrechtskataloge. Deren Schutzgehalte sind zwar nicht kongruent, die Schnittmengen aber groß. Gleichzeitig korrespondiert mit jedem der Kataloge ein Normenkontrollverfahren: Art. 100 Abs. 1 GG sieht die konkrete Normenkontrolle zum BVerfG vor. Auch in den Landesverfassungen finden sich entsprechende Verfahren. Daneben tritt mit Art. 267 AEUV das Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH, das als Normenkontrolle genutzt werden kann.

Davon ausgehend soll der Blick zunächst auf die hergebrachte Zuständigkeitsverteilung zwischen LVerfG, BVerfG und EuGH gerichtet werden (I.). Mehrfachzuständigkeiten sind dabei an der Tagesordnung (II.). Das evoziert die Fragen, ob das BVerfG Normenkontrollen am Maßstab des Unionsrechts vornehmen könnte, und was für landesverfassungsgerichtliche Kontrollverfahren gilt (III.). In jedem Fall kommt der Fachgerichtsbarkeit eine zentrale Weichenfunktion im Europäischen Verfassungsverbund zu (IV.).


 

I. Zuständigkeitsverteilung in der Normenkontrolle

Art. 100 Abs. 1 GG dient der Überprüfung von Gesetzen am Maßstab des Grundgesetzes. Wollen die Fachgerichte ein formelles nachkonstitutionelles Gesetz wegen eines Verstoßes gegen die Verfassung außer Betracht lassen, ist vorab Karlsruhe mit der Angelegenheit zu befassen. Zumindest bislang war dabei geklärt, dass eine Vorlage – abgesehen von den (bundes-)verfassungsgerichtlichen Kontrollvorbehalten – nicht mehr in Betracht kommt, wenn unionsrechtliche Vorgaben dem deutschen Gesetzgeber keinen Spielraum mehr belassen haben (BVerfGE 118, 79 [95 ff.]). Eine Grundrechtsprüfung ist vielmehr nur dort möglich, wo der nationale Gesetzgeber bei Umsetzung des Europarechts eigene Wahlmöglichkeiten hatte.

Mit und ohne Umsetzungsspielraum steht der EuGH im unionsrechtlichen Kontext gemäß Art. 267 AEUV als weiterer Adressat zur Verfügung. Im Vorabentscheidungsverfahren können einerseits Fragen zur Vereinbarkeit des Unionsrechts mit Unionsgrundrechten, andererseits aber auch Vereinbarkeitsfragen, die sich auf nationales (Bundes- oder Landes-)Recht beziehen, vorgelegt werden. Letztere Fragen werden unter abstrahierender Umschreibung des Vorlagegegenstandes als Auslegung des Unionsrechts akzeptiert („Ist das Unionsrecht dahin auszulegen, dass es einer Bestimmung wie der folgenden entgegensteht?“). Hingewiesen sei darauf, dass das EuG auch nach der kommenden Satzungsänderung gemäß Art. 50b EuGH-Satzung n.F. weiterhin keine Vorlagefragen mit Grundrechtsbezug bearbeiten wird.

Zweifelt ein Gericht (im Umsetzungsspielraum) gleichermaßen an der Vereinbarkeit eines Gesetzes mit Unionsrecht und Grundgesetz, entscheidet es in den Worten des BVerfG „nach eigenen Zweckmäßigkeitserwägungen […], welches Zwischenverfahren es zunächst einleitet“ (BVerfGE 116, 202 [215]). Auch der EuGH befindet, die Reihenfolge sei „Sache des innerstaatlichen Gerichts“, nationales Recht dürfe lediglich kein zwingendes Vorverfahren festschreiben (EuGH, C-348/89 Rn. 49). Die Entscheidungserheblichkeit einer Zweitvorlage entfällt dabei, wenn die betreffende Norm vom BVerfG für nichtig erklärt wurde und (zumindest für den laufenden Prozess) regelmäßig auch, wenn sich aus der Antwort des EuGHs ihre Unanwendbarkeit im Anwendungsbereich des Unionsrechts ergibt.

Ähnliches gilt im Fall von Landesrecht: Stellt sich eine Frage des Grundrechtsschutzes (wie zumeist) sowohl nach dem GG als auch nach der Landesverfassung, entscheidet allein das vorlegende Gericht, in welcher Reihenfolge es die Fragen vorlegt (BVerfGE 17, 172 [179]). Ebenso kommt die Vorabentscheidung zum EuGH bei vermuteten Verstößen gegen Unionsgrundrechte in Betracht.

