10.11.2016

Deckelung der Ausgleichsmandate?

Wahlrechtsreform drängt: Wahlsystem intransparent

Deckelung der Ausgleichsmandate?

Wahlrechtsreform drängt: Wahlsystem intransparent

Wieviel Abgeordnete sitzen im Berliner Parlament? | © sds_93 - Fotolia
Wieviel Abgeordnete sitzen im Berliner Parlament? | © sds_93 - Fotolia

Im Wahlrecht geht es drunter und drüber. Das hat sich inzwischen herumgesprochen. In den Bundestag sind ursprünglich 631 Abgeordnete eingezogen. Es gibt regulär aber nur 598 Sitze im Berliner Parlament. Und um das Maß voll zu machen, sind insgesamt nur 299 Wahlkreise vorhanden. Hier passt also gar nichts mehr zusammen. Bei der Wahl sind 4 sog. „Überhänge” entstanden, jeweils einer in Thüringen, in Brandenburg, in Sachsen-Anhalt und im Saarland. Alle bei einer Landespartei der CDU. Diese 4 „Überhänge” wurden ausgeglichen, aber nicht durch 4 sondern durch 29 nachgeschobene Ausgleichsmandate. Der Ausgleich übersteigt den Überhang um mehr als das Siebenfache. Vom Ausgleich gingen 13 Sitze an die CDU, 10 an die SPD, 4 an die Linken und 2 an die Grünen. Die CSU ging leer aus.

Bei der Bundestagswahl 2009 gab es nicht 4, sondern 24 „Überhänge”. Der Bundeswahlleiter hatte dazu eine Musterrechnung erstellt und kam zu dem Ergebnis, dass im Bundestag 671 Abgeordnete sitzen würden, wenn damals schon das 22. Wahlrechts-Änderungsgesetz gegolten hätte, unter dem die Bundestagswahl v. 22. 09. 2013 abgehalten wurde. Bundestagspräsident Prof. Norbert Lammert, MdB, wurde es daher unheimlich. Schon in seiner Antrittsrede nach seiner Wiederwahl am 22. 10. 2013 verlangte er von den 631 Abgeordneten des Hohen Hauses ohne jede Schamfrist eine Reform von der jüngsten Reform, die gerade mal ein halbes Jahr alt war, und wiederholte das einen Tag danach vor der Presse.

Mindestanforderungen nicht erfüllt


Auch danach kam Lammert nicht aus den Schlagzeilen heraus. In einem Interview mit dem politischen Magazin „Cicero” (3/2015) sagte er: „Unser Wahlrecht ist derart kompliziert, dass nur ein Bruchteil der Wähler eine zutreffende Vorstellung über die Wirkungsweise seines Stimmverhaltens für die Mandatsverteilung hat. Damit sind die Mindestanforderungen an die Transparenz eines Wahlsystems nicht erfüllt.” Gegenüber der „Welt am Sonntag” v. 02. 08. 2015 doppelte er mit der Äußerung nach: „Nicht einmal ein Handvoll Abgeordneter des Deutschen Bundestags ist in der Lage ‚unfallfrei’ die Mandatsverteilung zu erklären.” Allein der Umstand, dass die Wähler am Wahltag nicht wüssten, wie viele Abgeordnete sie wählen, sei Grund genug für eine Reform. In der Abendzeitung v. 29. 12. 2015 stellte er die Frage: „Wie viele Abgeordnete zählt der Bundestag nach der Wahl 2017: 600, 630 oder mehr?” Das könne derzeit niemand sagen, denn durch Überhang- und Ausgleichsmandate verändere sich die Zahl der Abgeordneten.

Schließlich berichtete „DER SPIEGEL”, (Ausg. 8/2016 v. 20. 02. 2016), Lammert habe die Vorsitzenden der Fraktionen zu einem Gespräch darüber eingeladen, wie man mit gesetzgeberischen Mitteln eine ausufernde Zahl der Abgeordneten vorsorglich begrenzen könne. Geschehen ist nichts. Auch Kauder ließ Lammert im Regen stehen. Daraufhin ergriff der Bundestagspräsident selbst die Initiative und legte von sich aus einen Gesetzesvorschlag zur Deckelung der Mitgliederzahl des Bundestages vor. Gebracht hat ihm das nichts. Die Fraktionen zeigten keinerlei Neigung, dies in die Tat umzusetzen. Der alten römischen Tugend „sperare contra spem” folgend hat Lammert aber nicht aufgegeben, sondern im September 2016 angekündigt, einen zweiten Anlauf zur Begrenzung der Abgeordnetenzahl im Bundestag herbeizuführen. 630 Mitglieder des Hohen Hauses seien genug. Auch das versandete zwischen Ebbe und Flut des politischen Geschehens.

Auf die Idee, dass nach den Überlegungen eines achtbaren Staatsbürgers der Ausgleich natürlich dem Überhang entsprechen sollte, kam Prof. Lammert allerdings nicht. Würde man die 4 Überhänge nicht durch 29, sondern durch 4 Ausgleichsmandate kompensieren, wäre die Befürchtung, die Zahl der Mitglieder könne in schwindelerregende Höhen klettern, natürlich vom Tisch. Das setzt allerdings die Einsicht voraus, dass die Einführung der nachgeschobenen Ausgleichsmandate, die den Überhang um mehr als das Siebenfache übersteigen, ein hanebüchener gesetzgeberischer Fehlgriff war. Und das gibt natürlich kein Fraktionsvorsitzender zu, wenn er dazu nicht vom Verfassungsgericht in Karlsruhe gezwungen wird. Damit muss der Deutsche Bundestag allerdings rechnen. Denn in Karlsruhe sind mehr als 50 Wahlprüfungs-Beschwerden anhängig, die das geltende Wahlrecht angreifen. Zwei davon richten sich u. a. auch gegen die nachgeschobenen Ausgleichsmandate, die erst ermittelt werden können, wenn die Wahllokale geschlossen, die Stimmen ausgezählt und die auszugleichenden Überhänge sichtbar geworden sind. Nachgeschobene Ausgleichsmandate können daher unmöglich auf eine unmittelbare Wahlentscheidung der Wähler zurückgeführt werden und sind nach Auffassung der Beschwerdeführer in den beiden Verfahren (Az. 2 BvC 64/14 und 2 BvC 67/14) grob verfassungswidrig.

Der Wahlkreis bleibt unbesetzt

Vor ungefähr einem Jahr ist Katherina Reiche (CDU) aus dem Bundestag ausgeschieden. Das genaue Datum wer der 04. 09. 2015. Die Abgeordnete war im Wahlkreis 061 (Potsdam / Postsdam-Mittelmark / Teltow-Fläming) mit 32,6 % der Erststimmen direkt gewählt worden. Der Wahlkreis liegt in Brandenburg, eines der Länder, in denen die CDU mit den von ihr erzielten Listenplätzen um einen Sitz hinter den im Land erlangten Direktmandaten zurückblieb. Es gab also ein Überhangmandat. Für die Nachbesetzung des vakanten Direktmandats ordnet § 48 BWahlG die sog. „Listennachfolge” an. Es wird also nicht im Wahlkreis nachgewählt wie überall in der Welt. Vielmehr wird das vakante Direktmandat durch den Listenplatz eines Bewerbers ausgetauscht, der noch nicht zum Zuge gekommen ist. Doch die Liste der CDU in Brandenburg war erschöpft. Auf der „Reservebank” saß niemand mehr, der aus der Liste hätte nachrücken können. Für diesen Fall ordnet § 48 BWahlG an, dass der Wahlkreis unbesetzt bleibt. Seither gibt es im Bundestag statt 631 nur mehr 630 Mitglieder.