II. Ausbreitung der Mehrfachzuständigkeiten

Der vom EuGH im Laufe der Jahre interpretativ erweiterte Anwendungsbereich des Unionsrechts begünstigt solche Mehrfachzuständigkeiten. Ausgangspunkt dieser These ist Art. 51 Abs. 1 GRCh, wonach die Grundrechtecharta bei sämtlichen Handlungen der Unionsstellen sowie gegenüber den Mitgliedstaaten bei Durchführung des Rechts der Union zur Anwendung kommt. Dafür genügte dem Gerichtshof in der Rs. Åkerberg Fransson (2013) ein mittelbarer Bezug einer mitgliedstaatlichen Rechtsnorm zu den Unionsinteressen. Später betonte er in der Rs. Siragusa (2014), jedenfalls ein hinreichender Zusammenhang von einem gewissen Grad sei erforderlich. In der Rs. ASJP (2018) hielt der Gerichtshof fest, die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV beanspruche auch in Fällen Geltung, die nicht als Durchführung des Unionsrechts i.S.d. GRCh eingeordnet werden können. Vielfach wird diese Entscheidung dahingehend verstanden, dass der EuGH eine umfassende Kontrolle mitgliedstaatlicher Aktivität am Maßstab der Werteklausel des Art. 2 EUV für sich reklamiert, die auch im Gewand der Normenkontrolle erfolgen kann.

Dazu kommt, dass der EuGH nationalen Gerichten einen breiten Einschätzungsspielraum bzgl. der Erforderlichkeit einer Vorlagefrage einräumt (EuGH, C-306/20 Rn. 42 ff.). Er akzeptiert beispielsweise auch Fragen aus Rechtsbereichen, in denen der mitgliedstaatliche Gesetzgeber sich entschieden hat, Bestimmungen des Unionsrechts für anwendbar zu erklären.

III. Deutsche Normenkontrolle am Maßstab des Unionsrechts

Die insbesondere auf die weitreichende Zuständigkeitsinterpretation des EuGHs gegründeten Mehrfachkompetenzen könnten noch häufiger werden, sollte sich das BVerfG künftig entschließen, seine Entscheidungen zum „Recht auf Vergessen“ auf die konkrete Normenkontrolle zu übertragen, um so seine eigene Rechtsprechungshoheit zu behaupten.

Mit dem Entscheidungspaket aus Recht auf Vergessen I und II von Ende 2019 erweiterte Karlsruhe seinen Prüfungsmaßstab in der Verfassungsbeschwerde um die Unionsgrundrechte. Seitdem ist in unionsrechtlich vollharmonisierten Bereichen auch eine Prüfung der GRCh (Recht auf Vergessen II) möglich, während eine solche Prüfung bei Teilharmonisierung, im Sinne eines doppelten Grundrechtsschutzes im Spielraum, in Betracht kommt, sollte der unionale Schutzstandard ausnahmsweise über das Grundgesetz hinausweisen (Recht auf Vergessen I). Dies gilt, weil im Bereich der Vollharmonisierung anderenfalls keine Grundrechtskontrolle vor dem BVerfG stattfinden könnte (Solange II), während die direkten Zugangsmöglichkeiten zum EuGH begrenzt sind.

Eine Übertragbarkeit auf Verfahren der konkreten Normenkontrolle wird seitdem kontrovers diskutiert. Die besseren Gründe sprechen gegen eine solche Ausweitung. Die materiell-rechtliche Bindung an die GRCh muss prozessual nicht zwingend von einem Normenkontrollverfahren begleitet werden. Denn die Rechtsschutzlücke, die das BVerfG für die Verfassungsbeschwerde ausmacht, existiert im Fall der konkreten Normenkontrolle nicht. Vielmehr besteht umgekehrt ein Überangebot an Kontrollverfahren. Bei Spielräumen des nationalen Gesetzgebers stehen mit der konkreten Normenkontrolle zum BVerfG, ggf. zum LVerfG, und dem Vorabentscheidungsverfahren drei Optionen zur Verfügung. Ist der nationale Richter von einem Konflikt mit unmittelbar anwendbarem Unionsrecht überzeugt, muss er diesen ohnehin durch unmittelbare Nichtanwendung des betreffenden nationalen Gesetzes auflösen (Simmenthal II). Die Vorlagepflicht zum BVerfG oder LVerfG ist dann unionsrechtlich ausgeschaltet. Ohne einen Spielraum des nationalen Gesetzgebers verbleibt die Möglichkeit der Vorlage zum EuGH, sodass es auch hier nicht erforderlich ist, dass die GRCh Einzug in mitgliedstaatliche Verfahren hält. In diesem Fall, der darauf hinausläuft, dass das nationale Gericht einen Unionsrechtsakt außer Betracht lässt, ist ein Vorabentscheidungsverfahren sogar zwingend (Foto-Frost). Auch das BVerfG hat in seiner späteren Rechtsprechung betont, dass sich die Prüfungsmöglichkeit aus Recht auf Vergessen II auf die Anwendung innerstaatlicher Vorschriften, die zwingendes Unionsrecht umsetzen, bezieht, nicht auf die Vorschriften selbst (1 BvR 895/16).