Das ist aber nicht der springende Punkt. Fällt ein Direktmandat in Brandenburg weg, ändert sich die Differenz zu den Listenplätzen. Von 10 Direktmandaten, die es in Brandenburg gibt, hatte die CDU 9 gewonnen, kam aber nur auf 8 Listenplätze. Nun fiel ein Direktmandat weg, und es standen 8 Direktmandate genau 8 Listenplätzen gegenüber. Das Überhangmandat in Brandenburg ist also verschwunden. Das kann nicht ohne Rückwirkung auf die Ausgleichsmandate bleiben. Wenn jedes vierte Überhangmandat entfällt, muss auch jedes vierte Ausgleichsmandat „rückabgewickelt” werden. Folglich müssten 7 von 29 Abgeordneten, die lediglich ein Ausgleichsmandat bekleiden, den Bundestag wieder verlassen. Der Bundestagspräsident stutzt und der Bundeswahlleiter kratzt sich am Kopf. Doch der Wahlleiter ist unschuldig, denn er hat das Gesetz ja nicht gemacht. Freilich denken beide nicht im Traum daran, das 22. Wahlrechts-Änderungsgesetz anzuwenden und die 7 Abgeordneten mit Ausgleichsmandat nach Hause zu schicken, die nach dem Ausscheiden von Katherina Reiche im Bundestag nichts mehr zu suchen haben.

Sieben unzulässige Ausgleichsmandate

Das erinnert an die vorangegangene Bundestagswahl v. 19. 09. 2009. Denn das BVerfG hat bekanntlich geurteilt, Überhangmandate seien zulässig, wenn es nicht zu viele sind (Urt. v. 25. 07. 2012; BVerfGE 131, 316). Würden es mehr als 15 Überhänge, sei die Grenze überschritten. Überhänge sind also zulässig, aber gedeckelt. Das ist der gegenwärtige Stand der Rechtsprechung, der vielen nicht gefällt, weil sie für ein Verbot der Überhänge votieren. Auf diesen Streit der Gelehrten soll hier aber nicht näher eingegangen werden. Nun hat es 2009 in 8 Bundesländern 24 Überhänge gegeben. Davon 3 bei der CSU in Bayern, 10 bei der CDU in Baden-Württemberg, der Rest bei anderen CDU-Landesparteien. Wer nachrechnet, kommt für die Bundestagswahl 2009 auf 9 Abgeordnete mit Überhangmandat jenseits der Zulässigkeitsgrenze von 15 Überhängen, die das Verfassungsgericht akzeptiert hat. Zwei direkt gewählte Abgeordnete, Julia Klöckner und Karl Theodor Freiherr zu Guttenberg, waren schon zuvor aus dem Bundestag ausgeschieden. Verbleiben also 7 Abgeordnete, die ein unzulässiges Ausgleichsmandat bekleiden. Aber auch damals war der nämliche Bundestagspräsident, Prof. Norbert Lammert, MdB, ebenso wie heute nicht dazu bereit, den Urteilsspruch vom 25. 07. 2012 tatsächlich zu vollziehen. Er dachte nicht im Traum daran, seines Amtes zu walten, im Parlament für Recht und Ordnung zu sorgen, die 7 überzähligen Abgeordneten, die im Bundestag nichts verloren haben, vom Bundeswahlleiter ermitteln zu lassen und nach Hause zu schicken.

Wenn der Bundestagspräsident, Norbert Lammert, MdB, den drohenden Anstieg der Abgeordnetenzahl in unabsehbare Höhen befürchtet und „de lege ferenda” Abhilfe verlangt, klingt das wenig überzeugend, solange er sich weigert, ihre Zahl „de lege lata” in den gesetzlichen Schranken zu halten. Ganz abgesehen davon ist es nur schwer nachvollziehbar, wieso „der zweite Mann der Republik” dem geltenden BWahlG den Kampf ansagt, obwohl er im Bundestag nicht dagegen gestimmt hat. Als im Bundestag das 22. Wahlrechts-Änderungsgesetz in 1. Lesung behandelt wurde, war das hohe Haus nur sehr lückenhaft besetzt. Kein Regierungsmitglied nahm an den Beratungen teil. Selbst der zuständige Innenminister „glänzte” durch Abwesenheit. Wie die Life-Übertragung des Fernsehsenders „Phönix” nahelegte, musste man die Beschlussunfähigkeit des Parlaments unterstellen – vor allem aber auch seine Unfähigkeit, ein in sich widerspruchsfreies und sinnvolles Wahlrecht zu verabschieden.

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