Ähnliche Fragen nach dem Prüfungsmaßstab der konkreten Normenkontrolle stellen sich auch den Landesverfassungsgerichten. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof betont dabei in ständiger Rechtsprechung, er habe noch nicht entschieden, ob er einen offenkundigen und schwerwiegenden Widerspruch bayerischen Landesrechts gegen das Unionsrecht als Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip werten würde. Auch hier sprechen die besseren Argumente gegen eine Ausweitung des Prüfungsmaßstabs.

IV. Fazit: Die Fachgerichtsbarkeit am Stellwerk

Die Bandbreite fachgerichtlicher Handlungsmöglichkeiten zum Grundrechtsschutz lässt sich wie folgt zusammenfassen:

  1. Bei Gesetzen ohne Unionsrechtsbezug ist die konkrete Normenkontrolle zum BVerfG verpflichtend, im Fall von Landesrecht ggf. auch zum jeweiligen LVerfG.
  2. Bereits bei begründbarer Nähe zum Unionsrecht (etwa bei überschießender Umsetzung) besteht eine alternative Vorlagemöglichkeit zum EuGH, die ggf. die Entscheidungserheblichkeit einer Kontrolle durch BVerfG oder LVerfG entfallen lässt.
  3. Im Anwendungsbereich des Unionsrechts bestehen zur Kontrolle verbleibender mitgliedstaatlicher Spielräume auf die jeweiligen Grundrechtskataloge beschränkte Vorlagemöglichkeiten zum BVerfG und ggf. zum LVerfG. Die Vereinbarkeit mit Unionsgrundrechten kann im Wege der (abstrahierenden) Vorabentscheidung vom EuGH festgestellt werden. Bei Überzeugung von einem Konflikt mit unmittelbar anwendbarem Unionsrecht ist die Norm weitergehend außer Betracht zu lassen, wobei das genaue Verhältnis zur nationalen Normenkontrolle in solchen Fällen ungeklärt ist.
  4. Im Anwendungsbereich des Unionsrechts ohne Spielraum besteht eine Vorlagepflicht ausschließlich zum EuGH.

Führt man sich neben den bislang angeführten Mehrfachzuständigkeiten zusätzlich vor Augen, dass die Frage nach dem Bestehen von Spielräumen regelmäßig nicht eindeutig zu beantworten sein wird und ihrerseits zur Vorlagefrage werden kann, zeigt sich die Komplexität des multiplen Grundrechtsschutzes im Mehrebenensystem bereits vollständig ab der ersten Instanz.

Die Konfliktlage lässt sich nicht abschließend auflösen. Hilfreich mag es sein, bei der Weichenstellung zu bedenken, dass sich Grundrechtskataloge in ihrer Abstraktheit zwar ähneln, sich in der konkreten Rechtsanwendung aber unterschiedlich entwickeln können. Nachdem die einheitliche Interpretation des Rechts zentrales Anliegen sämtlicher Normenkontrollen ist, liegt im Anwendungsbereich des Unionsrechts eine Vorlage zum EuGH als Gericht mit dem weitreichendsten Zuständigkeitsbereich nahe. Aus denselben Gründen sollte die unmittelbare Nichtanwendung in Grundrechtsfragen die Ausnahme bleiben. Gleichzeitig spricht wenig dafür, eine Streitigkeit bei bloß abstraktem Unionsrechtsbezug aus dem nationalen Rechtsrahmen zu lösen. Bestimmendes Anliegen aller funktionalen Unionsgerichte muss es sein, die Kommunikationsbedingungen der Höchstgerichte in Verfassungsfragen auch ohne rechtsverbindliche Vorgaben sicherzustellen.

Das Kooperationsverhältnis zwischen EuGH und BVerfG wird neben weiteren aktuellen Themen Gegenstand des 20. Deutschen Verwaltungsgerichtstags sein, der vom 15. bis 17. Mai 2024 in Würzburg stattfindet und auf den dieser Beitrag aufmerksam machen möchte. Weitere Informationen, insbesondere zum Programm, finden Sie unter  https://www.verwaltungsgerichtstag2024.de./

Anmeldeschluss ist der 15. April 2024.

 

Dr. Tobias Pascher

Richter, Bayerisches Verwaltungsgericht Würzburg
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